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Die Flüchtlingspolitik der Koalition: Alles kreist um Angela Merkel

In der Flüchtlingspolitik erlebt die Regierungskoalition gerade Chaostage. Es geht auch darum, die Kanzlerin nicht nachhaltig zu beschädigen. Wer steht für was? Ein Szenenbild mit Hauptdarstellern.

Ende letzter Woche rieb sich das politische Berlin die Augen: Kann das wahr sein, dass die Union die SPD über den Tisch gezogen hat? Gerade hatte die Koalition sich darauf verständigt, dass Flüchtlinge mit sogenanntem „subsidiären Schutz“ ihre Familien in den nächsten zwei Jahren nicht nachziehen lassen dürfen. Da gab Innenminister Thomas de Maizière bekannt, dass dieser Schutzstatus ab sofort auch für Syrer gelten soll – und damit für eine viel größere Gruppe als bisher. Am Abend steigerte sich die Verblüffung zum Staunen: Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) nötigte den Parteifreund de Maizière zum Widerruf. Seitdem übersetzen nicht nur Oppositionspolitiker das „C“ in CDU als „Chaos“. Doch das ist noch der mildeste Verdacht. Ist ein Machtkampf um die Flüchtlingspolitik in Gang?

THOMAS DE MAIZIÈRE (CDU), BUNDESMINISTER DES INNEREN

Auf die spannendste Frage an de Maizière gibt keiner eine Antwort: Hat der Innenminister gewusst, was für Sprengstoff darin lag, als sein Haus Anfang letzter Woche das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) anwies, bei Syrern künftig wieder genau hinzuschauen? Darum geht es im juristischen Kern. Denn das Flüchtlingsrecht unterscheidet zwischen Menschen, die direkt Opfer von Gewalt in einem Krieg geworden sind, und solchen, die um Leib und Leben fürchten. Die einen gelten als Flüchtlinge, die anderen sind nur geduldet. Seit August ist die Unterscheidung aufgehoben, um das überforderte Bamf zu entlasten. Syrer erhalten seither den vollen Flüchtlingsstatus (siehe Seite 4).

Dass de Maizière zum alten Recht zurückkehrte, ohne dass Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) und Kanzlerin Angela Merkel davon wussten, wird inzwischen als „Kommunikationspanne“ bezeichnet. Das klingt harmlos, lässt den Innenminister nur leider als politischen Blindgänger dastehen. Denn schon am vorigen Sonntag, kurz vor der neuen Weisung an das Bamf, hatten sich Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer unter anderen auf die Forderung geeinigt, den Familiennachzug für subsidiär Geduldete auszusetzen.

Damit war aus der Verwaltungsfrage ein Politikum geworden. Im Koalitionsbeschluss mit der SPD vom Donnerstag fand sich der Punkt wieder – allerdings in der Annahme, dass davon vorerst kaum jemand betroffen sein würde.

De Maizières Weisung machte aus der Ausnahmeregel für wenige den Regelfall für viele. Dass er sie am Tag nach der Koalitionseinigung öffentlich verkündete, machte aus der Weisung eine Provokation der SPD. Der Minister musste den Rückzug antreten und verkünden, man müsse darüber wohl noch mal reden.

Doch übers Wochenende fand er in der Sache in CDU und CSU immer mehr und immer wichtigere Unterstützer – nicht zuletzt in Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Seit Montag steht der scheinbare Verlierer plötzlich eher als Gewinner da. Mit Auftrag des CDU-Präsidiums soll er jetzt mit den Kollegen Länder-Innenministern darüber reden, wie man künftig mit Syrern umgeht. Das Ergebnis ist absehbar: Wenn es um die Begrenzung des Zustroms geht, sind sich die Innen-Ressortchefs unabhängig vom Parteibuch meist rasch einig.

Die interessanteste Frage bleibt unbeantwortet: Hatte de Maizière übersehen, dass er mit Polit-Sprengstoff hantierte? Glaubte er, Altmaier sei im Bilde? Oder hat er, der stets bis zur Selbstverleugnung Loyale, die andern auflaufen lassen? De Maizière gehört schließlich zu denen, die Grenzen für den Flüchtlingsstrom schon seit Langem für dringlich halten.

PETER ALTMAIER (CDU), KANZLERAMTSCHEF UND FLÜCHTLINGSKOORDINATOR

Altmaier spielt in diesem Stück den Part des getriebenen Antreibers. Er musste den Parteifreund – und Amtsvorgänger – de Maizière zum öffentlichen Rückzug nötigen, weil SPD-Chef Sigmar Gabriel ihm angedroht hatte, den kompletten Koalitionskompromiss zu widerrufen.

Altmaier versicherte danach, er „persönlich“ habe de Maizières Weisung bis dahin nicht gekannt.

Das „persönlich“ hat nun freilich manche Parteifreunde aufhorchen lassen. Wusste also doch jemand davon? Lag die Kommunikationspanne in Wahrheit im Kanzleramt? Manchem, dem Altmaier zu sehr im Willkommenston spricht, käme so ein Koordinationsfehler ganz recht.

HORST SEEHOFER, CSU-VORSITZENDER

Der CSU-Chef kam letzte Woche nach allgemeiner Lesart als zerzauster Löwe nach Bayern zurück: Merkel nicht zum Abschwören vom „Wir schaffen das“ gezwungen, Transitzonen nur in Light-Version – wenig Beute für so viel Gebrüll.

Da liegt es nahe zu versuchen, die Beute nachträglich anzufetten. Zumal sich die drei Koalitionsparteichefs bei ihrem Treffen im Kanzleramt einig gewesen waren, dass der Beschluss zum Familiennachzug auf Zuwachs zielte. Nur wurde dort der eigene Beschluss offenbar so gedeutet, dass man erst noch mal reden müsse, bevor der „subsidiäre“ Status ausgeweitet wird – etwa auf Syrer. Seehofer jedenfalls gehörte zu den Ersten, die sich hinter de Maizière stellten.

WOLFGANG SCHÄUBLE (CDU), BUNDESMINISTER DER FINANZEN

Schäuble hat mit einem Satz den Streit um eine Nebensache zur Frage ums Prinzip erhoben. Der Finanz- und Ex-Innenminister fand Merkels Willkommen für die Ungarn-Flüchtlinge richtig, sah es aber stets skeptisch, dass aus dem Willkommen eine Kultur gemacht wurde. Er hielt sich trotzdem öffentlich zurück. Um so wirksamer seine Wortmeldung am Wochenende: „Wir müssen natürlich den Familiennachzug begrenzen, denn unsere Aufnahmekapazität ist ja nicht unbegrenzt.“

Damit verknüpfte er die Sach- mit der Kursfrage – und das mit dem Wort, das Merkel demonstrativ vermeidet: „begrenzen“.

Am Montag ist Schäuble schon Mainstream in der CDU. Auf einmal sind alle dafür, auch bei Syrern genau zu unterscheiden, wie viel Schutz sie beanspruchen können. Und selbst Merkels Generalsekretär Peter Tauber spricht – ob unbedacht oder mit Absicht – jetzt von „steuern und begrenzen“.

ANGELA MERKEL (CDU), KANZLERIN

Die CDU-Chefin hat in der Flüchtlingsfrage zu kämpfen – vor allem um und gegen die eigene Gefolgschaft. Auf Parteiveranstaltungen wie zuletzt der „Zukunftskonferenz“ in Darmstadt kommt die Kanzlerin ganz gut weg. Fraktionssitzungen sind weit ungemütlicher. Dort sitzen viele, die sich teils lautstark, teils im Stillen den alten CDU-Song „Das Boot ist voll“ als Leitmelodie zurückwünschen.

Angela Merkel hält das für unrealistische Nostalgie und setzt auf eine Politik der vielen Schritte. Weil sie aber anfangs in Deutschland und immer noch in der Welt als Engel der Verfolgten gefeiert wird, gehen ihre Schritte in die Gegenrichtung unter – zumal sie bisher kaum zählbare Erfolge vorweisen kann. So erscheint jeder Ruf nach Grenzen der Belastbarkeit als Widerspruch und Widerstand gegen die Frau, die lange Zeit so völlig unangreifbar schien – und Merkel als Getriebene. Und so erscheint es nicht verrückt, sondern völlig normal, dass Tauber nach dem Beschluss des CDU-Präsidiums verkündet, das Spitzengremium inklusive der Parteivorsitzenden habe ihn mitgetragen. Immerhin verschafft der allen Beteiligten eine Atempause und verschiebt die Frage des Flüchtlingsstatus’ für Syrer von der hohen politischen auf die Fachebene.

SIGMAR GABRIEL, SPD-CHEF, VIZEKANZLER

Nicht immer ziehen der SPD-Chef und seine Generalsekretärin an einem Strang, doch am Montag sprach Yasmin Fahimi wohl auch im Namen Sigmar Gabriels. Sie verkündete eine Doppelbotschaft: Mit großem rhetorischen Aufwand attackierte sie de Maizière für seinen Vorschlag zum Familiennachzug und warf ihm vor, er schade dem Regierungshandeln und fördere so „die rechten Rattenfänger“. Zugleich versicherte sie, die SPD wolle beim Nachdenken über eine bessere Steuerung und Begrenzung des Flüchtlingszuzugs nicht blockieren und sei bereit, „jeden Vorschlag ernsthaft zu prüfen“. Nur der unabgestimmte Plan de Maizières helfe eben „zum jetzigen Zeitpunkt“ nicht weiter.

Die SPD schließt sogar beim Familiennachzug eine Einigung mit der Union nach einigen Monaten nicht aus, sollte das heißen. Denn die Führung der Sozialdemokraten muss widerstrebende Interessen in der eigenen Partei zusammenhalten. Auf der einen Seite steht die mittlere Funktionärsebene, die mit Unterstützung vor allem des linken Parteiflügels SPD-Werte wie Solidarität und Humanität hochhält und jede Einschränkung beim Flüchtlingsschutz erst einmal unter Generalverdacht stellt. Auf der anderen Seite drängen die Kommunalpolitiker und die sozial schwächeren SPD-Wähler auf eine Begrenzung des Zuzugs – weil sie wie die Bürgermeister am Rande ihrer Möglichkeiten angelangt sind oder wie gering qualifizierte Arbeitnehmer die neue Konkurrenz der Flüchtlinge auf dem Jobmarkt fürchten.

SPD-Chef Sigmar Gabriel denkt auch an das eigene Klientel, wenn er vor einer Spaltung der Gesellschaft warnt und mahnt, etwa beim sozialen Wohnungsbau Angebote nicht nur für die Flüchtlinge, sondern für alle zu machen. Hinter verschlossenen Türen beschreiben auch mächtige SPD-Politiker Katastrophenszenarien für den Fall, dass die Flüchtlingszahlen nicht schon in wenigen Monaten drastisch sinken. Da geht es um obdachlose Asylbewerber in Städten und wachsende Fremdenfeindlichkeit in der deutschen Gesellschaft, wenn der Staat seine Kontroll- und Steuerungsfunktion nicht bald wiedergewinnt.

Erschwerend kommt für Gabriel hinzu, dass er sich wie die gesamte Führungsmannschaft Anfang Dezember auf dem Parteitag einer Wiederwahl stellen muss. Zwar bestritt Fahimi am Montag jeden Zusammenhang zwischen der Positionierung der SPD zum Familiennachzug und dem Parteitags-Termin. Tatsächlich steht Gabriel unter verschärfter Beobachtung der Delegierten, ob er im Flüchtlingsstreit mit der Union die Werte der Partei verteidigt oder zu pragmatisch handelt und Einschränkungen zustimmt. Sofern die Flüchtlingszahlen auch im Winter weiter auf hohem Niveau bleiben, hätte der SPD-Chef nach dem Parteitag voraussichtlich einen größeren Spielraum für Zugeständnisse in der Sache.

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