Biomedizin-Boom in Berlin: Berlin soll zur „Zellklinik“ werden
Das Wissen um das Erbgutmolekül DNA machte Boston zum Biotech-Hub. Nun rückt Berlin die Zelle in den Fokus und will zum Boston Europas werden. Ein Gastbeitrag.
„Wenn Zellen falsche Entscheidungen treffen, entstehen Krankheiten.“ Diese Erkenntnis stammt aus Berlin. Der deutsche Pathologe, Anthropologe und Politiker Rudolf Virchow erlangte in Berlin Weltruf als er 1858 mit seinem Buch „Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre“ die moderne Pathologie begründete. Seine revolutionäre Theorie besagte, dass Krankheiten auf Störungen der Körperzellen basieren. Er leitete seine Zelltheorie aus Untersuchungen ab, die ergaben, dass alle Zellen aus Zellen entstehen („Omnis cellula e cellula“).
Berlin ist die Ur-Heimat der modernen medizinischen Forschung und Entwicklung von Therapien. Neben Virchow schafften hier Ärzte und Wissenschaftler wie Robert Koch, Paul Ehrlich, Emil von Behring, Hermann von Helmholtz, Ferdinand Sauerbruch und viele andere die Grundlagen der modernen Medizin. Doch heute konzentriert sich die biomedizinische Innovation massiv in und um Boston an der US-amerikanischen Ostküste.
Doch wir sind überzeugt, dass Berlin das Potenzial hat, hier wieder mindestens ebenbürtig zu werden.
Wir leben im Zeitalter der Entschlüsselung des menschlichen Genoms und der Kartierung aller gesunden Zellen eines Menschen im „Humanen Zellatlas“. Naturwissenschaftlich und medizinisch interpretiert ist das Genom das „Buch des Lebens“. In ihm steht, wann und unter welchen Bedingungen welche Moleküle (etwa Erbmaterial und Proteine) hergestellt werden müssen, um funktionsfähige gesunde Zellen und Gewebe zu bilden.
Krankheit ist, wenn Zellen falsche Entscheidungen treffen
Fast jede Zelle enthält das ganze Genom, das Erbmaterial des betreffenden Menschen, verschlüsselt in vier Buchstaben, die aneinandergereiht sind und ein großes Buch mit ein paar Milliarden Buchstaben bilden. Solange die Zelle lebt, ist sie damit beschäftigt, die komplexen Baupläne zu lesen, die in diesem „Buch des Lebens“ geschrieben stehen. Dazu kommen viele molekulare aber auch mechanisch-physikalische Signale von außen, etwa von Nachbarzellen, die die Zellen verarbeiten.
Wenn Krankheiten in Zellen ihre Ursache haben, müssen wir das, was in den Zellen geschieht, verstehen, und auf zellulärer Ebene Therapien entwickeln.
Wir nennen dieses Konzept die „Zellklinik“.
Wir können das „Buch des Lebens“ in menschlichen Zellen lesen. „Lesen“ heißt nicht automatisch auch „verstehen“. Wir werden aber auch darin immer besser und können seit Neuestem Zellen dabei beobachten, wie diese selbst das „Buch des Lebens“ nicht nur lesen, sondern auch interpretieren. Indem wir diese grundlegenden Prozesse erfassen, verbessern wir die Chance, Krankheiten besser zu diagnostizieren und gezielter zu behandeln.
Virchow 2.0 - Paradigmenwechsel in der Biomedizin
Die großen Volkskrankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauferkrankungen, Alzheimer und Demenz, Immunerkrankungen und Infektionskrankheiten verursachen trotz der medizinischen Fortschritte immer noch unsägliches Leid für die betroffenen Patienten und Angehörigen. Sie enden häufig mit einem vorzeitigen Tod und bedeuten eine große Bürde für unsere Gesellschaft. Eine oft verspätete Diagnosestellung trägt zu den unbefriedigenden Heilungsraten bei: Denn die klinischen Symptome und Beschwerden einer Erkrankung sind eigentlich Spätzeichen.
Zu diesem Zeitpunkt sind die zugrundeliegenden zellulären Veränderungen bereits so weit fortgeschritten, dass eine Heilung oder Therapie schwierig oder unmöglich wird. Zudem verstehen wir bislang häufig nicht, welche Zelltypen genau für eine Erkrankung oder ihr Fortschreiten (oder Therapieresistenz) verantwortlich sind, und welche molekularen Eigenschaften diese Zellen besitzen. Also wissen wir auch nicht, wie wir diese Zellen mit gezielt wirkenden Medikamenten oder neuartigen Immuntherapien angreifen können, möglichst ohne gesunde Zellen auch zu attackieren.
Ungezielte Therapien wie beispielsweise eine Chemotherapie haben schwere Nebenwirkungen und beeinträchtigen die Lebensqualität. Zudem verursachen die resultierenden Spätfolgen erhebliche gesundheitsökonomische Kosten, die in einer alternden Gesellschaft weiter steigen werden.
Bahnbrechende neue Technologien der vergangenen Jahre eröffnen uns heute bislang ungeahnte Möglichkeiten. Ähnlich wie einst Rudolf Virchows Erkenntnisse werden sie einen Paradigmenwechsel in der Medizin bewirken. Ein Teil dieser Technologien erlaubt uns einen Quantensprung in der Diagnostik und Therapieentwicklung: Sogenannte Einzelzell-Analysen wurden 2018 von der renommierten Zeitschrift Science als „Durchbruch des Jahres“ bewertet.
Sie erlauben es, einzelne Moleküle in Millionen individueller Zellen zu identifizieren und im Zeitverlauf einer Erkrankung zu verfolgen. Die entstehenden riesengroßen Datenmengen können durch den Einsatz künstlicher Intelligenz analysiert und interpretiert werden. So können wir besser verstehen, welche Entscheidungen Zellen treffen, welche davon zu Erkrankungen führen und wie wir eingreifen können.
Ein integriertes Konzept zellbasierter Medizin
Auch medizinisch uralte Ideen wie die des schlichten Herausschneidens einer Krankheit oder jene von der Stärkung der Abwehrkräfte bekommen heute ganz neue Bedeutung. Die „Gen-Schere“ CRISPR/Cas9 etwa ermöglicht zukünftig den gezielten Austausch kranker gegen gesunde Gene (Gentherapie). Innovative zelluläre Immuntherapien wie die CAR-T-Zelltherapie erfüllen in der klinischen Anwendung bei Leukämien und Lymphomen bereits heute einige der hohen Erwartungen.
WissenschaftlerInnen und Wissenschaftler vieler Berlin-Brandenburgischer Institutionen haben in den vergangenen zwei Jahren gemeinsam aus diesen neuen technischen Möglichkeiten ein integriertes Konzept zellbasierter Medizin entwickelt. Es ist angetrieben von der Integration von Grundlagenforschung, klinischer Entwicklung und Anwendung: Wir nennen es „Virchow 2.0“.
Wir sind davon überzeugt, dass dieses Konzept vollkommen neue Wege eröffnen kann: Wir werden kranke oder therapie-resistente Zellen viel früher identifizieren und in ihren molekularen Eigenschaften beschreiben können. Und dadurch werden wir auch neue Wege finden, solche Zellen gezielt zu bekämpfen, aus dem Körper zu entfernen oder in gesunde Zellen zu verwandeln. Wir werden lernen, zelluläre Krankheiten zu „heilen“.
In einem solchen Konzept bewegt sich die Medizin weg von aggressiven und teils vergeblichen Interventionen hin zu einer schonenden, präzisen, patientenindividuellen Korrektur jener von Virchow so treffend beschriebenen falschen Zell-Entscheidungen. Und das bereits möglichst kurz nachdem die Zellen diese Fehlentscheidungen getroffen haben. Anhand der fehlerhaften Baupläne wird also gar nicht erst ein einsturzgefährdetes Haus gebaut, sondern der medizinische „Architekt“ korrigiert die falsche Zeichnung möglichst schon vor der Ausführung.
Wie können wir diese Vision umsetzen?
Räumliche Nähe in einer Berliner „Zellklinik“ und internationale Vernetzung
Ein Konzept zellbasierter Medizin benötigt enge Interaktionen zwischen Grundlagenwissenschaft – also Molekularbiologie, Zellbiologie, Biochemie und Biophysik – und klinischer Medizin. Zudem müssen, und das ist extrem wichtig, die Möglichkeiten der Mathematik und Bioinformatik, der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Lernens sinnvoll integriert und ausgeschöpft werden. Eine weitere wichtige Säule stellen kliniknahe, innovative Herstellungsverfahren für zelluläre Therapien dar.
Die Komplexität des Ansatzes erfordert einerseits eine direkte räumliche Nähe aller regionalen Akteure in einer „Zellklinik“ und andererseits eine europaweite Vernetzung. Ähnlich dem Technologietreiber in Boston, dem Broad-Institut, muss in Berlin massive, interdisziplinäre Technologieentwicklung in gemeinsam aufzubauenden und zu betreibenden Infrastrukturen geleistet und der Medizin zugänglich gemacht werden.
In einer solchen Zellklinik wird das erkrankte Gewebe eines Patienten mit verschiedenen Technologien der Einzelzell-Sequenzierung in hoher Auflösung untersucht. So werden geeignete therapeutische Angriffspunkte identifiziert. Die erkrankten Zellen werden in 3D-Zellkulturen als sogenannte „Organoide“ am Leben erhalten. Sie selbst, aber auch Computermodelle von ihnen, dienen als Stellvertreter, als „Avatare“ des Patienten. An ihnen kann die Wirkung von Medikamenten effizient modelliert und getestet werden, ohne dass Patienten unnötigen Nebenwirkungen ausgesetzt werden. Auf diese Weise könnten zuverlässige Vorhersagen getroffen werden, ob eine Erkrankung auf die Therapie anspricht. Das ideale Ergebnis wäre eine auf die zellulären Eigenschaften der individuellen Krankheit zugeschnittene Behandlung.
Eine kritische Masse an Spitzenforschung
Berlin als Wissenschaftsstandort und Gesundheitsstadt hat alles, was für den Aufbau einer Zellklinik und die Umsetzung einer zellbasierten Medizin nötig ist:
Die Charité, Europas größte Universitätsklinik, hat eine lange Tradition medizinischer Revolutionen und garantiert den notwendigen Zugang zu Patienten und ihren Gewebeproben. Mit dem Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH) stehen die dringend benötigten Ressourcen zur Verfügung, um Forschungserkenntnisse für Patienten nutzbar zu machen.
Unter dem Dach des Berlin Institute of Health (BIH) werden die Schwerpunkte „Einzelzell-Technologien“ und „zelluläre Therapien“ bereits sehr aktiv auf- und ausgebaut. Das zur Helmholtz-Gemeinschaft gehörende Max Delbrück Centrum für Molekulare Medizin (MDC) liefert die notwendigen neuen Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung.
Das international ausgewiesene MDC-Forschungszentrum „Berlin Institute for Medical Systems Biology“ (BIMSB) ist 2019 in ein neues Gebäude auf dem Humboldt-Campus neben die Charité gezogen. Dorthin, wo einst das Herz der Weltwissenschaft und Forschung schlug. Hier widmet es sich gezielt der Weiterentwicklung von Einzelzelltechnologien und ihrer Interpretation durch Anwendung künstlicher Intelligenz.
Die beiden Max-Planck-Institute für Infektionsbiologie und Genetik befinden sich ebenfalls in regionaler Nähe und bauen ihre Programme zu CRISPR-Cas9-bezogener und RNA-basierter Forschung aus. Das Deutsche Rheumaforschungszentrum und das Berliner Centrum für Regenerative Therapien sind Beispiele für weitere, äußerst wichtige Partner.
Im Rahmen der neuen Berliner Universitätsallianz, die in der nationalen Exzellenzstrategie gefördert wird, bilden Humboldt Universität, Freie Universität, Technische Universität und Charité gemeinsam ein einzigartiges innovatives Forschungsumfeld, in dem auch das Einstein Centrum für die Digitale Zukunft eine wichtige Rolle spielt.
Mit diesem Umfeld kann Berlin zur Zellklinik werden. Berlin kann das europäische Boston werden. Als europäische Hauptstadt der Kreativwirtschaft und Start-Up-Kultur, als Metropole der Künstler und Intellektuellen und als politisches Zentrum bietet die Stadt das optimale Klima für erfolgreiche Innovationen.
Eine völlig neue Art der wissenschaftlichen Zusammenarbeit
Um den Traum einer erfolgreichen zellbasierten Medizin auf die europäische Ebene zu bringen und für alle Europäer neue Diagnostik- und Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln, wurde das europäische Konsortium LifeTime als Zusammenschluss von 90 Instituten und 80 Firmen von mehr als 200 führenden Forscherinnen und Forschern unter der Federführung des Max Delbrück Centrums und des Institut Curie in Paris gegründet.
Die Mitglieder sind in verschiedenen Bereichen, die für eine Zellklinik essentiell sind, wissenschaftlich führend: der Einzelzellbiologie, Informatik, Mathematik, Pathologie, Bildgebung, Physik und klinischen Medizin. Sie vereinigen ihre individuelle Expertise, um menschliche Zellen während einer Krankheit verfolgen, verstehen, und heilen zu können. Dadurch schaffen sie die Grundlagen für die zellbasierte Medizin von morgen.
Innerhalb Berlins entsteht derzeit eine völlig neue Art der wissenschaftlichen Zusammenarbeit: Über drei Brücken-Arbeitsgruppen neu berufener, international ausgewiesener junger Wissenschaftler im Gebiet der Einzelzelltechnologien werden sich unter dem Dach des BIH ab Mitte 2020 das MDC/BIMSB und Kliniken der Charité eng miteinander vernetzen.
Ziel ist es hier, Erkenntnisse unmittelbar in die Anwendung am Patienten zu bringen. Dieses Aufbrechen der Grenzen zwischen Institutionen, Fachgebieten (etwa Künstlicher Intelligenz und Biochemie) sowie zwischen der Grundlagenforschung, der Klinik, und der Umsetzung in Innovation ist essentiell für eine moderne Berliner „Zell-Klinik“ im Sinne von Virchow 2.0 und für die erfolgreiche Zukunft der Lebenswissenschaften in Berlin.
Die Berliner Wissenschaft wartet nun gespannt auf Signale, auch aus dem Berliner Senat und der Bundespolitik, um eine Berlin-Brandenburgische Zellklinik möglichst bald und effizient umzusetzen.
Im kommenden Jahr gedenken wir Virchows anlässlich seines 200. Geburtstages. Würde er heute leben, er würde diese Berliner und Europäische Vision wohl mit Begeisterung unterstützen.
Nikolaus Rajewsky