Debatte im Europäischen Parlament zu Polen: Showdown der Unbelehrbaren
Bestreitet Polens Verfassungstribunal generell den Vorrang der EU vor oder nur den vor der Verfassung? Die Kontrahenten reden aneinander vorbei.
Am einfachsten haben es an diesem Morgen im weiten Oval des Plenarsaals alle, die ihrer Sache so sicher sind, dass sie ihre Meinung als absolute Wahrheit verkünden. Die Brücken zum Kompromiss haben sie verbrannt.
Da ähneln sich die Kräfte weit links und weit rechts im Europäischen Parlament verblüffend. Sie reden, um die Gegenspieler zu verdammen; nicht um Argumente zu prüfen. Die Sitzung verstehen sie als Tribunal. Die einen stellen den Gast des Tages, Polens Premier Mateusz Morawiecki, an den Pranger, die anderen dessen Ankläger.
Am schwersten wird der Vormittag für jene, die Zweifel haben. die Wert auf Höflichkeit sowie den Respekt vor Andersdenkenden legen und Kompromisse anstreben. Die Zweifel beginnen mit der Redezeit.
Fünf Minuten sind laut Tagesordnung für Morawiecki vorgesehen, aber die sind bereits abgelaufen, als er noch mitten im ersten seiner fünf angekündigten Aspekte steckt – den globalen Herausforderungen der EU: explodierende Energiepreise, illegale Migration, Verschuldungskrise plus die Gefahr, dass viele Betriebe Pleite gehen und Bürger ihre Jobs verlieren.
Nicht mal die Redezeit ist Konsens
Nach einer Viertelstunde wird Pedro Silva Pereira, der die Sitzung leitet, nervös. Morawiecki solle zum Ende kommen. Doch der kontert kühl: Er habe 30 bis 35 Minuten mit Parlamentspräsident David Sassoli ausgehandelt und gedenke, seine Rede ungekürzt vorzutragen.
Sassoli ist krank. Pereira, der für ihn eingesprungen ist, sagt, er wisse nichts davon. Morawiecki verlangt energisch: „Bitte unterbrechen Sie mich nicht!“ Später wird sich klären: Sassolis Sprecher kennt die Absprache auch nicht.
Am Ende werden es 34 Minuten, unter Beifall der Rechten und Buh-Rufen der Linken. Pereira weist Morawiecki unter Applaus zurecht: Der Respekt vor dem Parlament zeige sich auch darin, ob man Redezeiten einhält. In der Aussprache später haben die Abgeordneten zwischen einer und vier Minuten. Vizepräsident Rainer Wieland, der Pereira ablöst, dreht denen, die nach freundlicher Ermahnung nicht enden, rigoros das Mikrofon ab, damit aus drei Stunden nicht fünf werden.
"Polen ist und bleibt Mitglied der EU"
Morawiecki redet hart. Er wirft umgekehrt den Europäischen Institutionen Rechtsbruch und Erpressung vor. Aber er achtet darauf, die Brücken nicht abzubrechen. Er bekräftigt das Angebot, die umstrittene Disziplinarkammer für Richter aufzulösen.
Zunächst will er jedoch „Missverständnisse“ und „Lügen“ aufklären. Ein „Polexit wird es nicht geben. Polen ist Mitglied der Union und wird es bleiben“. Die Zustimmung sei viel höher als in Frankreich.
Unwahr sei auch, dass Polens Verfassungsgericht generell den Vorrang des europäischen Rechts vor dem nationalen bestreite. Es lehne lediglich den Anspruch des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ab, dass europäisches Recht Vorrang vor den nationalen Verfassungen habe. „Wo steht das in den Europäischen Verträgen?“, fragt Morawiecki mehrfach. Viele Konservative schlagen in der Debatte später in die gleiche Kerbe.
Vorwurf der Konservativen: Die EU ignoriert die Verträge
Es verhalte sich also umgekehrt: Der EuGH, die Kommission und das Parlament entfernen sich von der gemeinsamen Rechtsordnung, wenn sie Kompetenzen beanspruchen, die ihnen die Nationalstaaten nicht gegeben haben, argumentiert Polens Premier.„Die Rechte der Union haben Grenzen. Da müssen wir Stop sagen.“
Polen lasse sich nicht mit Geldstrafen oder der Drohung, EU-Gelder zu entziehen, erpressen. Europas Stärke beruhe geradezu auf der Unterschiedlichkeit seiner Völker und ihrer Rechtstraditionen.
Zudem hätten oberste Gerichte in Dänemark, Frankreich und Deutschland ebenfalls einen generellen Vorrang des EU-Rechts abgelehnt. Er schließt pathetisch: „Es lebe Polen! Es lebe die EU! Es lebe Europa, der großartigste Platz auf Erden!“
Doch die Gegenredner gehen auf die Argument nicht ein. Sie ignorieren Morawieckis Differenzierung des Vorrangs, je nachdem ob es um normale Rechtsakte oder die Verfassung geht. Sie tragen immer wieder vor, Polens Verfassungstribunal habe angeblich generell den Vorrang von EU-Recht abgelehnt. Und dies sei ein Novum in der EU.
Rat und Kommission setzen auf Kompromisse, das Parlament nicht
Vor Morawiecki hatte der slowenische Außenminister Anze Logar geredet. Slowenien hat gerade den Vorsitz im Rat inne, dem Gremium der Regierungschefs der EU. Er und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bekräftigen den Vorrang des EU-Rechts. Und doch enttäuschen sie das Parlament.
Logar sagt nämlich, die neue Rechtsstaatsklausel werde nicht vor Dezember angewandt. Erst dann will der EuGH sein Urteil verkünden, ob sie rechtmäßig sei. Doch das Parlament möchte die Kommission bereits im November verklagen, wenn sie die Klausel nicht sofort nutzt. Logar sagt, er hoffe, der Konflikt mit Polen werde durch einen „konstruktiven Dialog gelöst“.
„Wir haben genug Worte gehört und wollen Taten sehen“, sagen Abgeordnete wie der Grüne Sergey Lagodinsky. Er hat die Klagedrohung vorangetrieben.
von der Leyen: Kein unterschiedliches Recht in Grenoble und Danzig
Von der Leyen tritt kämpferischer auf als Logar, wirft Polen die Abkehr von Grundwerten vor und die illegale Entlassung von Richtern. Sie droht mit dem Entzug von EU-Geld und weiteren Gerichtsverfahren. Es „darf kein unterschiedliches Recht in Grenoble und Danzig“ geben. Das Recht sei „der Klebstoff, der unsere Union zusammenhält.“
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Den Forderungen des Parlaments beugt sie sich nicht. Auch sie setzt auf Kompromisse und versucht, zuhörende Polen mit polnischen Sätzen zu umschmeicheln; ihre Aussprache ist aber kaum zu verstehen.
In der Debatte wird deutlich: Dies ist kein Konflikt zwischen einer einigen EU und Polen. Die europäischen Institutionen haben unterschiedliche Interessen. Im Rat der Regierungschefs hat Polen mehrere Verbündete. Die Kommission möchte sich mit Polen einigen. „Es reicht nicht zu sagen, dass Sie bereit sind, die Disziplinarkammer aufzulösen. Tun Sie es!“, gibt von der Leyen Morawiecki mit auf den Weg.
Solange die EU so uneinig auftritt, hat Polen wenig zu fürchten
Das Parlament möchte den Grundsatzkonflikt um den Vorrang des europäischen Rechts ausfechten. Genau genommen wollen das vor allem die Grünen, die Sozialdemokraten und die Linke. Die Christdemokraten haben die Sorge, dass die Schärfe, mit der der Streit ausgetragen wird, am Ende weit zerstörerischer wirkt als Polens Justizreform.
Ihr Fraktionsvorsitzender Manfred Weber greift Morawiecki scharf an: „Sie halten sich nicht an die europäische Hausordnung.“ Polen habe beim Beitritt 2004 keine Bedenken gegen die Europäischen Verträge gehabt, auch nicht gegen den Vertrag von Lissabon, der 2007 die Kooperation in der EU ausweitete. Dabei habe damals Morawieckis Partei PiS die Regierung und den Staatspräsidenten gestellt. "Warum eskaliert der Konflikt jetzt und nicht damals?", fragte Weber. Und antwortet selbst: "Weil Ihre Regierung die Axt an den Rechtsstaat legt."
Darauf geht nun wiederum Morawiecki nicht ein, als er Gelegenheit hat, auf die Kritik der Abgeordneten zu antworten.
Doch auch wenn Weber Polen in der Debatte hart attackiert: Im Justizausschuss hat seine Fraktion den Antrag der Grünen auf eine härtere Gangart nicht unterstützt. Für die Rechten im Parlament haben Polen und Ungarn Heldenstatus, weil sie sich dem Machtanspruch der EU widersetzen.
Bei so viel Gegeneinander in den EU-Institutionen kann Polens Regierung wohl noch einige Zeit weiter lavieren.
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