Polens Streit mit der EU wegen der Justizreform: Pokern um einen Polexit
Warschau bringt Austritt aus der EU ins Spiel: ein reales Szenario oder eine zornige Reaktion auf die von der Kommission angedrohten Geldstrafen? Eine Analyse.
Die Spannungen zwischen Polen und der EU wachsen dramatisch. Beim Economic Forum in Karpacz, der bedeutendsten Wirtschaftskonferenz der Region mit dem Spitznamen „polnisches Davos“, deutete Vizeparlamentspräsident Ryszard Terlecki die Möglichkeit eines Polexits an: des Austritts Polens aus der EU.
„Wenn es so weiter geht, wie es derzeit läuft, müssen wir drastische Lösungen finden“, sagte Terlecki. „Die Briten haben gezeigt, dass ihnen die Diktatur der Brüsseler Bürokratie nicht passt, haben sich abgewandt und sind gegangen. Wir wollen nicht austreten. Die Zustimmung zur Mitgliedschaft in der EU ist bei uns sehr hoch. Aber wir können uns auch nicht in etwas hineintreiben lassen, das unsere Freiheit und unsere Entwicklung beschneidet.“
Brüssel hat Vertragsverletzungsverfahren gegen Warschau eingeleitet und die Verhängung täglicher Bußgelder beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg beantragt, um die nationalkonservative PiS-Regierung zu zwingen, sich den Urteilen des EuGH zur Rechtswidrigkeit von Teilen der polnischen Justizreform zu beugen. Die Verfahren der Disziplinarkammer gegen Richter, die der Regierung unliebsam sind, sollen enden.
Die Kommission baut auf finanziellen Druck
Die Kommission, auch das fällt auf, hat fast allen EU-Ländern die Ausgabenpläne für den Aufschwung nach der Corona-Rezession genehmigt, nicht aber Polen. Die Zustimmung ist Voraussetzung für die Milliarden-Mittel aus Brüssel. Polen hatte den Antrag im Mai eingereicht. Im Regelfall dauert das Verfahren zwei Monate.
Terleckis Worte erregten Aufsehen. Er ist ein enger Vertrauter des PiS-Parteichefs Jaroslaw Kaczynski, der der Regierung die Richtung vorgibt. Viele mutmaßen, Terlecki spreche aus, was Kaczynski denke: Er drohe mit einem Polexit, falls die EU die Konflikte mit Polen mit wachsender Schärfe zuspitzt. Aus PiS-Sicht maßt sie sich Rechte an, die sie nach den Europäischen Verträgen gar nicht habe.
Ist der Austritt ein reales Szenario oder nur eine Drohung als zornige Reaktion auf den wachsenden Druck aus Brüssel?
Oppositionsführer Tusk warnt: Das Spiel kann der PiS entgleiten
Am Tag danach ist die Aufregung in Polen groß. Die Opposition treibt das Thema. Der ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk, der nach Polen zurückgekehrt ist, um die Führung der Opposition zu übernehmen, warnte am Freitag: Polen könne „schneller, als es irgendwem scheint“ kein EU-Mitglied mehr sein, wenn die derzeitige Kampagne der nationalkonservativen Regierungspartei PiS aus den Händen gleite.
Borys Budka, Fraktionschef der Bürgerplattform PO, empörte sich: „Seit sechs Jahren beleidigen die Regierenden die EU. Die PiS führt rechtswidrige Veränderungen in den Medien und der Justiz ein. Schrittweise führen sie Polen aus der EU. Und jetzt tun viele überrascht, dass Terlecki vom Polexit spricht?“
Krzysztof Gawkowski vom Parteibündnis Die Linke verlangt, der Außenminister solle in der nächsten Parlamentssitzung erklären, welche Schritte die Regierung zur Vorbereitung eines Polexits vornehme.
Regierung dementiert: Polexit eine Erfindung der Medien
Das Regierungslager tut nun so, als sei nichts gewesen. „Es wird keinen Austritt Polens aus der EU geben“, betont Regierungssprecher Piotr Müller. Terlecki behauptet, der angebliche Polexit und die Aufregung darüber seien eine böswillige „Erfindung der Opposition und des TV-Senders tvn24“ als deren Sprachrohr.
Premier Mateusz Morawiecki gibt sich kompromissbereit: „Wir werden alle Zweifel ausräumen und keine unnötigen Spannungen erzeugen.“
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Manche im rechten Lager greifen das Stichwort Polexit freilich begierig auf, allerdings eher Außenseiter. Der PiS-Abgeordnete Marek Suski sagte in Radom: „Polen hat im Zweiten Weltkrieg die deutschen Besatzer bekämpft. Es hat die sowjetischen Besatzer bekämpft. Wir werden auch die Brüsseler Besatzer bekämpfen.“
Sein PiS-Kollege Janusz Kowalski twittert: „Es wird Zeit für eine Abwägung, ob der britische Weg besser für Polen ist.“
Der Vergleich mit dem Brexit hinkt
Radoslaw Sikorski, früher Außenminister der PO-Regierung und heute Europaabgeordneter warnt: „Droht um Gottes Willen nicht mit einem Polexit!“ Anders als für Großbritannien wäre ein Austritt für Polen verheerend. Das Vereinigte Königreich sei eine Insel, die Briten haben die Finanzmetropole London, das Pfund Sterling, die Beatles, Shakespeare und Atomwaffen. Sie werden allein zurechtkommen. Polen wäre nach einem Austritt erneut ein Puffer zwischen Deutschland und Russland.
Stellt man die Umfragen in Polen und die finanziellen Vorteile der EU-Mitgliedschaft in Rechnung, ist ein Polexit als politisches Vorhaben unwahrscheinlich. In den Eurobarometern, die nach der Zustimmung der Bürger zur EU fragen, gehört Polen regelmäßig zur Spitzengruppe.
Als mit Abstand größter Staat unter den 2004 beigetretenen Neumitgliedern im Osten und Südosten profitiert Polen stark von den Mitteln der Regional-, Struktur- und Kohäsionsfonds sowie den Agrarsubventionen. Wie will die PiS den Bauern, einer Kernwählerschaft, erklären, dass die auf die Gelder aus Brüssel verzichten sollen?
Terleckis Ziel: eine EU, in der sich auch Skeptiker wohlfühlen
Terlecki hat mit seinem Verweis auf den Brexit vom eigentlichen Ziel abgelenkt. Der Fokus seiner Aussage in Karpacz war: „Wir müssen darüber nachdenken, wie wir am besten daran arbeiten können, dass wir alle uns in der EU wohlfühlen und die EU für alle akzeptabel bleibt.“ Dann fiel die Forderung nach drastischen Lösungen.
Polen fühlt sich nicht allein. In mehreren EU-Staaten beklagen Bürger und Politiker, dass Brüsseler Institutionen eine verstärkte Integration ohne den politischen Auftrag der Mitgliedsstaaten betreiben und Kompetenzen beanspruchen, die sie nach den Verträgen nicht haben.
Polen beanstandet, Brüssel greife in das Justizwesen ein, obwohl es nicht vergemeinschaftet ist. Michel Barnier, früher EU-Kommissar und nun französischer Präsidentschaftsbewerber, kritisiert ein Diktat in Migrationsfragen. Das Bundesverfassungsgericht bemängelt Kompetenzübergriffe in der Finanzpolitik.