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An den britischen Hochschulen sind viele gegen den Brexit: Hier bereitet eine Studentin der Uni Bristol Plakate zu einer Demo für ein zweites Referendum vor.
© mauritius images/Alamy Stock Photo

Auswirkungen auf die Wissenschaft: „Der Brexit wirft uns um Jahrzehnte zurück“

Maximal verunsichert: Sir Anton Muscatelli, Vorsitzender der forschungsstarken britischen Unis, warnt vor den Folgen eines No-Deal-Brexits für die Wissenschaft.

Sir Anton, was halten Sie als Ökonom und als Vertreter der forschungsstärksten britischen Unis vom Brexit?

Persönlich bin ich gegen den Brexit. Er ist die schlimmste nationale Selbstdemontage seit Menschengedenken – das habe ich schon früher gesagt und dazu stehe ich. Wenn Sie sich ökonomische Analysen anschauen: Jede Art von Brexit ist schädlich, ein No-Deal-Brexit am schädlichsten. Die Menschen, die wirtschaftlich und sozial am meisten betroffen sein werden, sind die schwächsten in der Gesellschaft. Da kann man nur dagegen sein.

Es geht momentan in London drunter und drüber. Kann ein No-Deal-Brexit abgewendet werden?

Nach Theresa Mays krachender Niederlage kommen wieder neue Optionen ins Spiel, darunter auch ein softer Brexit oder ein zweites Referendum. Ich würde sogar nicht ausschließen, dass Mays Vorschlag doch noch durchkommt. Es ist aber schwer abzusehen, wie parlamentarische Mehrheiten für alle diese Möglichkeiten organisiert werden können.

Wie bewerten Sie Mays Vorschläge vom Montag?

Es hat sich dadurch wenig geändert - einen Plan B hat die Premierministerin nicht wirklich präsentiert. Es ist weiterhin ihr Plan A, nur dass sie neue Garantien von der EU für den Backstop für Irland bekommen möchte. Das hat zwei Haken. Die EU wird ihr offenbar nicht mehr geben als eine mündliche Zusage, dass der Backstop eine Notlösung ist - er wird weiterhin fest im Abkommen verankert sein. Und ob May vor diesem Hintergrund genügend Stimmen zusammenbekommt ist mehr als fraglich. Wenn May ihren Kurs nicht ändert, wird sie untergehen.

In einem Brandbrief kritisieren die wichtigsten britischen Hochschulverbände, ein No-Deal-Brexit werde die Wissenschaft um Jahrzehnte zurückwerfen. Wie kommen Sie zu der Einschätzung?

25 bis 30 Prozent aller Wissenschaftler bei uns stammen aus EU-Ländern. Viele Studierende aus der EU sind bei uns eingeschrieben. Es geht hier um den freien Austausch von Ideen und Talent. Europa hat als Kontinent sehr davon profitiert. Ein No-Deal-Brexit würde enorme Unsicherheiten mit sich bringen.

Was ist die größte Gefahr für die Wissenschaft im Fall eines No-Deals?

Neue Beschränkungen werden Studierende und Wissenschaftler daran hindern, von Großbritannien in die EU zu gehen – beziehungsweise andersherum. Viele vergessen auch, dass die großen EU-Forschungsprogramme weltweit einzigartig sind. Man kann ein Forschungsstipendium in Deutschland gewinnen und damit dann nach Italien gehen, Drittmittel über Grenzen hinweg einsetzen. Das ist ein riesiger Wettbewerbsvorteil für Europa. Schauen Sie sich zum Vergleich bilaterale Programme zwischen Deutschland und den USA oder Großbritannien und den USA an. Die sind viel limitierter.

Ist die Regierung, sind die Unis organisatorisch auf einen unkontrollierten Brexit vorbereitet?

Darauf kann sich keiner richtig vorbereiten. Das ändert so viele Sachen, da hat man gar keine Kontrolle drüber. Wir werden unser Bestes tun, vor allem unseren Kollegen helfen, die aus EU-Ländern stammen und bei uns arbeiten.

Können Sie Beispiele nennen, die für Unis bei einem No-Deal-Szenario besonders schwer zu managen sein werden?

Erstes Beispiel: Wir müssen unsere EU-Kollegen beschützen und klären, dass sie einen sicheren Aufenthaltsstatus haben. Die britische Regierung hat versprochen, dass sie hierbleiben können. Aber das muss mit den Behörden organisiert werden, ein riesiger bürokratischer Aufwand. Ein zweites Beispiel: Die EU wird sofort aufhören, ihre Stipendien und Forschungsmittel zu zahlen. Die Regierung will die Mittel ersetzen – wie, weiß aber niemand. Erneut ein riesiger bürokratischer Aufwand. Das wird nicht von heute auf morgen gehen, in der Zwischenzeit müssen wir sicherstellen, dass wir die entsprechenden Vorhaben und Stellen trotzdem finanzieren können. Und schließlich: Wir importieren auch viele Waren aus der EU, denken Sie nur an Labormaterialien. Verzögerungen beim Import sind absehbar, das wird auch uns treffen.

Immer wieder ist zu hören, britische Wissenschaftler ziehe es inzwischen verstärkt in EU-Länder. Umso mehr gelte das für internationale Forscherinnen und Forscher. Wie sieht das an Ihrer Uni aus?

Es gibt einige Wissenschaftler, die gute Jobangebote aus der EU bekommen haben und die dann auch angenommen haben. In einigen Bereichen bewerben sich weniger Wissenschaftler aus EU-Ländern, etwa in der Biomedizin. Noch halten sich die negativen Folgen in Grenzen. Das wird sich bei einem No-Deal-Exit aber radikal ändern, befürchte ich.

Sie sind Rektor der Uni Glasgow. Schottland ist EU-freundlich. Wie ist die Stimmung bei Ihnen an der Uni?

Es gibt große Ängste unter unseren Studierenden und Wissenschaftlern. 62 Prozent der Schotten haben für den Verbleib in der EU gestimmt, in Glasgow waren es über 70 Prozent. Es gibt für uns aber deswegen auch einen kleinen Vorteil: EU-Kollegen, die zu uns kommen, wissen, dass wir sehr pro-europäisch sind – und dass sie in einer Stadt arbeiten werden, in der sie willkommen sind.

Selbst wenn es doch zu einem geregelten Brexit kommt, ist die Zukunft der Wissenschaftsbeziehungen unklar. Egal wie ein Austrittsabkommen aussehen wird: Es regelt nur die Übergangszeit bis Ende 2020. Was fordern Sie für die Zeit ab 2021?

Wir wollen vollwertiges Partnerland für alle EU-Wissenschaftsprogramme werden, also für Erasmus plus und Horizon Europe, das künftige EU-Forschungsrahmenprogramm. Gerade erst haben sich die Russell Group der britischen Universitäten und die German U15 nochmals dafür eingesetzt.

Die Russell Group, deren Vorsitzender Sie sind, vertritt 24 führende britische Unis, der deutsche Verband 15 große deutsche Unis. Wie machen Sie sich bemerkbar?

Wir haben einem gemeinsamen Forderungskatalog an die deutsche und britische Regierung aufgesetzt, in dem wir die Forderung noch einmal unterstreichen. Natürlich setzt das Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU voraus, wie sich die Partnerschaft gestaltet. Großbritannien müsste dann ungefähr so viel in die Programme einzahlen wie es herausbekommt. Auch hier gilt: Käme es zu einem weicheren Brexit – etwa, wenn Großbritannien wie Norwegen Mitglied der europäischen Freihandelszone EFTA wird – wäre das sehr viel einfacher. Dann könnten wir automatisch an den Wissenschaftsprogrammen teilnehmen.

Haben Sie die Hoffnung, dass die Ausgestaltung der zukünftigen Wissenschaftsbeziehungen bis 2021 abschließend verhandelt wird? Auch bis dahin sind nur zwei Jahre Zeit.

Es gibt immer Risiken. Wichtig ist uns, dass sich Studierende und Wissenschaftler möglichst frei zwischen der EU und Großbritannien bewegen können. Je enger wir uns an die EU binden, desto schneller werden die Verhandlungen abgeschlossen werden. Gerade was den Studierendenaustausch angeht: Das ist ein Kern Europas. Wenn wir darüber reden, dass die EU ein Friedensprojekt ist, hängt das auch maßgeblich davon ab, ob junge Menschen leicht in andere Länder gehen und diese kennenlernen können.

Es gibt deutsche und englische Unis, die separate Abkommen schließen, um sich für die Zukunft zu wappnen. Bestes Beispiel sind die Berliner Unis und Oxford. Liegt die Zukunft in solchen Einzelabkommen?

Diese bilateralen Partnerschaften können nicht wirklich unser europäisches Netzwerk ersetzen. Völlig unabhängig davon, was mit dem Brexit passiert, halte ich sie gleichwohl für gute Ideen. Die Partnerschaften verstärken, was wir bereits haben – und das wollen wir nicht verlieren.

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