Krieg in Syrien: Warum die Flüchtlingskrise anhält
750.000 Syrer sind seit Jahresbeginn in ihre Dörfer heimgekehrt. Zugleich wurden aber auch mehr als 900.000 Menschen zu Flüchtlingen. Eine Analyse.
Es klingt ausnahmsweise mal nach einer guten Nachricht aus Syrien. Vor wenigen Tagen berichtete das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), dass immer mehr sogenannte Binnenvertriebene in ihre Heimatorte zurückkehren. Jene Menschen also, die wegen des Krieges ihr Zuhause verloren haben und oft bereits seit Jahren ohne feste Bleibe durchs Land irren.
In den ersten sechs Monaten sind demnach schätzungsweise 750.000 Kinder, Frauen und Männer aus verschiedenen Regionen wieder dorthin gegangen, wo sie vor Beginn des Aufstands gegen Machthaber Baschar al Assad lebten – beinahe so viele wie im gesamten vergangenen Jahr.
Die Experten der UN führen die Zunahme der Rückkehrwilligen vor allem auf die militärischen Erfolge des Regimes zurück. In den vergangenen Monaten haben regierungstreue Einheiten mit massiver iranischen und russischer Unterstützung weite Teile des Staatsgebiets wieder unter Kontrolle gebracht. Aufständische mussten etwa aus Homs, Aleppo und den Vororten um Damaskus abziehen, es gibt dort so gut wie keine Gefechte mehr. Die Lage hat sich beruhigt.
Leben in extremer Armut
Was die Einwohner veranlasst, sich auf den Weg nach Hause zu machen. Allerdings stehen die Menschen in der Regel vor dem Nichts. Häufig sind ihre Wohnungen zerstört, wurden geplündert oder einfach von anderen Syrern übernommen. Es gibt so gut wie keine Jobs, die Familien können sich kaum über Wasser halten. Mehr als 70 Prozent der syrischen Bevölkerung lebt in extremer Armut, hat weniger als zwei US-Dollar pro Person am Tag zur Verfügung. Kliniken, Gesundheitszentren und Schulen sind nur noch selten in Betrieb.
Deshalb hält Martin Keßler, Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe, eine Debatte über Syrien-Rückkehrer für verfrüht. „Solange es keinen andauernden Frieden gibt, ändert sich nichts an der Perspektive der Menschen.“ Dass Assad seine Macht im Land wieder festigen konnte, davon profitierten die Hilfsorganisation zwar indirekt, sagt Keßler.
"Die Bundesregierung muss umdenken"
Nach der Beruhigung der Lage könnten die Helfer nun in mehreren Teilen Syriens aktiv werden. Doch stelle die Bundesregierung nur Geld für die Arbeit in Rebellengebieten zur Verfügung, obwohl die Not in Assads Machtbereich nicht kleiner sei. „Hier fordern wir von der Bundesregierung ein Umdenken“, sagt Keßler.
Ohnedies kann keine Rede davon sein, dass sich Syriens Flüchtlingskrise durch die Rückkehr von 750.000 Binnenvertrieben entschärft hat. Denn die Zahl steht einer anderen gegenüber. Nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Hilfe sind allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres mehr als 920.000 Syrer zu Flüchtlingen geworden, ein Rekordwert seit dem Kriegsbeginn 2011.
Vor allem wegen der heftigen Gefechte im Süden des Landes mussten sie ihre Dörfer verlassen. Damit sind landesweit nach wie vor mindestens 6,6 Millionen Menschen auf der Flucht. Die meisten benötigen Tag für Tag Überlebenshilfe, zum Beispiel Lebensmittel, Wasser und Medikamente. Sie hausen zumeist in schäbigen Unterkünften wie Zeltlagern, Ruinen und stillgelegten Garagen. Kinder gehen nur selten zur Schule.
Ähnliches gilt für jene Syrer, die es geschafft haben, in einem der Nachbarstaaten Schutz zu finden. Drei Länder tragen dabei die größte Last: die Türkei mit mehr als drei Millionen Flüchtlingen sowie der Libanon und Jordanien mit jeweils vermutlich mehr als einer Million Zufluchtssuchenden. Auch dort leben Syrer häufig unter katastrophalen Verhältnissen.
Kaum einer vertraut den Versprechen des Regimes
Dennoch sind die meisten offenkundig nach wie vor nicht bereit, in ihre Heimat zurückzukehren. Das UN-Flüchtlingshilfswerk hat im ersten Halbjahr 2018 lediglich 13.000 gezählt. Offenkundig trauen viele den Versprechen des Regimes nicht, sie würden mit offenen Armen aufgenommen werden. Vielmehr scheinen sie staatliche Repressalien zu fürchten, weil sie als Assad-Gegner gelten könnten.
So ist die Angst vor willkürlichen Verhaftungen durch den allgegenwärtigen, berüchtigten Geheimdienst groß. Jeder weiß, dass in den Gefängnissen gefoltert wird. Und Jugendlichen droht der Wehrdienst und damit ein rascher Einsatz an der Front. Dass die UN darauf drängen, eine freiwillige Rückkehr müsse unter sicheren und menschenwürdigen Bedingungen erfolgen, kann kaum einem der Betroffenen die Furcht nehmen. Dann schon lieber dort bleiben, wo man ist, auch wenn die Situation zum Beispiel so trostlos ist wie im Libanon.
Wenn Gäste zur Last werden
Im Zedernstaat ist die Gastfreundschaft mittlerweile einer großen Skepsis, ja, Ablehnung gewichen. Das arme Land stöhnt unter der Last der Flüchtlinge. Die Regierung und mit ihr viele Libanesen würden die Syrer lieber heute als morgen wieder los werden. Man empfindet sie als Bürde, weil es für die einheimische Bevölkerung ohnehin schon zu wenig gibt.
So wird die Situation für die im Libanon lebenden Menschen aus Syrien immer prekärer. Vor einigen Tagen haben sich Hunderte in Richtung Heimat aufgemacht. Es ist eine Rückkehr ins Ungewisse.