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Joe Biden, ehemaliger US-Vizepräsident und Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten, wehrt sich gegen Missbrauchsvorwürfe.
© Paul Sancya/AP/dpa

Missbrauchsvorwürfe im US-Wahlkampf: Wie gefährlich werden Joe Biden die Anschuldigungen von Tara Reade?

Eine einstige Mitarbeiterin beschuldigt Joe Biden eines sexuellen Übergriffs. Der weist das zurück – aber der Vorwurf belastet seinen Präsidentschaftswahlkampf.

Die größte Gefahr droht Joe Biden nicht von der Republikanischen Partei. Die größte Gefahr droht dem ehemaligen Vizepräsidenten und designierten Präsidentschaftskandidaten aus den eigenen Reihen. Nachdem der 77-Jährige wochenlang zu den Vorwürfen eines sexuellen Übergriffs vor 27 Jahren geschwiegen hatte, haben seine Stellungnahmen vom vergangenen Freitag offensichtlich wenig Druck von ihm genommen.

Zwar wies er die Anschuldigungen einer früheren Mitarbeiterin aus seiner Zeit als US-Senator vehement zurück. "Sie sind nicht wahr. Das ist nie passiert", erklärte er. Die Diskussion, ob Biden der richtige Kandidat ist, um US-Präsident Donald Trump im November herauszufordern, schwillt dennoch weiter an. Diese Debatte wird auch vom linken Flügel der Demokratischen Partei befeuert - besonders von enttäuschten Anhängern des ausgeschiedenen Präsidentschaftsbewerbers Bernie Sanders.

Bernie Sanders' Ex-Wahlkampfchefin fordert den Rückzug von Joe Biden

So twitterte Sanders' Ex-Wahlkampfchefin Claire Sandberg am Dienstag der vergangenen Woche: Es sei moralisch schlicht nicht zu rechtfertigen, dass Biden weiterhin als Kandidat gehandelt werde. "Aus Respekt vor den Opfern und zum Wohle des Landes sollte er sich aus dem Rennen zurückziehen." Biden soll bei einem Parteitag Mitte August offiziell zum Kandidaten der Partei gekürt werden.

"Demokraten, es wird Zeit, über einen Plan B nachzudenken" - einen, der Biden nicht einschließe, forderte nun die Redakteurin Elizabeth Bruenig auf der Meinungsseite der "New York Times". Bruenig hatte das Ende von Sanders' Kampagne als "Tragödie" bezeichnet, denn der politisch linksstehende Senator aus Vermont habe "in allem recht gehabt".

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Das Editorial Board der einflussreichen Zeitung, das sich aus Meinungsredakteuren zusammensetzt, hatte nach Bidens Äußerungen am Freitag gefordert, dass die Vorwürfe untersucht werden. Immerhin trete Joe Biden für das höchste Staatsamt an. Wie genau eine solche Untersuchung aussehen könnte, ist offen. Dass sie Bidens Wahlkampf massiv belasten würde, scheint aber klar zu sein.

Angriff ist die beste Verteidigung. Nach diesem Motto agiert US-Präsident Donald Trump. So riet er jetzt auch dem unter Druck geratenen Joe Biden zu "kämpfen".
Angriff ist die beste Verteidigung. Nach diesem Motto agiert US-Präsident Donald Trump. So riet er jetzt auch dem unter Druck geratenen Joe Biden zu "kämpfen".
© dpa/Pablo Martinez Monsivais

Donald Trump ist moralisch angreifbar - eigentlich

Es ist vertrackt: Da haben die Demokraten mit Donald Trump einen Amtsinhaber, den auf moralischer Ebene zu schlagen eigentlich allzu leicht sein sollte. Unvergessen seine "Grab them by the pussy"-Äußerungen im Wahlkampf 2016: Auf Tonbandaufnahmen war zu hören, wie er erklärte, aufgrund seiner Berühmtheit Frauen überall anfassen zu können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.

Offenbar hatte er damit recht: Trotz dieser infamen Äußerungen und obwohl diverse Frauen ihm sexuelle Belästigung bis hin zu Vergewaltigung vorgeworfen haben, wurde Trump gewählt.

Zu den Vorwürfen gegen Biden sagte der Präsident dann am vergangenen Donnerstag: "Es könnten falsche Anschuldigungen sein." So etwas habe er selbst bereits erlebt. Er empfahl Biden, gegen die Anschuldigungen zu "kämpfen". Gleichzeitig bezeichnete der Präsident Reade aber als "sehr glaubwürdig". Alles nicht gerade hilfreich für Biden im Wahlkampf.

Die Vorwürfe beziehen sich auf das Jahr 1993

Tara Read wirft Joe Biden vor, sie 1993 in einem Senatsgebäude gegen eine Wand gedrückt, unter ihren Rock gegriffen zu haben und dann mit seinen Fingern in sie eingedrungen zu sein. Biden bestreitet das kategorisch.

Bei seiner schriftlichen Stellungnahme und im darauffolgenden Interview des Senders MSNBC erklärte er: Wenn Frauen solche Anschuldigungen äußerten, sollten diese gehört und genau untersucht werden. "Aber nur die Wahrheit zählt." In diesem Fall seien die Behauptungen schlicht unwahr. Es gebe darin viele Ungereimtheiten, denen man nachgehen müsse.

Eine schwierige Situation - nicht nur für Biden, sondern für die Partei insgesamt, die sich in der #Metoo-Debatte klar auf die Seite der Frauen gestellt hat, die teilweise Jahrzehnte zurückliegende sexuelle Übergriffe thematisierten. Tun die Demokraten Reades Anschuldigungen nun allzu schnell als unglaubwürdig ab, riskieren sie den Vorwurf der Heuchelei und Doppelmoral.

Als es um Vorwürfe gegen den damaligen US-Supreme-Court-Kandidaten Brett Kavanaugh ging, sagte Biden: "Wagt sich eine Frau ins grelle Licht der nationalen Öffentlichkeit, muss man zunächst davon ausgehen, dass zumindest der Kern ihrer Äußerungen wahr ist". Das hält man ihm jetzt gerne vor.
Als es um Vorwürfe gegen den damaligen US-Supreme-Court-Kandidaten Brett Kavanaugh ging, sagte Biden: "Wagt sich eine Frau ins grelle Licht der nationalen Öffentlichkeit, muss man zunächst davon ausgehen, dass zumindest der Kern ihrer Äußerungen wahr ist". Das hält man ihm jetzt gerne vor.
© AFP/Saul Loeb

Konservative erinnern an den Umgang mit Brett Kavanaugh

Genüsslich erinnern Konservative an das harte Vorgehen gegen Brett Kavanaugh während dessen Anhörungen zur Ernennung als Oberster Richter. 2018 beschuldigte Christine Blasey Ford den Richterkandidaten von Präsident Trump der versuchten Vergewaltigung. Die Demokraten drängten darauf, Blasey Ford im Kongress anzuhören.

Biden selbst erklärte damals: "Wagt sich eine Frau ins grelle Licht der nationalen Öffentlichkeit, muss man zunächst davon ausgehen, dass zumindest der Kern ihrer Äußerungen wahr ist, auch wenn sie Fakten vergisst" oder sich Teile der Geschichten änderten. Dieser Messlatte zufolge sei auch der Kern von Reades Vorwürfen wahr, heißt es nun.

Selbst gesetzte Standards

In der "New York Times" brachte die Kolumnistin Maureen Dowd das Dilemma auf den Punkt: "Demokraten setzen immer Standards, die dann auf sie zurückfallen und sie beißen. Sie haben sich selbst ihre Grube geschaufelt." Dowd kritisiert, dass die #Metoo-Debatte manchmal auch über das Ziel hinausgeschossen sei, etwa, wenn gesagt worden sei, dass man jeder Frau per se glauben müsse.

Doch das hilft Biden jetzt auch nicht weiter. Mitten im Wahlkampf darauf zu vertrauen, dass nun kühlen Kopfes abgewogen wird, wäre leichtsinnig.

Umso wichtiger sind für ihn da Wortmeldungen von Frauen wie der Gouverneurin von Michigan. Gretchen Whitmer sagte dem Sender CNN am Sonntag: "Wir müssen uns die Geschichte von jeder Frau anhören" und sie danach kritisch prüfen. Im Falle von Reades Anschuldigungen habe sie dies getan, sie sei nicht überzeugt von deren Darstellung.

Unterstützung für Biden von Demokratinnen

Reades Vorwürfe stimmten "nicht mit dem Joe Biden überein, den ich kenne", sagte Whitmer. "Ja, ich glaube Joe, und ich unterstütze Joe Biden." Die 48-jährige Whitmer war nach eigener Aussage als Studentin selbst Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden. Auch Stacey Abrams, die ehemalige Gegenkandidatin von Georgias Gouverneur Brian Kemp, erklärte, sie glaube Biden.

Gleichzeitig erregen solche Äußerungen von Frauen, denen persönliche Ambitionen unterstellt werden, aber auch Unmut bei parteiinternen Kritikern von Biden. Whitmer und Abrams werden beide als mögliche Vizepräsidentschaftskandidatin gehandelt. Biden hat erklärt, auf jeden Fall eine Frau hierfür auszuwählen.

Reade hatte ihre Vorwürfe vor mehreren Wochen in einem Podcast publik gemacht. US-Medien, darunter die "Washington Post", die "New York Times" und die Nachrichtenagentur AP, starteten daraufhin Recherchen, sprachen mit Reade, damaligen Weggefährten der Frau und früheren Mitarbeitern von Biden.

Eindeutige Belege für ihre Darstellung fanden sie nicht. Ihre Schilderungen werfen einige Fragen auf, auch hat sie ihre Anschuldigungen mehrfach abgewandelt. Doch gab es zuletzt weitere Zeugen, die behaupten, Reade habe ihnen zeitnah davon erzählt.

Widersprüchliche Aussagen von Tara Reade

Reade hatte sich demnach mehreren Personen anvertraut, unter anderem ihrer Mutter, die inzwischen gestorben ist. Ihr Bruder, dem die heute 56-Jährige nach eigenen Angaben damals von dem Vorfall erzählt hatte, bestätigte die Schilderung der "Washington Post" zufolge nicht auf Anhieb. Eine andere Person aus ihrem Umfeld habe erklärt, Reade habe damals von dem Zwischenfall berichtet - diese Person wollte jedoch anonym bleiben.

Mehrere Angestellte aus Bidens Senatsbüro wiederum, denen sich die Frau ebenfalls anvertraut haben will, wiesen ihre Schilderung ausdrücklich zurück. Biden verwies auf die Aussagen seiner Ex-Mitarbeiter: Dutzende seien befragt worden, und nicht einer habe die Angaben bestätigt.

Reade hatte nach eigenen Angaben damals auch eine Beschwerde wegen des Vorfalls eingereicht. Sie verlangt nun von Biden, archivierte Unterlagen aus seiner Senatszeit offenzulegen. Biden hielt dagegen, diese Dokumente aus seinen Senatsjahren enthielten keine Personalakten. "Ich bin sicher, dass da nichts ist", sagte er. "Ich habe nichts zu verbergen."

Verwirrung um archivierte Unterlagen

Falls die Frau tatsächlich eine offizielle Beschwerde bei einer Senatsstelle eingereicht habe, könne diese nur im Nationalarchiv zu finden sein. Er wisse aber nichts davon, dass jemals eine solche Beschwerde gegen ihn eingegangen sei. Warum Reade die Vorwürfe vorbringe, verstehe er nicht, sagte Biden, versprach aber: "Ich werde sie nicht angreifen."

Dass der 77-Jährige sich dagegen sperrt, sein persönliches Archiv aus seiner 36-jährigen Zeit als Senator freizugeben, das er 2012 der Universität Delaware schenkte, stößt allerdings bei manchen auf Unverständnis. Biden argumentiert damit, dass es dabei um Material handele, das im Wahlkampf gegen ihn verwendet werden könne. Allerdings ist immer noch unklar, wo welche Unterlagen zu finden wären - und Bidens TV-Auftritt am Freitag trug da eher noch zur Verwirrung bei.

MSNBC-Moderatorin Mika Brzezinski drängte ihn dabei, die Universität aufzufordern, seine Unterlagen freizugeben, für den Falls, dass Reades Beschwerde darin zu finden sei. Biden lehnte mit der Begründung ab, die Uni verfüge über keine Dokumente, die mit Mitarbeitern zu tun hätten.

Stattdessen gehe es dabei um vertrauliche Aufzeichnungen von privaten Gesprächen, die er mit hochrangigen Politikern, darunter auch Staats- und Regierungschefs, gehabt habe. Diese Unterlagen seien nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.

Forderung nach Veröffentlichung

Auch wenn er mit dieser Argumentation theoretisch recht hat: Der politische Gegner nutzte sie umgehend gegen ihn. So erklärte Emma Vaughn, Pressesprecherin der Republikanischen Partei in Florida, anschließend: "Das Transparenteste, was Joe Biden heute Morgen gemacht hat, war es zuzugeben, dass er Unterlagen versteckt, damit sie nicht gegen ihn verwandt werden können."

Und auch das Editorial Board der "New York Times" forderte, die Universitäts-Unterlagen vorzeitig freizugeben, die eigentlich bis zum Ende von Bidens politischer Karriere versiegelt bleiben. Das sei zwar ein übliches Verfahren, aber in dieser Lage nicht angemessen.

"Dies wäre zugegebenermaßen ein riesiger Aufwand", schreibt die Zeitung. Biden habe fast 2000 Kisten und mehr als 400 Gigabytes an elektronischen Unterlagen übergeben, wovon kaum etwas bisher katalogisiert sei. Aber es gehe letztlich um die Frage, ob Biden als Präsident geeignet sei - und der Kandidat selbst habe versprochen, Moral und Anstand im Amt des Präsidenten wieder herzustellen.

Neue Zeugen tauchen auf

Dass die Affäre Bidens Wahlkampf, den er derzeit wegen der Coronavirus-Krise digital aus dem Keller seines Hauses in Wilmington/Delaware führen muss, weiter belasten wird, wurde erneut am Montag klar. Das Portal "Business Insider" berichtete über Äußerungen einer damaligen Nachbarin Reades und einer früheren Kollegin aus einem anderen Senatsbüro, denen Reade in den 1990er Jahren ebenfalls von dem Vorfall erzählt haben will.

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Zwar hatte Reade diese beiden Zeugen in früheren Interviews nicht erwähnt. Genauso wenig thematisierte sie den nun vorgebrachten sexuellen Übergriff, als sie Biden vor einem Jahren wie sieben andere Frauen unangemessenes Verhalten vorwarf. Zur Begründung sagte sie, sie habe da noch nicht den Mut gehabt, öffentlich über die Attacke zu sprechen.

2019 gab es Vorwürfe gegen Biden - aber nicht wegen sexueller Gewalt

Im April 2019, kurz vor der Verkündung seiner Präsidentschaftsbewerbung, hatten mehrere Frauen öffentlich beklagt, Biden sei ihnen in der Vergangenheit gegen ihren Willen zu nah gekommen - etwa durch ungebetene Umarmungen, indem er ihnen die Schultern massiert oder ihren Hinterkopf geküsst habe. Aber es ging bei diesen Vorwürfen nie um sexuelle Gewalt.

Der Demokrat bestritt damals zunächst, sich unangemessen verhalten zu haben. Angesichts wachsenden öffentlichen Drucks gab er sich später aber einsichtig und versprach: "Ich werde künftig aufmerksamer und respektvoller sein mit dem persönlichen Raum von Menschen." Die Zeiten hätten sich geändert.

Nun stellt sich wieder die Frage: Wie gefährlich werden Joe Biden die neuen Anschuldigungen - und geht er richtig damit um?

Fest steht: Angriffe auf Trump mit Blick auf dessen Verhalten gegenüber Frauen wird er in dieser Phase nur schwer fahren können. Und, vielleicht noch gravierender: Er muss sich auf einmal wieder um die Geschlossenheit seiner eigenen Partei sorgen.

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