EU-Ratspräsident Tusk zu Flüchtlingskrise: "Das Dublin-System funktioniert nicht"
"Wir haben die Kontrolle über die EU-Außengrenzen verloren", sagt EU-Ratspräsident Tusk im Interview. Er fordert: "Wir müssen unser Denken verändern."
Präsident Tusk, im EU-System vertreten Sie die nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten. Werden die ihrer Verantwortung in der Flüchtlingskrise gerecht?
Diese Krise ist die schwerste überhaupt für die EU, viel schwieriger als die Euro-Krise. Mehr als 10.000 Migranten treffen jeden Tag ein. Europa ist von Mächten umgeben, die andere politische Systeme haben und andere Ziele verfolgen. Darunter sind auch gescheiterte Staaten. Zum ersten Mal wird die Außengrenze wirklich getestet.
In einer außerordentlichen Lage wünschen sich die Bürger außerordentliche Anstrengungen zur Lösung. Welche Note geben Sie den EU-Staaten?
Die Staaten haben noch kein gemeinsames Verständnis, was das europäische Interesse hier ist. Manche sehen sich als reine Transitländer für die Migranten. Für die Staaten an den Außengrenzen ist es eine Überforderung, die Regeln des Dublin-Systems durchzusetzen.
… wonach der erste EU-Staat, den ein Migrant erreicht, ihn registrieren und sein Aufnahmegesuch bearbeiten muss.
Wir befinden uns jetzt zwischen dem Dublin-System, das nicht funktioniert, zu dem wir aber auch noch keine Alternative haben, und einem neuen Recht für die Aufnahme, auf das wir uns erst einigen müssen. Für Deutschland und Schweden, wohin fast alle wollen, ist jetzt Solidarität das Wichtigste. Wir haben die Kontrolle über die Außengrenzen verloren. Uns fehlt die Infrastruktur, zum Beispiel die Hotspots. Deshalb müssen wir unsere Denkansätze verändern. Wir müssen die Kontrolle über unsere Außengrenzen zurückgewinnen.
Über eine Million Menschen treffen in diesem Jahr ein. Die EU-Staaten haben eine Verteilung von 160.000 vereinbart. Aber nur gut hundert sind tatsächlich umgesiedelt worden. Warum geht das nicht schneller?
Keine Regierung ist bereit, die Migranten dazu zu zwingen. Das ist das Haupthindernis. Und die Migranten machen nicht freiwillig mit. Sie haben Deutschland als Ziel gewählt. Es klingt wie ein Scherz, aber Flüchtlinge haben sich geweigert, nach Luxemburg zu gehen.
… den EU-Staat mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen.
Ja, sie finden das unzumutbar. Ob wir nun über die Verteilung der Migranten auf die EU-Staaten oder die Außengrenzen reden, am Ende landen wir immer bei der Frage: Wer ist bereit, unsere Vereinbarungen und Regeln durchzusetzen?
Die EU muss bereit sein, einen Migranten dazu zu bringen, auch Polen oder Tschechien als Aufnahmeland zu akzeptieren?
Ja, zum Beispiel. Die EU hat aber keine eigenen Polizisten oder Grenzwächter, die die vereinbarte Ordnung durchsetzen. Das müssen die Mitgliedstaaten tun. Als wir zum ersten Mal die Idee eines europäischen Grenzschutzes diskutierten, waren viele Regierungen skeptisch. Der Schutz der Grenzen sei eine nationale Aufgabe, hieß es. Handeln wollen sie dennoch nicht. Deshalb sage ich: Wir müssen unser Denken verändern. Solange wir nicht die Kontrolle über die Außengrenzen zurückgewinnen, werden weder Verteilungsschlüssel noch Umsiedlung funktionieren.
Bis zu welchem Zeitpunkt sollen die ersten 50.000 Migranten umgesiedelt sein?
Der Europäische Rat hatte beschlossen, dass die Hotspots Ende November betriebsbereit sind. Es geht also nicht mehr um Absichten, sondern um die Umsetzung.
Warum Tusk die Rolle Deutschlands für entscheidend hält
Sie haben ein gutes Verhältnis zu Kanzlerin Merkel. Ist die Kontrolle der Außengrenzen ihr gemeinsames Ziel?
Dies ist ein Schlüsselmoment. Deutschland verdient Solidarität. Sein Ansatz der Offenheit für Schutzsuchende ist zutiefst europäisch. Stellen wir uns mal vor, Deutschland würde umgekehrt reagieren, wäre abweisend, hart, rücksichtslos - was wäre dann die Reaktion der anderen Europäer? Selbstverständlich ziehen alle ein mitfühlendes Deutschland vor. Deutschland hat heute eine Art Wächterrolle, dass die liberale Demokratie in Europa die Oberhand behält.
Sind Sie mit der Kanzlerin einig, dass die EU die Kontrolle über ihre Außengrenzen zurückgewinnen und die Verteilung durchsetzen muss?
Ja. Deutschland fühlt sich natürlich nicht allein für die Außengrenzen verantwortlich, es hat ja keine. Deshalb ist es mehr an der Verteilung interessiert. Aber weil Deutschland so viel Einfluss in Europa hat, wird kein Partnerland den Schutz der Außengrenze forcieren, ehe Deutschland signalisiert, dass es das unterstützt.
Deutschland ist der Schlüssel für diesen Strategiewechsel?
Ja. Kein Land wird die Politik ändern, wenn Deutschland diese Erwartung nicht ausspricht. Nehmen Sie den Gipfel mit den Regierungschefs der Westbalkanstaaten. Die baten: Sagt uns, was ihr von uns erwartet. Sollen wir die Flüchtlinge stoppen? Sollen wir sie durchlassen? Wenn wir einen offenen Umgang mit Flüchtlingen aufrechterhalten wollen, müssen wir die Kontrolle über die Außengrenzen zurückgewinnen. Sonst können wir nicht auf Augenhöhe mit der Türkei verhandeln. Ohne Verständigung mit der Türkei gibt es keine Lösung. Wenn wir aber keine Macht über unsere Außengrenze haben, sind wir zu schwach, um mit der Türkei offen zu verhandeln. Um etwas zu erreichen, muss man glaubwürdig sagen können: Wenn ihr nicht mitmacht, machen wir es ohne euch. Sonst ist man erpressbar.
Manche EU-Partner sagen: Deutschland ist schuld an der Zuspitzung. Es hat das Signal gegeben, dass alle hierher kommen können.
Heute kann man das leicht behaupten: Die Willkommens-Politik habe das ausgelöst. Ich kann mir gut vorstellen, dass alle sich heute etwas vorsichtiger äußern würden, Angela Merkel eingeschlossen. Aber Deutschland war nicht der Auslöser der Dynamik. Es gab viele Auslöser. Die Flüchtlinge wollten auch glauben, dass sie in Deutschland willkommen sind.
Im Rückblick war es vielleicht ein falsches Signal?
Kein falsches Signal. Die Frage ist vielmehr: Gibt es eine Obergrenze? Was sagen internationale Vereinbarungen wie die Genfer Flüchtlingskonvention? Deshalb würden viele heute vorsichtiger formulieren. Es geht nicht nur um Syrer. Von den bis zu 12.000 Migranten pro Tag sind 4.000 bis 5.000 Syrer. Die anderen kommen aus Afghanistan, Pakistan und Ägypten. Aus Ägypten kommt die neue Dynamik.
Die EU rechnet bis Ende des kommenden Jahres mit weiteren drei Millionen Flüchtlingen. Sollte man eine Obergrenze setzen?
Man kann über Obergrenzen diskutieren. Aber das führt zu nichts, solange uns die Mittel zur Umsetzung einer neuen Migrationspolitik fehlen, und vor allem eine wirksame Kontrolle der EU-Außengrenzen. Das klingt vielleicht allmählich wie eine fixe Idee von mir. Um nicht missverstanden zu werden: Mein Ziel ist nicht, die EU-Außengrenzen zu schließen. Es geht nicht um Mauern und Zäune. Wir müssen die Doktrin der völligen Offenheit revidieren. Es geht um einen Mittelweg, der uns in die Lage versetzt, die Situation wieder in den Griff zu bekommen.
Was schlagen Sie konkret vor?
Zum einen müssen wir vor dem Winter eine solide Infrastruktur von Aufnahmeplätzen für Flüchtlinge schaffen – nicht innerhalb, sondern außerhalb des Schengen-Raums. Zum anderen brauchen wir einen verstärkten europäischen Grenzschutz, der den nationalen Grenzschutz an den Außengrenzen unterstützt. Mir schweben pragmatische Lösungen vor, die sich schnell umsetzen lassen. Das Problem ist nur: Bisher hat kein einziger Mitgliedstaat an den EU-Außengrenzen in Brüssel um Hilfe bei der Grenzsicherung gebeten. Ich habe sie gefragt, was die EU beisteuern kann, und keine Antwort bekommen. Das zeigt: Diese Staaten erkennen noch nicht einmal an, dass es ein Problem bei der Grenzsicherung gibt - weil es vielleicht ein Eingeständnis unserer gemeinsamen Schwäche wäre.
Was folgt daraus?
Wir können zwar in Brüssel Vorbereitungen treffen und EU-eigene Instrumente für den Grenzschutz auf dem Reißbrett entwerfen. Ob sie funktionieren, hängt aber von ihrer Akzeptanz in den Mitgliedstaaten ab. Zunächst einmal müssen die EU-Mitgliedstaaten an den Außengrenzen selbst größere Verantwortung übernehmen.
Wie soll das System der gemeinsamen europäischen Grenzsicherung aussehen?
Wir sollten vor dem Frühjahr ein praktikables System einführen. Natürlich lassen sich die griechischen Inseln in der Ägäis, über die die Flüchtlinge derzeit nach Europa gelangen, nicht mit einer Mauer abriegeln. Aber überall dort, wo die EU mit Partnern in Drittstaaten kooperieren kann, muss es zu einer verstärkten Zusammenarbeit bei der Grenzsicherung kommen. Das betrifft die Türkei, aber auch die Staaten des westlichen Balkans. Völlig offene Außengrenzen sind für Europa heute nicht mehr tragbar. Eine komplette Abschottung geht auch nicht. Es geht um einen pragmatischen Mittelweg.
EU-Ratschef warnt vor einem Zusammenbruch des Schengen-Systems
Haben Sie Sorge, dass das Schengen-System zusammenbricht, das den Verzicht auf die Grenzkontrollen vorsieht?
Absolut. Ich kann Länder wie Deutschland verstehen, die vorübergehend wieder Grenzkontrollen eingeführt haben. Deutschland fühlt sich in der Flüchtlingskrise allein gelassen. Deshalb appelliere ich an die EU-Mitglieder: Zeigt Solidarität mit Deutschland. Sonst wird Deutschland Entscheidungen treffen, die gefährliche Folgen haben können. Wenn Deutschland die Grenze zu Österreich schließt, hat das einen Domino-Effekt zur Folge.
Das Schengen-System ist in Gefahr, gleichzeitig droht ein „Brexit“, ein Austritt Großbritanniens aus der EU. Haben Sie Angst, dass die EU auseinanderbricht?
Das Risiko eines „Brexit“ ist real. Auch das hat mit der Flüchtlingskrise zu tun. Diese Krise betrifft Großbritannien nicht unmittelbar, aber sie befeuert die Argumente der EU-Skeptiker auf der Insel. Sie profitieren von einem Klima der Unsicherheit. Auch wenn die Ängste vor den Flüchtlingen übertrieben sind, gelingt es Extremisten und Rechtspopulisten, die Dämonen der Vergangenheit wiederzubeleben. Das heutige Deutschland ist immun dagegen - im Gegensatz zu anderen Ländern.
Wie nehmen Sie den zunehmenden Rechtspopulismus in Europa wahr?
Die größte Gefahr besteht nach meiner Ansicht darin, dass sich inzwischen auch bei Politikern und Experten, die eigentlich in der politischen Mitte zu Hause sind, die Tonlage ändert – in Richtung Populismus. Mit besonderem Interesse verfolge ich die Debatte in Schweden, das eigentlich ein sehr offenes und tolerantes Land ist. Am Beispiel Schwedens zeigt sich, dass die momentan geplante Umverteilung der Flüchtlinge in der EU noch keine Entlastung bringt– man muss die Flüchtlingszahlen insgesamt reduzieren.
Am Mittwoch beginnt der EU-Afrika-Gipfel auf Malta. Von den EU-Mitgliedstaaten wird erwartet, dass sie 1,8 Milliarden Euro zum Fonds für Afrika beisteuern. Hinter diesen Erwartungen sind sie bislang zurückgeblieben. Sind Sie enttäuscht?
Es ist immer leichter, eine Absichtserklärung abzugeben, als diese auch einzuhalten. Der Gipfel wird eine gute Gelegenheit sein, die Versprechen aus der Vergangenheit einzulösen. Unsere afrikanischen Partner erwarten von uns Respekt. Ich kann verstehen, dass sie mit uns nicht nur über die Flüchtlingskrise sprechen wollen, sondern auch über Entwicklungshilfe. Ich habe nichts gegen eine derartige Verknüpfung im Sinne der Realpolitik. Aber sie muss auch zu Ergebnissen führen.
Kanzlerin Merkel hat angeregt, dass Deutschland für junge Afrikaner Wege zur legalen Einwanderung öffnen soll – vor allem mit Blick auf Berufe, die in Deutschland Mangelberufe sind. Sollten die übrigen EU-Länder diesen Ansatz übernehmen?
Ich unterstütze diesen Ansatz. Ich sehe ihn als Teil eines breiter angelegten Konzepts, das auf eine Begrenzung der illegalen Einwanderung abzielt. Wenn man die Einwanderung steuern will, dann braucht man auch die entsprechenden Instrumente. Eine Steuerung der legalen Einwanderung jenseits der Asylverfahren kann am Ende dazu beitragen, dass die Zahl der illegalen Einwanderer zurückgeht.
Mit Donald Tusk sprachen Christoph von Marschall und Albrecht Meier.