Naher Osten: Warum Israel wegen Syrien alarmiert ist
Für Israel wird die Lage an der Grenze zu Syrien immer heikler – dort bringt sich der Iran mithilfe Assads in Stellung. Jerusalem wertet das als Bedrohung.
Von dieser Zahl ist in Israel dieser Tage oft die Rede: 1974. Es ist das Jahr, in dem mit Syrien ein Waffenstillstand vereinbart wurde. Damals einigten sich beide Länder auf eine Pufferzone entlang der Grenze. Jetzt, da die geopolitischen Karten in dieser Region neu gemischt werden, fürchtet der jüdische Staat, dass die Vereinbarungen gebrochen werden.
Jüngste Vorfälle zeigen, dass die Sorgen nicht unbegründet sind. Israel sieht die größte Gefahr im Erzfeind Iran, der die Truppen von Syriens Machthaber Baschar al Assad unterstützt und sich jetzt womöglich an der Nordgrenze festsetzt.
Assads Siegeszug
Vor bald zwei Monaten starteten Assads Einheiten eine Großoffensive in der südwestlichen Region Syriens, eines der letzten Gebiete, das noch von Aufständischen kontrolliert wurde. Israel bekam die Operation unmittelbar zu spüren. So schoss die Armee Mitte Juli einen Suchoi-Bomber ab, der in Israels Luftraum eingedrungen war.
Bereits einen Tag zuvor hatte das Land zum ersten Mal sein Abwehrsystem namens „Davids Schleuder“ eingesetzt, um zwei Raketen abzufangen, die sich aus Syrien näherten. Als sich abzeichnete, dass diese es nicht über die Grenze schaffen und auf syrischem Boden landen würden, zerstörte Israel die jeweils knapp 900.000 Euro teuren Raketen noch in der Luft.
Es handelte sich in beiden Fällen wohl um ein unbeabsichtigtes Überschwappen der Gefechte, wie Experten vermuten. Israel reagiert auf derartige Vorfälle dennoch – um deutlich zu machen, dass jede Art Grenzüberschreitung nicht geduldet wird und man willens und in der Lage ist, sich jederzeit zu verteidigen.
Die neue Gemengelage im Norden stellt nach Israels Überzeugung eine ernst zu nehmende Gefahr dar, weil mit dem Siegeszug von Assads Getreuen in den Gebieten entlang der Grenze auch Erzfeind Iran versucht, dort Fuß zu fassen. Mittlerweile sind immerhin die UN-Blauhelme in das Gebiet zurückgekehrt.
2012 hatten sie im Zuge des Bürgerkrieges ihre Posten verlassen. Vor einigen Tagen patrouillierten sie erstmals auf dem Golan – unterstützt von russischer Militärpolizei, die acht Beobachtungsposten errichten will. Doch das reicht Israel als Garantie nicht aus.
Jerusalems Bedenken
Als im Zuge des syrischen Bürgerkrieges vor ein paar Jahren oppositionelle Kämpfer – unter ihnen viele Dschihadisten – in das Grenzgebiet vordrangen, hatte Israel ernsthafte Sicherheitsbedenken. Was, wenn radikale Gruppen die Macht übernehmen, Angriffe und Terroranschläge gegen den jüdischen Staat planen? Marco Moreno, ein ehemaliger Armeekommandeur, erinnert sich noch gut an diese Zeit.
Auch aus strategischen Gründen, erzählt er, habe sich die Armee damals entschieden, den Syrern humanitäre Hilfe zu leisten. Man habe den lokalen Anführern in den Dörfern an der Grenze Ende 2012 einen Deal angeboten: Israel versorgt Verletzte in seinen Krankenhäusern, liefert Nahrungsmittel, Zelte, Medizin, Treibstoff – und die Dorfbewohner sorgen im Gegenzug dafür, dass militante Gruppen fernbleiben. „Guter Nachbar“ heißt die Operation, die Moreno damals leitete.
An der Grenze blieb es im Laufe der Jahre tatsächlich einigermaßen ruhig. Aber das ist Vergangenheit. Nun, da sich der Krieg in Syrien dem militärischen Ende neigt und Assads Truppen viele Gebiete zurückerobern, sind nicht mehr sunnitische „Gotteskrieger“ das Problem, sondern der Iran. Einheiten der Islamischen Republik, vor allem von Teheran verpflichtete schiitische Milizen, kämpfen an der Seite des syrischen Regimes und könnten nun nahe der Grenze in Stellung gehen, um von dort aus Israel anzugreifen. Das wird zumindest befürchtet.
Irans Provokationen
Dass der Iran vor Provokationen nicht zurückschreckt, zeigt sich immer wieder. So drang im Februar eine iranische Drohne in den israelischen Luftraum ein, die Armee schoss sie vom Himmel. Im Mai soll der Iran 20 Raketen von Syrien aus abgefeuert haben. Israelische Kampfjets zerstörten daraufhin einen Großteil der iranischen Militärinfrastruktur im Nachbarland. Es geht dabei in erster Linie um Abschreckung.
Jerusalem wird es, so heißt es immer wieder, auf keinen Fall zulassen, dass Syrien ein zweites Libanon wird. Dort hat sich die Hisbollah mithilfe des Iran zu einem ernsthaften Gegner entwickelt. Mehr als 100000 Raketen sollen auf Städte wie Tel Aviv oder Haifa gerichtet sein. Beobachter gehen davon aus, dass schon heute gut 2000 iranische Soldaten und bis zu 20000 Mitglieder verschiedener schiitischer Milizen in Syrien präsent sind.
Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass Israels Sicherheitsexperten und Politiker die Herrschenden in Syrien und den Iran warnen. Das Waffenstillstandsabkommen von 1974 muss eingehalten werden, sonst werde sich der jüdische Staat wehren. Israel setzt derzeit alles daran, dass diese Vereinbarungen nicht gebrochen werden und niemand dem eigenen Staatsgebiet zu nahekommt.
Die Voraussetzungen dafür sind längst geschaffen: Seit 1974 besteht an der Grenze zwischen Israel und Syrien eine Pufferzone, an manchen Stellen bis zu einem Kilometer breit, die nicht betreten werden darf, außer von den UNDOF-Soldaten. Sie dürfen patrouillieren, um sicherzustellen, dass sich alle Seiten an die Übereinkunft halten. Das Vertrauen in die UN-Soldaten ist allerdings recht gering. Sind sie wirklich in der Lage und bereit, den Iran notfalls aufzuhalten? Wohl kaum, da sind sich Israels Strategen einig.
Russlands Rolle
Jetzt, da der militärische Erfolg des Schützlings Assad in greifbarer Nähe erscheint, will Moskau die Weichen für Syriens Nachkriegsordnung stellen. Dabei muss aus Sicht des Kremls eines auf jeden Fall gewährleistet sein: Dass in Syrien jemand das Sagen hat, der Russland genehm ist.
Denn damit soll auf absehbare Zeit Moskaus Einfluss im Nahen Osten gesichert werden. Dafür ist Stabilität unerlässlich. Deshalb bemüht sich Putin, als mächtiger Makler zwischen den unterschiedlichen Interessen zu vermitteln – wohl wissend, dass ohne seine Zustimmung nichts in Syrien passiert.
Auch deshalb hat sich Netanjahu mehrfach mit Russlands Präsidenten getroffen. Und immer ist das Thema Iran. Der Regierungschef aus Jerusalem fordert, dass sich Teheran vollständig aus Syrien zurückzieht. Eine Pufferzone von beispielsweise 100 Kilometern reicht Netanjahu nicht. Das stellt Putin vor ein Dilemma.
Einerseits will er Israel nicht verprellen. Schließlich ist der jüdische Staat eine militärische Großmacht und somit ein schlagkräftiger Gegner – selbst für die russischen Streitkräfte. Andererseits kann Moskau nicht ganz auf den Iran verzichten oder sich gegen ihn stellen.
Noch sind dessen Einheiten am Boden für Assad unerlässlich. Und die Islamische Republik ist fest entschlossen, langfristig in Syrien zu bleiben. Erst kürzlich gab Russlands Außenminister Sergej Lawrow zu, ein vollständiger Rückzug der Iraner sei „absolut unrealistisch“. In Teheran sieht man das genauso.
Für Netanjahu dürften solche Aussagen inakzeptabel sein. Ein womöglich mit Atomwaffen ausgestatteter Iran direkt vor der Haustür? Dieses Schreckensszenario gilt es zu verhindern. Da kommt einer wie Donald Trump mehr als gelegen. Der US-Präsident liegt in Sachen Iran mit Netanjahu auf einer Linie. Der Ausstieg Amerikas aus dem Nuklearabkommen war ganz nach dem Geschmack des israelischen Premiers.
Und dann sind da noch die Golfmonarchien als Verbündete. Vor allem Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate fühlen sich vom Iran ernsthaft bedroht. Bereits seit vielen Jahren versuchen sie, eine Allianz gegen den Erzfeind auf die Beine zu stellen.
Deren erklärtes Ziel ist es, Teheran endlich Einhalt zu gebieten. Erst jüngst drohte Netanjahu dem Iran mit einer gemeinsamen militärischen Aktion. „Wenn der Iran versucht, Bab al Mandeb (die wichtige Meerenge zwischen Arabien und Afrika, Anm. der Red.) zu blockieren, bin ich überzeugt, dass er einer entschlossenen internationalen Koalition gegenüberstehen wird, die das verhindert. Diese Koalition würde auch den Staat Israel einschließen, mit all seinen Waffen.“
Teherans Pläne
Bei den Mullahs in Teheran werden derartige Drohungen sehr wohl zur Kenntnis genommen. Mehr aber auch nicht. Denn die dort Herrschenden machen keine Anstalten, klein beizugeben. Überraschend ist das nicht. Aus Sicht des Iran lief es in den vergangenen Jahren geostrategisch richtig gut.
Irak, Jemen, Libanon und Syrien: Überall konnte der schiitische Gottesstaat seine Position festigen oder ausbauen. So wird das immer mehr Wirklichkeit, was oft als Hirngespinst einer irrationalen Iran-Feindlichkeit abgetan wurde: der schiitische Halbmond.
Gemeint ist damit eine Einflusszone, die vom Persischen Golf bis ans Mittelmeer reicht. Dabei spielt Syrien eine zentrale Rolle. Wenn der Iran dort mitreden kann, sichert das die Verbindung zum Libanon und der Hisbollah. Seit Langem ist die Miliz ein verlängerter Arm der Mullahs.
Die versorgen im Gegenzug ihre Getreuen mit Waffen. Bisher wurde das militärische Gerät zumeist mit Flugzeugen auf Stützpunkte nach Syrien gebracht. Für Israel war es nicht allzu kompliziert, die Flüge zu orten und die Lieferungen dann zu zerstören.
Aber mittlerweile nutzt der Iran immer häufiger den viel schwieriger zu kontrollierenden Landweg, um verbündete Extremisten mit Waffen auszustatten. Nun könnte es schon bald soweit sein, dass schiitische Verbände auch auf dem Golan in Stellung gehen. Für Israel bedeutet das nichts anderes als eine Ausweitung der Kampfzone.