Ex-Botschafter Emerson über den US-Wahlkampf: „Es wird zu 100 Prozent um die Frage gehen, wie Trump die Krise bewältigt“
Der ehemalige US-Botschafter John Emerson über Joe Bidens Chancen, Präsident zu werden, seine mögliche Vizekandidatin - und warum Michelle Obama das eher nicht wird.
Herr Emerson, Sie waren in Ihrem Leben bereits mehrfach an Präsidentschaftswahlkämpfen der Demokraten beteiligt. Jetzt haben Sie sich für Joe Biden ausgesprochen. Warum ist er der Kandidat, der Donald Trump schlagen kann?
Die letzten zwei Monate haben alles verändert. Die Demokratische Partei steht auf einmal geschlossen hinter ihrem Kandidaten. Zwar muss Joe Biden noch ein bisschen daran arbeiten, die Begeisterung der jungen Wähler zu gewinnen, die Bernie Sanders oder Elizabeth Warren unterstützten. Aber zu solch einem frühen Zeitpunkt war die Partei in meiner Erinnerung noch nie derart vereint, wenn mehrere Kandidaten zur Auswahl standen.
Dazu kommt, dass es nicht mehr um einen Amtsinhaber geht, der mit einer starken Wirtschaft wiedergewählt werden will. Dieses Mal wird es zu 100 Prozent um die Frage gehen, wie Trump mit den beiden aktuellen Krisen umgegangen sein wird: der Coronavirus-Pandemie und der daraus folgenden Wirtschaftskrise.
Und dennoch: Biden ist ein älterer weißer Mann, der seit Jahrzehnten in der Politik ist. Wie lässt sich da argumentieren, dass dies ein Neustart ist?
Interessant ist doch, dass das, was einst als Belastung angesehen wurde – dass er schon zu lange dabei ist, zu viel Washington-Erfahrung hat und ein wenig aufregender Kandidat ist – auf einmal zu Bidens Vorteil wird. Die Menschen suchen jetzt nach Gelassenheit, Erfahrung, Trost und Empathie, Eigenschaften, die Trump nicht unbedingt zugeschrieben werden.
Seit Bill Clinton ist Biden wohl der empathischste Politiker überhaupt, einer, der wirklich eine Verbindung zu den Wählern herstellen kann.
Aber kann er die Jungen begeistern, wie es Bernie Sanders getan hat?
Viele von ihnen haben 2016 gelernt: Wahlen haben Konsequenzen. Dass Trump wieder antritt, ist eine große Motivation für demokratische Wähler. Auch für junge, denen das Thema Klimawandel, eine allgemeine Krankenversicherung oder eine bezahlbare Ausbildung am Herzen liegt. Wichtig ist aber auch, dass Leute wie Sanders und Warren ihren Anhängern verdeutlichen, warum diese Wahl wichtig ist – und das mit der nötigen Begeisterung.
Während Trump wieder mit dem Reisen begonnen hat, steckt Biden in Wilmington fest. Selbst wenn die Ausgangsbeschränkungen wieder aufgehoben sind, müsste er schon wegen seines Alters engen Kontakt zu Wählern meiden. Kann ein Wahlkampf von Zuhause aus erfolgreich sein?
Na ja, beide Kandidaten müssen vorsichtig sein. Biden ist ja nur knapp vier Jahre älter als Trump – und wahrscheinlich fitter. Aber klar: Das wird Auswirkungen auf den Wahlkampf haben. Trump braucht die großen Rallys mit 20.000 Leuten in eine Halle gequetscht – die wird es in den kommenden sechs Monaten eher nicht geben. Biden liebt es, mit Wählern in Kontakt zu kommen, ihre Hände zu schütteln und sich in einem Diner mit ihnen zu unterhalten. Auch das wird in diesem Wahlkampf viel seltener vorkommen.
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Wer profitiert eher?
Trump ist erstmal im Vorteil. Es gibt keine bessere Tribüne als das Weiße Haus. Hält Trump eine Rede, wird diese landesweit übertragen. Sendet er kontroverse Tweets, reden alle drüber. Außerdem haben seine Leute bereits seit vier Jahren in das Sammeln von Daten und den digitalen Wahlkampf investiert. Sie wissen ziemlich genau, wer ihre Wähler sind, wer in ihre Richtung tendiert. Sie konnten auch viel Geld einsammeln, während Biden noch den Vorwahlkampf bestreiten musste. Aber Biden holt beim Digitalen auf, und für ihn spricht, dass er bei Events im kleineren Rahmen sehr gut ankommt, hier wirken seine Stärken.
Wie sehr wird sich der finanzielle Vorsprung Trumps auszahlen?
Am Ende wird das nicht entscheidend sein. Ja, die Trump-Kampagne wird wohl mehr Geld zur Verfügung haben. Aber Biden wird genügend Möglichkeiten haben, um seine Botschaft zu verbreiten. Der April und auch der Mai bisher waren aus finanzieller Sicht gute Monate für ihn. Zudem sind beide Kandidaten so bekannt, mit all ihren Vor- und Nachteilen, dass es nicht ausschlaggebend sein wird, ob jemand viermal so viele TV-Spots des einen Kandidaten gesehen hat.
Bevor Sie sich für Biden aussprachen, haben Sie Kamala Harris unterstützt. Wäre sie die perfekte Vize-Kandidatin?
Kamala ist seit Jahren eine enge Freundin und unsere Senatorin. Dass ich sie unterstützt habe, war nicht gegen Biden gerichtet. Im Gegenteil: Ich habe immer gehofft, dass es ein Harris-Biden- oder eben ein Biden-Harris-Ticket geben wird. Er war immer meine zweite Wahl, wenn sie sich nicht durchsetzen würde.
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Wie stehen ihre Chancen?
Niemand weiß, wie Biden über die Vizepräsidentschaft denkt. Und wenn es jemand wirklich weiß, wird er es nicht der Presse sagen. Es gibt viele Berichte, wer es angeblich werden könnte: Glauben Sie die nicht. Was wir wissen, ist, welche Abwägungen Biden treffen muss.
Erklären Sie die uns bitte einmal.
Das Wichtigste: Vizepräsidentschaftskandidaten geben selten den Ausschlag bei einer Wahl. Sie sichern auch selten einen bestimmten Staat. Das letzte Mal war das 1960 der Fall, als Lyndon B. Johnson Texas für John F. Kennedy holte. Daher lautet die erste Regel für den Auswahlprozess: Richte keinen Schaden an. Man will niemanden auswählen, der von der Kampagne ablenkt oder gar Probleme schafft. Das spricht eher für diejenigen, die selbst schon einmal als Präsidentschaftsbewerber angetreten sind und von der Presse durchleuchtet wurden.
Da gäbe es Elizabeth Warren, Kamala Harris oder Amy Klobuchar.
Genau. Das einzige, was wir wirklich über Bidens Entscheidungsfindungsprozess wissen, ist, dass er eine Frau wählen wird. Es gibt aber auch andere Aspekte, die eventuell zu berücksichtigen sind. Zum Beispiel die Frage der Balance: So konnte ein außenpolitisch eher unerfahrener Kandidat wie George W. Bush diesbezügliche Schwächen mit seinem Vize Dick Cheney ausgleichen, genauso wie es Barack Obama mit Biden getan hat.
Oder ein Vize könnte den Kandidaten aus geografischer Sicht ergänzen. Außerdem kann ein Vize danach ausgewählt werden, ob er einer unspektakulären Kampagne neue Energie verleiht.
Wer käme Ihnen hier in den Sinn?
Im Fall von Biden könnte das Warren sein, auch wenn dann beide über 70 wären. Harris oder Stacey Abrams aus Georgia wären ebenfalls Kandidaten, die die demokratische Basis elektrisieren könnten. Es gibt aber noch einen dritten Aspekt, der ausschlaggebend sein könnte: dass der Vize die Botschaft der Kampagne verstärkt. Das hat Al Gore 1992 für Bill Clinton getan. Zwei weiße, moderate Südstaaten-Politiker Anfang 40: Clinton hätte kaum jemanden finden können, der ihm mehr ähnelte. Aber diese Wahl verstärkte die Botschaft vom Wandel enorm.
Das spräche für ...?
Zum Beispiel Klobuchar oder Gretchen Whitmer. Die Senatorin aus Minnesota und die Gouverneurin von Michigan sind beides Zentristen, die mit der anderen Seite ergebnisorientiert zusammenarbeiten wollen. Sie kommen gut bei der arbeitenden Mittelklasse im Mittleren Westen an – und genau da sind die Swing States, die Biden zurückgewinnen muss.
Er kann aber auch jemand wählen, der wirklich alle überraschen wird. Er war selbst Vizepräsident, weiß also genau, worauf es ankommt. Daher wird er wohl vor allem jemanden wählen, der ihm in den kommenden vier Jahren ein guter Partner sein wird. Der letzte Punkt: Angesicht seines Alters sollte die Vizekandidatin vom ersten Tag an fähig sein zu übernehmen.
Viele hoffen immer noch, dass sich Michelle Obama überzeugen lässt …
Ich bin fest davon überzeugt, dass sich Michelle Obama eher Stricknadeln in die Augen stechen wird, als für ein Amt zu kandidieren.
Ein anderes Thema, das in den vergangenen Wochen an Brisanz gewonnen hat, sind die Anschuldigungen von Bidens ehemaliger Mitarbeiterin Tara Reade, dass er sie in seiner Zeit als Senator sexuell missbraucht habe. Ist das alles nur eine Hexenjagd, oder können die Vorwürfe Biden doch noch gefährlich werden?
Es ist wichtig, solche Vorwürfe ernst zu nehmen. Aber man darf sie auch nicht automatisch glauben. Es ist nachzulesen, wie Tara Reade ihre Geschichte mehrfach abgeändert hat. Noch vor einem Jahr, als andere Frauen Biden vorwarfen, ihnen zu nahe gekommen zu sein, sagte sie lediglich, dass sie sich ebenfalls unwohl gefühlt habe – die jetzigen Anschuldigungen erwähnte sie nicht.
Das wäre eine gute Gelegenheit gewesen. Da stellt sich schon die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit. Aber vor allem: Für das Verhalten, das sie ihm jetzt vorwirft und das er klar zurückweist, gab es in Washington über all die Jahre nicht den kleinsten Hinweis. Es gibt viele Politiker, bei denen es Gerüchte gibt, nicht so bei Biden. Jeder, der so was tut, macht das doch nicht nur einmal. Am Ende läuft es auf die Frage hinaus, wem man glaubt.
Manche haben dennoch bereits spekuliert, ob nicht jemand wie New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo ein besserer Kandidat wäre, der sich gerade im Umgang mit der Corona-Krise Respekt erworben hat.
Das ist kompletter Unsinn. Solche Spekulationen zeigen nur einen Mangel an Wissen darüber, wie die Partei tickt und wie der Nominierungsprozess abläuft. Seien Sie sicher: Das wird nicht passieren.
Mit der Pandemie geht eine enorme Wirtschaftskrise einher, die auch den Staat belastet. Wie wird das Bidens Pläne für die US-Wirtschaft beeinflussen – kann er denn überhaupt irgendetwas anderes machen, als nach Einsparmöglichkeiten zu suchen?
Biden arbeitet derzeit an seinen ökonomischen Plänen. Natürlich wollen wir alle, dass die Wirtschaft schnell wieder anläuft, ohne dabei Menschen zu gefährden. Trumps Botschaft wird aller Voraussicht nach sein: Wir haben die stärkste Wirtschaft der Welt aufgebaut, dann hat uns eine Krise erwischt, die wir nicht kommen sahen – obwohl manche diese prophezeiten –, und jetzt bin ich der Beste, um diese Wirtschaft wiederaufzubauen.
Biden wird dagegen argumentieren, dass die Mittelschicht am härtesten betroffen ist, die von der Trump-Regierung ohnehin schon vernachlässigt wurde – und dass er die Wirtschaft wieder so aufbauen wird, wie Barack Obama und er dies nach der weltweiten Finanzkrise getan habe. Nur dieses Mal sollen die arbeitenden Menschen in Amerika ganz klar im Vordergrund stehen.
John B. Emerson ist seit 2018 Vorsitzender des American Council on Germany. Von 2013 bis 2017 war er Barack Obamas Botschafter in Berlin, nachdem er im Wahlkampf dessen wichtigster Spendensammler gewesen war. Der promovierte Jurist und Wirtschaftsanwalt hatte vor Obama schon Bill Clinton in Handelsfragen beraten. Mit seiner Frau Kimberly lebt er in Los Angeles, bezeichnet Berlin aber als zweite Heimat. Die beiden haben drei Töchter.