Historische Entscheidung für Kamala Harris: Diese Frau könnte einen Präsidenten Biden in den Schatten stellen
Kamala Harris hat Joe Biden im Vorwahlkampf hart angegriffen. Doch der kann verzeihen und macht sie zu seiner Vize - wegen oder trotz ihrer Beliebtheit?
Joe Biden traut sich, Risiken einzugehen. Das ist die vielleicht wichtigste Erkenntnis aus seiner Entscheidung, mit welcher Vizekandidatin er ins Rennen ums Weiße Haus geht. Die zweite Erkenntnis: Joe Biden kann verzeihen. Und die dritte: Joe Biden hört zu und hält Wort.
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Die Entscheidung für seine einstige Mitbewerberin um die demokratische Präsidentschaftskandidatur, die kalifornische Senatorin Kamala Harris, war von vielen Beobachtern erwartet worden - und kann dennoch als mutig bezeichnet werden. Denn im Vorwahlkampf hatten die 55-jährige ehemalige Staatsanwältin nicht wenige für die vielleicht beste Kandidatin gehalten. Nicht nur, weil sie 22 Jahre jünger als Biden ist, sondern auch, weil sie Anhänger mit ihrem Charisma enorm begeistern kann, weil sie scharf, rhetorisch brillant und angriffslustig ist - alles kein Nachteil im anstehenden Wettstreit mit dem eher skrupellosen republikanischen Amtsinhaber Donald Trump.
Aber die demokratischen Wähler hatten sich im Frühjahr für den verdienten ehemaligen Vizepräsidenten entschieden, vor allem, weil sie davon ausgingen, dass mit ihm ein Wahlsieg am ehesten möglich wäre. Ein bisschen lag das aber auch daran, dass die Senkrechtstarterin Harris, die erst seit 2017 im Senat sitzt, im Vorwahlkampf nicht immer alles gegeben und auch in Teilen offengelassen hatte, für was sie wirklich steht. Anfang Dezember gab sie auf.
Harris kann nun zeigen, dass sie auch das Zeug zur Präsidentin hätte
Nun könnte sie nach einem Wahlsieg an der Seite von Biden zeigen, dass sie tatsächlich das Zeug zur Präsidentin hat, wie es so viele von ihr erwartet hatten - zu ihrer Kandidaturverkündung in ihrer kalifornischen Heimatstadt Oakland im Januar 2019 kamen 20.000 Menschen - 5000 mehr, als zu der Barack Obamas vergleichbarem Auftritt in Illinois zwölf Jahre zuvor gekommen waren.
Dass Biden keine Angst davor hat, von Harris möglicherweise in den Schatten gestellt zu werden, zeugt von Größe. Und davon, dass er ihr vertraut, denn das war eines seiner Hauptkriterien. Würde er, sollte er im November gewinnen, dann nach vier Jahren entscheiden, aus Altersgründen nicht für eine weitere Amtszeit anzutreten, könnte sie die erste Präsidentin in der amerikanischen Geschichte werden.
Dass er verzeihen kann, zeigt Biden, weil er es Harris offensichtlich nicht mehr übel nimmt, dass sie ihn in der zweiten TV-Debatte der US-Demokraten im Juni 2019 unerwartet hart und persönlich angriff. Damals schien er nicht darauf vorbereitet gewesen zu sein, dass die Attacke auf ihn, den Favoriten im Vorwahlkampf, ausgerechnet von ihr kam. Immerhin war Kamala Harris mit seinem 2015 an einem Hirntumor verstorbenen Sohn Beau Biden eng befreundet gewesen: Beide waren Generalstaatsanwälte ihrer jeweiligen Bundesstaaten (Harris in Kalifornien, Biden in Delaware).
Ihr Angriff auf Biden in der TV-Debatte kam überraschend
"Vizepräsident Biden, ich glaube nicht, dass Sie ein Rassist sind", sagte die Tochter eines jamaikanischen Wirtschaftsprofessors an der Eliteuniversität Stanford und einer eine auf Brustkrebs spezialisierten indischen Ärztin damals. Aber sie warf ihm vor, als Senator in den 1970er Jahren die Praxis des "busing" abgelehnt zu haben - dabei wurden Kinder zu Schulen in anderen Bezirken gefahren, um die Trennung zwischen Schwarzen und Weißen aufzuheben. Dies sei eine Entscheidung gewesen, die sie, ein kleines Mädchen in Kalifornien, verletzt habe, sagte sie und gab ihm anschließend keine Möglichkeit, sein damaliges Verhalten zu erklären. Neulich war auf einem von einem Fotografen festgehaltenen Sprechzettel indes zu lesen, dass er "keinen Groll" gegen sie hege.
Harris hatte damals eben auch einen Vorgeschmack darauf gegeben, wie sie sich im Nahkampf mit Trump schlagen würde. Das kann sie nun ausführen, wenn auch "nur" als Vizekandidatin. Biden weiß um ihre Unerschrockenheit, seine Entscheidung verkündete er mit den Worten: "Ich habe die große Ehre, bekanntzugeben, dass ich Kamala Harris - eine furchtlose Kämpferin für die einfachen Menschen und eine der besten öffentlichen Bediensteten des Landes - als Running Mate ausgewählt habe."
Biden hat mit seiner Entscheidung für die Senatorin auch Wort gehalten bei seinem Versprechen, dass er eine Frau wählen würde. Diese Ankündigung hatte er Mitte März wegen der großen Enttäuschung vieler Demokratinnen über die Tatsache gemacht, dass auch 2020 keine Frau ins Weiße Haus einzieht. Dazu kam, dass er sich im Frühjahr wegen Jahrzehnte zurückliegender Vorwürfe von Frauen kurzzeitig in der Defensive befunden hatte. Er kann, das beweist er hiermit, zuhören und aus seinen Fehlern lernen.
Sie ist die erste nicht-weiße Vizekandidatin
Nun zieht er also mit Kamala Harris ins Rennen, und erwartet wird, dass sie nicht die einzige der unterlegenen Mitbewerber aus dem Vorwahlkampf sein wird, die ihm dabei helfen soll, die Wahl am 3. November zu gewinnen. Auch andere wie die Senatorin Elizabeth Warren oder der junge, ehemalige Bürgermeister von South Bend, Pete Buttigieg, werden wohl eine größere Rolle in Bidens Schattenkabinett spielen.
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Mit Harris als erster nicht-weißer Vizekandidatin bedankt sich der einstige Vize des ersten schwarzen US-Präsidenten Barack Obama zudem bei der afroamerikanischen Community, die letztlich den Ausschlag für seinen Vorwahlsieg gegeben hatte. In South Carolina siegte er bei der vierten Vorwahl der US-Demokraten dank ihrer Stimmen - dieses starke Comeback nach einem schwachen Beginn drehte das Rennen zu seinen Gunsten.
Mit der Personalie Harris erfüllt Biden zudem die Erwartung, dass sich nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz Ende Mai in Minneapolis und den bis heute anhaltenden Anti-Rassismus-Protesten wirklich etwas ändert. Die Entscheidung ist historisch, weil Harris die erste nicht-weiße Vizepräsidentschaftskandidatin der beiden großen Parteien in den USA sein wird. Biden und Harris sollen bei beim offiziellen Parteitag der Demokraten vom 17. bis 20. August nominiert werden, der wegen der Corona-Pandemie weitgehend digital stattfinden wird.
Trump nennte sie "garstig" und "gemein"
Auf Twitter bezeichnete die 55-Jährige es als "Ehre", mit Biden antreten zu dürfen. Sie werde alles dafür tun, um Biden zum Oberbefehlshaber zu machen. "Joe Biden kann das amerikanische Volk einen, weil er sein Leben damit verbracht hat, für uns zu kämpfen. Und als Präsident wird er ein Amerika aufbauen, das unseren Idealen gerecht wird."
Derjenige, den die beiden dafür besiegen wollen, reagierte am Dienstagabend abfällig auf die Verkündung. Donald Trump sagte, Harris sei im Vorwahlkampf "garstig" und "gemein" zu Biden gewesen, genauso wie zu dem heutigen Supreme-Court-Richter Brett Kavanaugh bei dessen Anhörung im Senat vor knapp zwei Jahren, als der sich unter anderem wegen Vorwürfen der versuchten Vergewaltigung rechtfertigen musste.
Richtig ist, dass Harris den konservativen Richter Kavanaugh damals gehörig unter Druck setzte. Den Abtreibungsgegner überrumpelte sie mit der Frage: "Können Sie sich ein Gesetz vorstellen, das der Regierung die Befugnis gibt, Entscheidungen über den männlichen Körper zu treffen?"
Wie wird der linke Parteiflügel auf sie reagieren?
Diese Auftritte machten Harris einer größeren Zahl von Amerikanern bekannt: Die Demokraten bejubelten ihr Vorgehen, aber in besonders konservativen Kreisen ist sie seitdem verhasst.
Die Angriffe aus dieser Ecke werden hart ausfallen. Dass Harris aus dem liberalen Kalifornien kommt, sich inzwischen auch (nach langem Widerstand) für die landesweite Liberalisierung von Marihuana ausspricht und in einem Radiointerview einmal zugab, selbst gekifft zu haben, wird ebenfalls eine Rolle spielen. Aber die Wahrheit ist auch, dass jede Kandidatin attackiert worden wäre, die Biden ausgewählt hätte - eine Parteilinke wie Warren wohl noch deutlich mehr.
Ob Harris sich wiederum dafür eignet, die Demokratische Partei hinter ihrem moderaten Kandidaten Biden zu einen, also den starken linken Flügel miteinzubeziehen und zu mobilisieren, wird sich erst noch zeigen. Im Umgang mit Kriminalität - angesichts der andauernden Proteste in mehreren US-Städten - setzte sie in ihrer Zeit als Bezirksstaatsanwältin von San Francisco (2004 bis 2010) und später als erste Generalstaatsanwältin Kaliforniens auf "law and order".
Lange Zeit sprach sie sich für die Todesstrafe aus. Auch warb sie für ein Gesetz, das bis zu zwölf Monate Gefängnisstrafe für Eltern von Schulschwänzern vorsah. Ihr Interesse an diesen Themen zeigt sie auch im Senat, wo sie Mitglied der Ausschüsse für Justiz und Geheimdienste ist. Ist sie den Linken progressiv genug?
Immerhin verkörpert sie Diversität und Weltoffenheit. Mit ihren erfolgreichen Eltern steht Harris für eine neue, selbstbewusste zweite Generation. Auf die Frage, wie sie sich selbst als Einwandererkind beschreiben würde, antwortete sie im Januar, sie sei "eine stolze Amerikanerin".
Juliane Schäuble