Humanitäre und medizinische Hilfe: Israel unterstützt syrische Flüchtlinge - bis zur Grenze
Von den Golanhöhen ist es nur ein Kilometer zu den Flüchlingslagern in Syrien. Verwundete lässt Israel ins Land. Alle anderen müssen draußen bleiben.
Der starke Sommerwind wirbelt mächtig Sand auf, hier oben auf dem Beobachtungspunkt Hasaka auf den Golanhöhen, von wo aus der Sanitätsoffizier Tomer Koller – olivgrüne Uniform, angegraute Haare, die Waffe um die Brust gehängt – in Richtung Syrien blickt. Dort unten, keinen Kilometer vom Grenzzaun entfernt, haben sich syrische Flüchtlinge in einer Ansammlung von Zelten nahe der Dörfer Birajam und Bariqua niedergelassen. Entlang der Grenze, so erklärt Tomer Koller, gebe es heute rund 10000 bis 15000 Flüchtlinge. Einige von ihnen sind in den vergangenen Tagen und Wochen aus der umkämpften Region Daraa im Südwesten Syriens geflohen. Für Oberstleutnant Koller steht fest: „Sie kommen aus zerstörten Häusern. Familien werden getötet oder verletzt. Du kannst hier nicht stehen und nichts tun.“ Und so steht Israel schon seit Jahren nicht mehr tatenlos daneben – obwohl Syrien offiziell Feindesland ist und die beiden Staaten nie Frieden geschlossen haben. „Wir leisten humanitäre Hilfe, so schnell und so viel wie möglich.“
Fast jede Nacht wird Hilfe geleistet
Nahrungsmittel, Zelte, Benzin, Kleidung und medizinische Versorgung schafft die Armee seit einigen Tagen verstärkt über die Grenze. Fast jede Nacht wird Hilfe geleistet, erklärt Oberstleutnant Koller. Man sehe mehr und mehr verwundete Frauen und Kinder, deren Familien getötet wurden. Verwundete Syrer lässt Israel ins Land, um sie in Krankenhäusern zu behandeln.
Doch hinter der humanitären Hilfe im Zuge der Operation „Guter Nachbar“ der israelischen Armee steckt nicht nur Nächstenliebe, sondern auch Eigeninteresse, erklärt Oberstleutnant Koller: „Wir versuchen, ihnen mehr und mehr Equipment zu geben, damit sie auf der anderen Seite bleiben und dort Zeltdörfer errichten und sich nicht nähern und nach Israel kommen.“
Immer mehr Flüchtlinge kommen - bis zur Grenze
Keine syrischen Flüchtlinge in Israel – das hatte auch Verteidigungsminister Avigdor Lieberman in einer Twitternachricht vor einigen Tagen deutlich gemacht: Man beobachte die Ereignisse in Syrien und werde Israels Sicherheitsinteressen wahren. „Wie immer sind wir bereit, humanitäre Hilfe an Zivilisten, Frauen und Kinder zu liefern, aber wir werden keine syrischen Flüchtlinge auf unserem Gebiet akzeptieren.“
Die Ansage kam, weil die Armee in den vergangenen Wochen immer mehr syrische Flüchtlinge an der Grenze verzeichnete. Grund dafür war die Offensive, die syrische Regierungstruppen mit Russland Mitte Juni auf die Region Daraa gestartet hatten. In jener Region begann vor sieben Jahren der Bürgerkrieg, sie war bislang eine der letzten Rebellenhochburgen. In den vergangenen Tagen hatten Berichten zufolge Assads Truppen den Beschuss und die Bombardierung der Region, unter anderem mit Fassbomben, verstärkt. Nach UN-Angaben mussten rund 320000 Menschen ihre Häuser verlassen – und einige von ihnen zogen in Camps an der Grenze zu Israel. Am Freitag wurde gemeldet, die Rebellentruppen wollen ihre Waffen niederlegen, nachdem mit russischer Hilfe ein Übereinkommen mit dem Assad-Regime getroffen wurde. Demnach soll das Regime die Kontrolle über den südlichen Teil Syriens übernehmen, inklusive jenem Gebiet, das bisher in der Hand des IS war.
Es fehlt an Essen, Zelten und Toiletten
Auch der 29-jährige Mohammed Hariri kam vor knapp zwei Wochen zusammen mit seiner im achten Monat schwangeren Frau und seinem dreijährigen Sohn aus dem östlichen Daraa in das Flüchtlingsdorf bei Bariqua nahe Israel. In einem Telefonat, das eine Medienorganisation für Journalisten bei einer Tour im Norden Israels arrangiert, beschreibt er die Lage, die trotz der Hilfe der Israelis prekär ist: „Es ist hart, vor allem für die Kinder und Frauen, viele sind schwanger. Wir haben nicht genug Essen, nicht genügend Zelte und keine Toiletten. Das ist kein Leben“, sagt er. Würde Israel die Grenzen für die Flüchtlinge öffnen – „ich wäre der Erste, der rübergeht“, sagt Hariri, der einst als Arabischlehrer gearbeitet hat.
Doch Israel werde das nicht zulassen, weiß auch Marco Moreno, der ehemalige Kommandeur der Armeeoperation „Guter Nachbar“. Er hält das für richtig, denn es bliebe am Ende nicht bei ein paar Tausend Flüchtlingen – selbst wenn Israel vorher festlegen würde, die maximale Anzahl von Flüchtlingen sei 10000. „Und was, wenn der 10001. ein Kind ist? Nimmst du es dann nicht mehr auf? Wo endet das? Israel ist ein kleines Land, es kann keine Flüchtlinge reinlassen.“
Humanitäre Hilfe gegen Sicherheit
Moreno hat das Projekt „Guter Nachbar“ nach Beginn des Bürgerkriegs in Syrien mit aufgebaut – eine strategische Entscheidung der Armee sei es gewesen. Man habe den lokalen Anführern in den Dörfern an der Grenze Ende 2012 einen Deal angeboten: Israel leistet humanitäre Hilfe, wenn sie im Gegenzug dafür sorgen, dass keine radikalen Gruppen an der Grenze die Macht übernehmen, was zu Terroranschlägen führen und eine Gefahr für die Israelis werden könnte.
Und so hat Israel seit 2013 nicht nur knapp 5000 Syrer in israelischen Krankenhäusern behandelt, sondern auch tonnenweise Essen, Benzin, Windeln, Babynahrung, Medizin, Generatoren, Kleidung und Zelte nach Syrien geschafft. Finanziert wird das Projekt unter anderem von israelischen, europäischen und amerikanischen NGOs.
"Israel ist ein starkes Land"
Mohammed Hariri wusste davon, dass Israel syrische Flüchtlinge unterstützt – auch das war ein Grund, warum er mit seiner Familie an die Grenze kam, nachdem er zunächst von Ort zu Ort geflohen war. „Wir haben gesehen, wie Israel die Syrer in den vergangenen sieben Jahren behandelt hat. Das Wohlwollen der Israelis hat uns ermutigt, an die Grenze zu kommen.“ Hariri ist überzeugt, dass er hier zumindest vorerst sicher ist: „Wir sind zu der Erkenntnis gekommen, dass der beste Ort, um sicher zu sein, die Grenze zu Israel ist. Israel ist ein starkes Land, keiner kann es angreifen.“
Die Truppen des Assad-Regimes rücken immer weiter vor
Einige syrische Orte entlang der Grenze, wie Bariqua und Birajam, befinden sich in oder direkt an der Grenze zu der entmilitarisierten Zone, die im Zuge des Waffenstillstandsabkommens von 1974 errichtet wurde. Mit Blick auf den Vorstoß der syrischen Regierungstruppen hat Israel in den vergangenen Tagen immer wieder davor gewarnt, diese Vereinbarung zu missachten. Israel sei bereit, auch präventiv gegen die syrische Armee vorzugehen, erklärt Gilad Erdan, Minister für öffentliche Sicherheit, in einem Interview.
Wie lange Israel noch humanitäre Hilfe leisten kann, ist unklar, sagt Tomer Koller. „Die Truppen des Assad-Regimes rücken weiter vor und wir hoffen, sie halten sich an das Waffenstillstandsabkommen. Was aus der humanitären Hilfe wird, wenn das syrische Regime dieses Gebiet besetzt, weiß ich nicht. Vielleicht wird sie eingestellt, vielleicht machen wir weiter. In den vergangenen zwei Jahren habe ich gelernt, das man in dieser Region nicht wissen kann, was die Zukunft bringt. Alles kann sich jederzeit ändern.“
Lissy Kaufmann