Biomedizin-Boom in Berlin: „Wir entwickeln eine enorme Dynamik“
Berlins Forscher wollen dem Biotech-Hub Boston nacheifern. Ob das realistisch ist, sagen Charité-Chef Heyo Kroemer und MDC-Vorstand Thomas Sommer im Interview.
Boston, vor allem der Vorort Cambridge, war Ende der 1970er Jahre eine Region, der die Industrie abhanden kam. Inzwischen boomt die Stadt und gilt weltweit als wichtigster Standort für Biomedizin. Biotech- und Pharmafirmen haben sich angesiedelt, um mit Forschern der Harvard Universität, dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) und anderen Spitzenforschungsinstituten neue Arzneien zu entwickeln. Kann Berlin eine ähnliche Entwicklung nehmen?
Sommer: Das Beispiel Boston zeigt, welchen Effekt es haben kann, wenn man gemeinsam ein Ziel anpeilt, gemeinsam einen wissenschaftlichen Schwerpunkt setzt und den Standort mit gemeinsamen Projekten weiterentwickelt. Dann entsteht eine Start-up-Landschaft, die wiederum Big Pharma anzieht.
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Die Basis für all das sind wissenschaftliche Dynamik, Interdisziplinarität und Exzellenz. All das gibt es in Berlin und gilt es weiterzuentwickeln. Allerdings hat Boston eine lange Historie, die zu einer kritischen Masse von Wissenschaftsinstitutionen geführt hat. Wir würden uns etwas vormachen, wenn wir so täten, als wären wir in Berlin schon dort angekommen, wo Boston heute ist.
Ist Boston überhaupt das geeignete Vorbild für Berlin?
Kroemer: Der Erfolg Bostons basiert auf einem äußerst selektiven Universitäts- und stark kompetitiven Wirtschaftssystem in den USA. Das haben wir in dieser Form nicht und wollen es vielleicht auch gar nicht. Ich finde es sehr interessant und gut, dass man sich in Berlin hohe Ziele setzt.
Es wäre schon ein sehr hochgestecktes Ziel, die führende Biomedizin-Stadt in Europa zu werden, auf Augenhöhe mit Zürich, Stockholm, Paris oder London. Da wäre ich nicht nur überzeugt, dass man das schaffen kann, es wäre auch passender, weil die Grundsysteme in den anderen Ländern viel ähnlicher sind als die in den USA.
Hat Berlin denn schon die Zutaten, die es für einen Hot Spot der Biomedizin braucht?
Kroemer: Die Grundlage, hier und in Boston, ist zuallererst einmal exquisite Forschung. Zwar findet man in Berlin zu jeder Fragestellung jemanden, der daran arbeitet, auch auf internationalem Niveau. Es fehlt aber nach wie vor an Zusammenarbeit, an Koordination und an langfristiger Zielsetzung, die dann auch entsprechend finanziert ist.
Dass einige Bundesländer im Süden besser aufgestellt sind, liegt daran, dass die Universitäten und die außeruniversitären Institutionen dort jahrzehntelang kontinuierlich gefördert wurden. Wenn sich Berlin ein realistisches, nicht einfach die USA kopierendes Ziel setzt und es mit einer langfristigen Strategie über 20 bis 25 Jahre verfolgt – dann kann es gelingen, im internationalen Wettbewerb vorn zu sein. In Berlin liegen alle Teile des Puzzles auf dem Tisch, man muss sie aber auf eine Art und Weise zusammenfügen, dass daraus ein vernünftiges Gesamtbild entsteht.
Sommer: Boston lebt davon, dass sich die vielen Institutionen dort nicht einigeln, obwohl sie in Konkurrenz stehen. Und diese Chance besteht jetzt auch in Berlin. Wir haben die Berlin University Alliance, die die großen Universitäten und die Charité in ein Boot holt und die große Chancen bietet, institutionsübergreifend Netzwerke zu bilden und Stärken auszubauen.
Und auch wir außeruniversitäre Institutionen spielen eine wichtige Rolle: Wir bauen gerade einen Verbund, die Berlin Research 50, auf und wollen so unsere Kräfte noch stärker bündeln. Das macht Berlin derzeit aus: Wir entwickeln gemeinsam eine enorme Dynamik, wir vernetzen uns, und es herrscht die positive Stimmung, dass es auch möglich ist. Die Politik kann helfen, diese Initiativen zu unterstützen, sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene.
Was sind die Stärken Berlins?
Sommer: Berlin hat starke Life Sciences, wir sind exzellent im Bereich der Einzelzellsequenziertechnologie und spielen hier international ganz vorn mit. Sie wird schnell in der Klinik ankommen und das wird Diagnose und Therapie deutlich verbessern. Dazu braucht man gute IT, Data Science, und das haben wir in Berlin.
Kroemer: Hinzu kommt: Anders als in vielen Bundesländern hat Berlin die kommunale Krankenhauskette nicht verkauft. Die Charité hat 3.000 Betten, Vivantes hat 5.800 – zusammengenommen liegt mehr als die Hälfte aller stationären Patienten in Betten der öffentlichen Hand. Wenn wir das gut strukturieren und informationstechnologisch vernetzen – und dafür hat der Berliner Senat im aktuellen Haushalt Geld bereitgestellt –, dann entsteht ein deutschlandweit einzigartiger Raum für Versorgungsforschung, den es nirgendwo sonst in Deutschland gibt.
Was haben die Patientinnen und Patienten davon? Können Sie ein Beispiel geben?
Kroemer: Eine Wissenschaftlerin, die an einer seltenen Erkrankung forscht, hat dann eine ziemlich hohe Wahrscheinlichkeit, in den vielen Betten des Verbundes jemanden zu finden, der an dieser Krankheit leidet. Und umgekehrt kann dieser Patient, weil die Wissenschaftlerin über das System von ihm erfährt, beispielsweise im Rahmen einer klinischen Studie von einer neuen Behandlung profitieren.
Das US-System mag man nicht kopieren wollen, aber was am deutschen Universitäts- und Wirtschaftssystem behindert denn eine Entwicklung wie in Boston?
Kroemer: Ich finde es problematisch, wenn man sich aus einem Gesamtsystem immer nur die Rosinen pickt, ohne das Ganze zu sehen. Das gesamte Arbeitsumfeld, die Art, wie Arbeitsbeziehungen intern aufgebaut sind, wie man miteinander umgeht, wie schnell man Institutionen bewegen kann, im guten wie im schlechten Sinne - das ist hierzulande im Vergleich zu den USA grundverschieden. Sicher lassen sich in den USA Start-ups viel schneller ausgründen. Die Kehrseite davon ist der grundsätzlich andere Umgang mit Mitarbeitern. Das wollen wir hier nicht wirklich kopieren.
Sommer: In den USA herrscht das Hire-and-Fire-System. Das mag für manche Firmen interessant sein, ist aber etwas, was wir hier aus guten Gründen nicht wollen. Was wir anbieten können, um den Standort attraktiv zu machen, das sind andere Kriterien. Etwa eine gewisse soziale Sicherheit, gute, kostenlose Schulen und Kitas, eine gute Verkehrsinfrastruktur, Internationalität und so weiter. Das ist ein Plus, man muss es aber auch als solches verkaufen. Man muss es nicht genauso machen wie Boston, sondern wir sollten unsere eigenen Stärken weiterentwickeln.
Ist die Charité vergleichbar stark wie das Massachusetts General Hospital, oder muss sie, die einst ein Vorbild für das MGH war, jetzt wie das MGH werden?
Kroemer: Das MGH hat sicher Bereiche und Strukturen, die man sich an der Charité zum Vorbild nehmen kann, andere dagegen nicht. In den USA kann ein Arzt einen Tag in der Klinik arbeiten und dann vier Tage forschen, weil die Preise für klinische Leistungen so hoch sind, dass er an diesem einem Tag genug für den Rest der Woche verdient hat.
Natürlich wäre es grundsätzlich wünschenswert, wenn die Charité ein Forschungsbudget wie das MGH zur Verfügung hätte. Aber wenn man weiß, woher das Geld kommt, und dass das sehr teure Gesundheitssystem in den USA einen erheblichen Teil der Bevölkerung gar nicht versorgt – dann möchte ich das ganz klar nicht.
In Boston funktioniert die Translation von Grundlagenforschung in die klinische Anwendung besser als hierzulande. Warum?
Kroemer: Im Ausprobieren neuer Wege sind die Amerikaner schneller und besser – wofür es eigentlich keinen Grund gibt. Denn Neues auszuprobieren kostet nicht unbedingt mehr Geld, es ist eine Frage der Mentalität, der Risikobereitschaft.
Die ist hier eher unterentwickelt. Risikobereitschaft erfordert Fehlertoleranz – doch in Deutschland gilt Scheitern als Makel.
Kroemer: In den USA gilt das Scheitern einer Ausgründung genauso viel wie eine erfolgreiche Ausgründung, rein als Erfahrungswert. Wenn in Deutschland jemand das Risiko einer Firmengründung eingeht, statt eine standardisierte berufliche Laufbahn zu verfolgen, wird das nicht als Plus gewertet, jedenfalls nicht, wenn er oder sie scheitert.
Sommer: Wir brauchen mehr Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Sphären. Wer in der Industrie gearbeitet hat und in die akademische Laufbahn zurückkommt, bringt andere Erfahrungen mit: etwa das Wissen, wie man Ideen so weiterentwickelt, dass sie zu Ausgründungen und schließlich neuen Therapien führen können, die große Pharmafirmen oder Risikokapitalgeber interessieren. Diese Denkweise müssen wir entwickeln und pflegen. In der Mission des MDC sind deshalb Translation, Patententwicklungen und Ausgründungen verankert. Aber man sollte das schon in der Ausbildung vermitteln und dem wissenschaftlichen Nachwuchs auch die Möglichkeiten geben, in die Industrie hineinzuschnuppern. Und man sollte Ausgründungen fördern. Wir sind da auf einem guten Weg, etwa mit der Biotech-Firma Omeicos, die ihre Wirkstoffe mittlerweile in der klinischen Phase 2 prüft.
In den USA haben Kliniken und Institute große Abteilungen, die Entwicklungen ihrer Forscher zum Patent anmelden und sich um die Lizenzen kümmern. Von dieser Professionalität sind hiesige Techniktransfer-Büros weit entfernt, warum?
Kroemer: Das ist ein wichtiger Punkt. Da sind wir noch immer schlecht aufgestellt. In dem Moment, in dem es um komplexe, internationale Vertragsverhandlungen geht, sind unsere Verwaltungen schnell am Ende. Aber die „Max-Planck-Innovation“, die sich um die Patente von Forschern der Max-Planck-Gesellschaft kümmert, zeigt, dass und wie es geht: mit langem Atem und einer soliden finanziellen Grundlage.
Sommer: Die Wissenschaft ist da oft weiter als die Verwaltung. Man wird als Professor nicht reich, und die Beteiligung an Patenten ist daher durchaus ein Anreiz. Gerade jüngere Forscherinnen und Forscher wissen, dass sie nicht alle Professoren werden können, und suchen daher nach Alternativen. Am MDC und der Charité ist ein starker Drang zu spüren, neue Wege zu gehen, Ideen umzusetzen.
Wie unterstützt man diesen Drang? Geld allein scheint es nicht zu sein, das BIH hat sich Translation auf die Fahnen geschrieben, aber läuft diesem Anspruch nun schon einige Jahre hinterher.
Sommer: Charité und MDC arbeiten sehr gut zusammenarbeiten. Das BIH wird den Brückenschlag zwischen Grundlagenwissenschaft und Klinik umsetzen und den Anschub von Translation bewerkstelligen.
Kroemer: Das Problem liegt in einem hochregulierten öffentlichen Dienst, der auf einmal mit privater Wirtschaft interagiert. Dabei sollen einerseits die Vorschriften des öffentlichen Dienstes eingehalten, aber andererseits freie und schnelle Entscheidungen nach marktwirtschaftlichen Erfordernissen getroffen werden. Das widerspricht sich oft. Da brauchen wir bessere Interaktionssysteme.
Spielen da auch Berührungsängste zwischen öffentlich geförderter Forschung und Industrie eine Rolle, die Abgrenzung der Systeme?
Kroemer: Schauen wir auf die Universitätsmedizin. Es ist die einzige echte Schnittstelle zwischen dem akademischen System und einem Wirtschaftsbetrieb. Es gibt keine Ingenieursfakultät, die eine eigene Autofabrik betreibt. Diese Verknüpfung gibt es nur in der Medizin. Daraus ergeben sich Möglichkeiten, aber auch Probleme. Eine leitende Professorin der Kardiologie ist einerseits Lehrstuhlinhaberin und auf der anderen Seite führt dieselbe Person ein mittelständisches Wirtschaftsunternehmen, das im Rahmen der Uniklinik viele Millionen Euro umsetzt. Das funktioniert nur dann, wenn flexible Innovationsräume zugelassen werden. Damit ermöglicht man, dass von der Forschungsseite Kenntnisse auf die Versorgungsseite übertragen werden und umgekehrt.
Sommer: Die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Wirtschaft ist nicht nur von Seiten der Akademia her kompliziert. Auch die Firmen, mit denen wir hierzulande interagieren, sind "deutsch". Als Institut der Helmholtz-Gemeinschaft haben wir es immer wieder mit einer Mentalität des Cherrypicking zu tun, des schnellen, möglichst billigen Einkaufs von Innovation anstelle einer längerfristigen, strategischen Zusammenarbeit seitens der Firmen. Es muss sich also nicht nur Akademia, sondern auch die Wirtschaft bewegen.
Wie kann man Wissenschaftler zu mehr Interaktion mit der Industrie, zur Translation ihrer Forschung ermutigen?
Kroemer: Das Belohnungssystem der Wissenschaft ist in Deutschland noch immer auf Drittmittel und Publikationen fixiert. Wenn da Patente mit gelistet werden, dann wird das häufig nur als "ganz nett" verbucht und spielt in den Bewertungssystemen keine Rolle, und das ist falsch.
Sommer: In den Ingenieurswissenschaften ist das der Fall. Da werden Patente gewertet, da gibt es eine höhere Durchlässigkeit zwischen Industrie und Akademia. Oder nehmen Sie das Beispiel Singapur. Dort bewertet man ganz anders. Zusätzlich zu dem bekannten Bewertungssystem haben sie ein zweites, zusätzliches System geschaffen, in dem die Forscherinnen und Forscher anhand bestimmter Kriterien, eher industrieller Standards wie Patente und Kooperationen mit Firmen und so weiter, zusätzliche Mittel einwerben können.
Welche Rolle spielt die Berlin University Alliance (BUA) für die Entwicklung Berlins zum Biomedizin-Cluster?
Kroemer: Wir laufen in Deutschland in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren in einen massiven demographischen Wandel. Es werden viel mehr alte Menschen Leistungen des Solidarsystems in Anspruch nehmen als es junge gibt, die das System finanzieren und insbesondere die benötigten Leistungen in dem System als Ärzte oder Pflegekräfte erbringen können. Das heißt, viele der Fragen in diesem Gesundheitssystem etwa hinsichtlich von Teilhabe und Verteilungsgerechtigkeit werden nicht von der Medizin allein beantwortet werden können, sondern es wird um grundlegende gesellschaftliche Fragen gehen, deren Lösung nur interdisziplinär gefunden werden kann. Dafür bietet die BUA eine ideale Plattform, weil sie Expertinnen und Experten zusammenführt, die aus ganz anderen Disziplinen als der Medizin oder den Naturwissenschaften kommen. Ziel muss es sein, eine langfristige Strategie für die Institutionen in Berlin zu entwickeln. Was wollen wir in zehn oder in zwanzig Jahren für eine Institution sein? Welche Schwerpunkte wollen wir setzen? Welche medizinischen Herausforderungen erwarten wir, wie wollen wir reagieren? Die Charité wird bis zum Herbst eine solches Strategiekonzept, Charité 2030, entwickeln.
Großbritannien verlässt die EU, Trump streicht Forschungsgelder und erschwert Forschern aus dem Ausland, in den USA zu arbeiten. Profitiert Berlin davon?
Sommer: Auf jeden Fall. Wir rekrutieren Doktoranden zweimal im Jahr über ein internationales Verfahren, und die Zahl der hochrangigen Doktorandinnen und Doktoranden aus Großbritannien und den USA sind deutlich gestiegen. Die Fördermöglichkeiten in der EU sind im Vergleich zu denen in den USA schon fast paradiesisch. Damit können wir punkten – zusätzlich zur Attraktivität der Stadt. Hier herrscht eine internationale Atmosphäre, man muss hier nicht unbedingt deutsch sprechen, um hier leben zu können. Das zieht Leute an, die dann auch davon zeugen können, was hier möglich ist, und die das Potenzial sehen und nutzen und die Dynamik ihrerseits befeuern.
Kroemer: Das ist auch im klinischen Bereich der Fall. Internationale Spitzenforscher, die man vor zehn Jahren gefragt hätte, nach Deutschland zu kommen, hätten wahrscheinlich kein Interesse gehabt. Heute haben wir in Berlin so gute Chancen wie lange nicht. Es wäre sehr ärgerlich, wenn wir dieses „Window of Opportunity“ nicht nutzen würden.
Wir müssen das Bild einer Berliner Zukunftsvision in den biomedizinischen Wissenschaften schnell skizzieren. Und wenn wir dann über einen gewissen Aktivierungspunkt hinaus kommen und die Lebenswissenschaften in eine geordnete Bewegung versetzen können, dann wäre das wahrscheinlich sehr nachhaltig. Daraus erwächst die Verantwortung, diesen Prozess zeitnah zu realisieren.