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Michael Müller über seiner Stadt - im Bettenhochhaus der Charité. Dort wurde 2016 saniert.
© von Jutrczenka/dpa

Der Regierende als Wissenschaftssenator: Wie Michael Müller aus Berlin eine Forschungsmetropole macht

Die Charité an der Weltspitze, ein deutsches Harvard aus Berlin – dem erfolgsarmen Senatschef Michael Müller ein Coup gelungen.

Michael Müller sitzt in seinem Sessel im Roten Rathaus und lächelt. Das kommt oft vor dieser Tage. Im rot-rot-grünen Senat wird wie gewohnt über Mieten, Dauerbaustellen und Videoüberwachung gestritten. Seine Partei steht in Umfragen nur noch bei 15 Prozent. Aber dem Regierenden Bürgermeister, 54 Jahre alt, geht es derzeit um anderes: das Vermächtnis eines Mannes, der weiß, dass er die Hauptstadt-SPD nicht retten und nach der nächsten Wahl wohl nicht mehr Bürgermeister sein kann. Der aber ahnt, dass Großes passiert. Es könnte klappen.

Eigentlich wollte Berlins Senatschef zu diesem Zeitpunkt schon Stockholm besucht haben, um sich an der dortigen Universitätsklinik erklären zu lassen, wie die das schaffen: so viele Daten zu digitalisieren, so viele internationale Fachleute anzulocken, so viele weltweit beachtete Studien zu publizieren. Das will Müller alles auch für sein Berlin. Doch er musste die Reise absagen. Schuld war wieder die SPD: Als Andrea Nahles zurücktrat, rief der Bundesvorstand zur Krisensitzung. Der verpasste Stockholm-Besuch – allenfalls ein winziger Rückschlag. Denn an seinem Plan arbeitet Müller seit Jahren.

Michael Müller 2018 auf dem Parteitag der Berliner SPD - schon damals verlor die Partei in den Umfragen.
Michael Müller 2018 auf dem Parteitag der Berliner SPD - schon damals verlor die Partei in den Umfragen.
© Gregor Fischer/dpa

Müller, dem zwischenzeitlich glücklosen Bürgermeister dieser chaotischen Stadt, scheint zu gelingen, was wenige mit ihm verbinden: Berlin zur Forschungsmetropole, zum Zentrum der Spitzenmedizin auszubauen. Der heutige Freitag ist dafür entscheidend. „Wir haben gute Chancen, Europas bedeutendste Medizinmetropole zu werden“, sagt Müller in seinem Büro. „Nur müssen dafür jetzt die Weichen gestellt werden.“

Müller will 70 Millionen Euro dauerhaft - und so "Neuland" betreten

Müller will Geld vom Bund nach Berlin holen. Es geht um 70 Millionen Euro jährlich. Die bekommt er zwar schon – aber nur vorläufig. Und sie sind für das Berliner Institut für Gesundheitsforschung reserviert. Der Senatschef möchte das Geld aber erstens dauerhaft, unbefristet bekommen. Und zweitens will er das Institut in die Charité integrieren. Müller will die Charité zum Nukleus seines Traums einer Wissenschaftsmetropole machen. Aber als Universitätsklinik ist sie eine Bildungseinrichtung des Landes Berlin. Und eigentlich gilt seit 1949: Bildung ist ausschließlich Ländersache.

Wahrzeichen. Der Charité-Bettenturm zur Sanierung 2016.
Wahrzeichen. Der Charité-Bettenturm zur Sanierung 2016.
© Helmut Schmid/promo

An diesem Freitag schickt Müller seinen Staatssekretär in die erste Etage des Bundesforschungsministeriums. Dort, im „Alexander von Humboldt“-Saal, treffen sich die Vertreter von Bund und Ländern zur turnusmäßigen Wissenschaftskonferenz – und der Bund soll sich erstmals verpflichten, eine Landesforschungsstätte unbefristet mitzufinanzieren.

Müller will eine Änderung des Grundgesetzes nutzen, 2015 wurde die strikte Trennung zwischen Bund und Ländern aufgeweicht. Doch nicht nur Müller sagt, man betrete damit „Neuland“. Die Bundesregierung würde damit anerkennen, dass Berlins Forscher für Deutschlands Wissenschaft unverzichtbar sind.

Wowereit steht für Kultur, Müller will lieber Forschung

Die Chancen stehen gut. Bundesforschungsministerin Anja Karliczek, CDU, steht gerade in der Kritik: 500 Millionen Euro hat sie für die Batterieforschung vergeben – an Münster, direkt nebenan von ihrem Wahlkreis. Mit dem Zuschlag für die Charité könnte sie ein Signal senden: dass sie Deutschlands größte Stadt in den weltweiten Kampf um Spitzenmedizin und Forscherkoryphäen schickt. Es wäre auch ein Signal an Ärzte, Laboranten, IT-Experten, die sich ihre Jobs weltweit aussuchen können, nach Berlin zu kommen.

Die Charité soll noch mehr Spitzenmedizin schaffen: Bei dieser OP wird dem - wachen! - Patienten ein Gehirntumor entfernt.
Die Charité soll noch mehr Spitzenmedizin schaffen: Bei dieser OP wird dem - wachen! - Patienten ein Gehirntumor entfernt.
© Kitty Kleist-Heinrich

Dass es so weit kommen konnte, hat auch mit Müller zu tun, nur haben es in Berlin nicht viele bemerkt. „Trotz all der guten Nachrichten aus der Berliner Wissenschaft und ihrer Bedeutung für unsere Stadt“, sagt Müller, „haben viele Leute das Gefühl, dass Forschung von ihrem Alltag weit weg ist.“ Vielleicht ist das so, weil Berlin neben all den Hochschulen immer auch bedeutet: ein als Prestige-Flughafen geplanter BER, der seit sieben Jahren nicht öffnet, kaputte Schulen, geschlossene Ämter.

Müllers Vorgänger Klaus Wowereit hat Berlin zur Kulturmetropole ausgebaut, die Stadt steht nun für Clubs, Hipster, Modemessen. Zwischen Designern aber wirkt Müller, der 2014 das Rote Rathaus übernahm, bieder. Das Kulturressort, das Wowereit im Rathaus angesiedelt hatte, gab Müller ab. Er will was Eigenes. Und setzt auf Forschung.

Studiert hat der Wissenschaftssenator nicht - kennt aber die Stadt

Müller machte sich zum Wissenschaftssenator. Ausgerechnet, meinten einige. Müller, gelernter Bürokaufmann, lebte immer zwischen Facharbeitern, Schrebergärten und Kleingewerbe in Tempelhof. Sein Interesse gilt dem Bauen, er war Stadtentwicklungssenator. Studiert hat Müller nicht.

Die Stadt aber kennt er gut. Müller zog den für die Charité zuständigen Staatssekretär Steffen Krach aus dem Bildungsressort zu sich ab. Der damals 36-jährige Krach will seitdem alle von Müllers Gesundheitsstadt überzeugen: Klinikbosse, Ärzte, Dozenten, Personalräte. Er ist es, der an diesem Freitag im Bundesministerium für die Hauptstadt verhandelt.

Beste Lage. Mitten in Berlin befindet sich der Charité-Campus - 2015 noch mit Baukran.
Beste Lage. Mitten in Berlin befindet sich der Charité-Campus - 2015 noch mit Baukran.
© Mike Wolff

Müller und Krach hätten die Argumente auf ihrer Seite, sagt selbst Mario Czaja, der frühere Gesundheitssenator von der CDU. Er ist heute bundesweit in der Gesundheitsbranche unterwegs. Die Regierung täte gut daran, sagt Czaja, Berlin zum nationalen Wahrzeichen der Medizin aufzubauen.

Immerhin, der Bund soll ja nur helfen, der Senat das Feld hauptsächlich mit eigenen Mitteln bestellen. Ein „Jahrzehnt der Investitionen“ kündigt Müller schon 2017 für die Charité an: Für Technik und Bauten werden 1,1 Milliarden Euro zugesagt. Müller stockt zudem den Wissenschaftsetat auf und setzt 2018 die Kommission „Gesundheitsstadt Berlin 2030“ ein. Dem elfköpfigen Gremium gehören Krankenkassenbosse, Pflegeexperten, Ärzte an, SPD-Bundespolitiker Karl Lauterbach leitet sie.

Charité-Chef: Intensiver Kampf um die Köpfe

Lauterbach ist Rheinländer, auf Berliner Befindlichkeiten nimmt er keine Rücksicht. Über die Charité sagt Lauterbach ungerührt, die Klinik lebe zu oft von ihrem Ruf, zudem seien intern 90 Prozent der Geräte abgeschrieben, also möglichst bald durch neue zu ersetzen. Man wolle Berlin zur „internationalen Top-Adresse in der medizinischen Forschung“ ausbauen, bislang aber laufe vieles nebeneinander. Was Lauterbach meint: Eitelkeiten einzelner Klinikfürsten könne sich Berlin nicht leisten. Künftig sollen die landeseigenen Konzerne Charité und Vivantes in einer Dachgesellschaft zusammenarbeiten und gemeinsam eine Akademie gründen, um dringend nötige Fachkräfte auszubilden.

Der Blick von außen, sagt Müller, sei nötig gewesen. Chefärzte, Dozenten, Bio-Tech-Experten wüssten nun: Berlin könne ganz nach oben, müsse aber was tun. Der Wandel von der Kultur- zur Forschermetropole soll von der Charité ausgehen. Europas größte Universitätsklinik ist eine Stadt in der Stadt und Müller ihr Aufsichtsratschef. An vier Standorten mit insgesamt 3000 Betten arbeiten 18.000 Pflegekräfte, Ärzte, Techniker. Die Ufa schreibt an der dritten Staffel der deutschen Serie „Charité“, die für Netflix ins Englische übersetzt wird.

Heyo Kroemer zieht aus Göttingen nach Berlin - der Pharmakologe wird Chef der Charité.
Heyo Kroemer zieht aus Göttingen nach Berlin - der Pharmakologe wird Chef der Charité.
© Swen Pförtner/dpa

Im September übernimmt Heyo Kroemer, 59, den Charité-Vorstand. Noch leitet der Pharmakologe die Göttinger Universitätsklinik. Vor einigen Wochen sagte Kroemer, der sich mit öffentlichen Äußerungen bislang zurückhält, dass er gern in Göttingen arbeite. Und im „fortgeschrittenen Alter“ überlege man sich einen Wechsel genau. Doch: „Die Außergewöhnlichkeit der Charité und das Umfeld in Berlin haben mich sehr gereizt.“

Es gibt viel zu tun, sollte die Charité tatsächlich enger mit anderen Kliniken zusammenarbeiten. Gerade hat die Berliner Krankenhausgesellschaft aufgelistet, woran es den 50 anderen Kliniken der Stadt, die Anspruch auf Landesmittel haben, alles fehlt: Sanierungen, IT-Ausbau, moderne OP-Geräte. Zusammen wären 350 Millionen Euro im Jahr nötig. Bekommen sollen die Kliniken 200 Millionen Euro.

Noch gelten nicht nur Zürich, London, auch München als Europas bekanntere Medizinzentren. „Es wird ein sehr intensiver, nationaler und internationaler Wettbewerb um die Spitzenleute geführt“, sagte Kroemer, „in dem Berlin erfolgreich sein muss.“ Die Zukunft des Medizinstandorts Berlin entscheide sich daran, hochkarätige Köpfe zu gewinnen.

Düstere Zeiten der Charité: Toter auf Toilette nicht entdeckt

Auf der schwarzen, opulenten Ledercouch seines Büros empfängt Senatschef Müller fast wöchentlich jemanden aus der Branche. Siemens-Bosse, die ja auch Medizingeräte herstellen, Pharma-Manager, Wissenschaftler. Das Potenzial ist da, mit der Charité ein deutsches Harvard aufzubauen. Das sieht Karl Max Einhäupl, 72, der bisherige Charité-Chef so. Einhäupl hatte die Universitätsklinik aus düsteren Tagen geführt.

Karl Max Einhäupl leitet seit 2008 die Charité - und hat sie aus düsteren Zeiten geführt. Nun tritt er ab.
Karl Max Einhäupl leitet seit 2008 die Charité - und hat sie aus düsteren Zeiten geführt. Nun tritt er ab.
© Doris Spiekermann-Klaas

Vor zehn Jahren, der Neurologe war gerade Vorstandschef geworden, wollte der rot-rote Senat dort noch Stationen schließen und Bauten abreißen lassen. Einhäupl sagte stets: Alle Standorte – Mitte, Wedding, Steglitz, Buch – seien nötig, um jene kritische Masse zu bilden, die in der Spitzenforschung wahrgenommen werde. Als Wowereit erwog, das Bettenhochhaus in Mitte loszuwerden, sagte Einhäupl: Die Charité brauche ein Wahrzeichen. Und als dem Senat die damals 15.000 Charité-Mitarbeiter zu viele waren, protestierte Einhäupl: Forscher habe man kaum genug, Pflegekräfte ganz offenbar zu wenige, auch bei der Reinigung sei zu viel gespart worden – ein Mann, der auf einer Toilette durch eine Heroin-Überdosis starb, wurde erst entdeckt, als er zu verwesen begann. Den Bettenturm in Mitte überzog vor einigen Jahren noch eine rostbraune Fassade, durch das Dach drang Wasser ein, das einen Kurzschluss erzeugte – das Notstromaggregat sprang an.

Heute strahlt der Bettenturm in Weiß über die Stadt, der Charité-Vorstand hat den bundesweit ersten Tarifvertrag für mehr Personal unterzeichnet. Und die von der Lauterbach-Kommission geforderte Akademie könnte bald kommen, der Vivantes-Vorstand hat bereits eine Betreibergesellschaft gegründet.

Senatschef Müller will sich im Unfallkrankenhaus in Marzahn den Computertomographen ansehen.
Senatschef Müller will sich im Unfallkrankenhaus in Marzahn den Computertomographen ansehen.
© Christoph Soeder/dpa

Weil in der Innenstadt kein geeignetes Areal frei ist, soll die einstige Briten-Kaserne in Spandau, die Alexander-Barracks, umgebaut werden. Tausende Ausbildungsplätze für Pflegekräfte bedeutet auch: neue Jobs für Handwerk, Gastronomie, Verkehr. Müller schließt nicht aus, die geplante S-Bahn, die zum Siemens-Campus in der Nähe führen soll, bis zur Akademie zu verlängern. Wird wieder groß gedacht?

Berlin war schon mal weiter. König Friedrich I. gründete die Charité 1710 als Pesthaus, auch wenn die Seuche die Stadt nicht erreichte. Rudolf Virchow erfand in der Charité seine Zellularpathologie und Robert Koch entdeckte den Milzbranderreger. Nachdem die Nazis gewütet hatten, Berlin jüdische und widerständige Ärzte verlor, baute die DDR-Führung die Charité wieder auf. Spitzenpolitiker aus dem Ausland wurden hier behandelt, vor einigen Krankenzimmern patrouillieren auch heute Personenschützer.

Müller legt 150 Millionen Euro drauf - lohnt sich das alles?

Russlands früherer Präsident Boris Jelzin wiederum lag 2001 im Deutschen Herzzentrum Berlin auf dem OP-Tisch. Das DHZB nimmt eine Sonderrolle in der Stadt ein. Es ist der Charité allenfalls angegliedert und wird von einer Stiftung getragen. Michael Müller will das DHZB – so wie das Berliner Institut für Gesundheitsforschung – in die Charité integrieren. Es soll dann Universitäres Herzzentrum heißen und Berlin an die Spitze der europäischen Kardiologie führen. Doch ausgerechnet jetzt wurde der Kaufmännische Direktor entlassen, im Abgeordnetenhaus sprachen einige von einer Niederlage für Müller.

Der kommentiert das nicht, aus Koalitionskreisen aber heißt es: Der Ex-Direktor sei gar nicht der Wunschkandidat gewesen. Vielmehr habe man die für das neue Herzzentrum geplanten Mittel aufgestockt, nachdem intern bekannt war, dass der Direktor entlassen würde. Bekannt ist: Es soll 150 Millionen Euro mehr als anfangs geplant geben; das Land investiert nun insgesamt 290 Millionen Euro, die Stiftung dazu 100 Millionen Euro.

Ob sich das alles lohnt, ob Berlin je eine Chance hatte, Europas Harvard zu werden, wird sich erst in Jahren zeigen. Müller rückt in seinem Sessel nach oben und sinniert: „Bürgermeister Eberhard Diepgen hat den Technologiestandort in Adlershof gegen Widerstände in seiner Partei erschlossen, Klaus Wowereit hat Berlin als Kunst- und Kreativmetropole etabliert – so richtig profitiert die Stadt von beidem erst heute.“

[Nach jahrelangen Querelen und Unsicherheiten wurde am Freitag letztlich beschlossen: Das Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIG) wird in die Charitéintegriert – die 75 Millionen Euro Förderung des Bundes pro Jahr für das BIG sind damit dauerhaft und unbefristet für Berlin gesichert.]

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