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Ein afghanischer Flüchtling mit seinem Baby auf der Insel Lesbos.
© REUTERS

Drohendes Brexit: Europa schafft sich ab

Die Flüchtlingskrise beschleunigt den Rückzug ins Nationale und erhöht die Gefahr, dass die Briten für den Austritt aus der EU stimmen. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Es gibt Sätze, die aufhorchen lassen, auch wenn sie nicht mit der emotionalen Wucht intoniert werden, die ihr Inhalt eigentlich gebietet, sondern mit der stoischen Gelassenheit eines englischen Gentleman: „Es kann sein, dass es mein Land in zwei Jahren nicht mehr gibt.“

Es war am Wochenende, Briten und Deutsche diskutierten bei der traditionsreichen Königswinter-Konferenz auf einem Landsitz nahe London über die drängendsten Sicherheitsrisiken von Syrien über Russland bis China. Plötzlich stand die Frage im Raum: Sind wir Europäer womöglich selbst das größte Risiko für den Fortbestand Europas, wie wir es kennen? Und ist sich Deutschland, der Koloss in der Mitte, bewusst, wie sehr sein Handeln oder Unterlassen das Schicksal der Partner bestimmt?

Bei Königswinter gelten die „Chatham House Rules“: Über alles Gesagte darf berichtet werden, nur nicht, wer es gesagt hat. Doch: Ob es das United Kingdom in zwei Jahren noch gibt, entscheidet sich auch am deutschen Umgang mit der Flüchtlingskrise.

Ein britisches EU-Exit wäre das Ende des United Kingdom

Spätestens 2017 muss die britische Regierung ein Referendum über die Zugehörigkeit zur EU abhalten. Wenn die Mehrheit mit Nein stimmt, beschränkt sich die Folge nicht darauf, dass Großbritannien die EU verlässt und ansonsten alles gleich bleibt, wie man das in Deutschland oft mit einem leicht desinteressierten Achselzucken hört. Die Schotten würden sofort ein neues Referendum über ihren Austritt aus dem Königreich ansetzen. Sie haben nicht 2014 auf das europäische Werben gehört, dass sie auch um Europas willen in Großbritannien verbleiben müssten und die EU sie als Sezessionsstaat nicht aufnehmen würde, um nun wegen britischer Europaskepsis aus der EU rauszufliegen. Diese Fragmentierung des Staatensystems hätte wiederum Folgen für die Stimmung in Katalonien und anderen Regionen mit starken Sezessionbewegungen.

Schafft Europa sich selbst ab? Wie die Briten abstimmen, hängt in erster Linie davon ab, ob Europa ihnen das Gefühl vermittelt, dass sich Probleme besser gemeinsam als im nationalen Alleingang lösen lassen. Jahrelang hatten britische Nationalisten der Ukip und die EU-Gegner unter den Konservativen an Stimmen hinzu gewonnen. Bei der Unterhauswahl im Mai 2015 aber bekamen sie einen Dämpfer. Ukip eroberte nur einen Sitz, Premier David Cameron schien die Stimmungsdynamik pro EU zurückzugewinnen.

Seit Verschärfung der Flüchtlingskrise ist alles wieder anders. Die offenkundige Unfähigkeit der Europäer, sich gemeinsam verantwortlich zu fühlen und gemeinsame Antworten zu finden, lässt viele Briten erneut an Europa zweifeln. Als besonders irritierend empfinden sie den deutschen Umgang mit der Herausforderung. Ob „Wir schaffen das“ oder die Aussagen, dass es keine Obergrenze für Asylgesuche gebe und man keinen 3000 Kilometer langen Zaun um Deutschland bauen könne: Gesprächspartner quittieren es nicht mit Bewunderung oder neugierigen Fragen, wie das gemeint sei. Sondern eher mit ungläubiger Verwunderung. Der Schutz der Grenzen und die Kontrolle, wer ins eigene Land kommt, gehören zum Kern staatlicher Souveränität. Und Deutschland zweifelt ernsthaft, dass es dazu fähig sei?

Da prallen Mentalitäten aufeinander, die durch Geografie und historische Erfahrungen geprägt wurden. Die Briten empfinden ihr Land als Insel. Sie haben ihre eigenen Lösungen entwickelt und bisher nie unwiderstehlichen Druck zur Vereinheitlichung verspürt, vom Linksverkehr bis zum Maßsystem. Auf eine Herausforderung, die das geltende Recht überfordert, reagieren sie pragmatisch und ignorieren im Zweifel die eine oder andere Vorschrift. Deutschland ist keine Insel, hat keine natürlichen Grenzen, die als Barriere wirken. Der Glaube an die Rechtsordnung ist größer als der Drang, eine Dynamik, die außer Kontrolle zu geraten droht, durch ungewohnte Antworten zu steuern.

China baut in Essex ein neues Atomkraftwerk

Wo ist die Neugier aufeinander geblieben – nicht in kleinen Zirkeln wie der Königswinter-Konferenz, da ist sie lebendig – sondern die Neugier, was man voneinander lernen und wo man gemeinsam mehr tun kann, quer durch die Gesellschaft? Chinas Präsident Xi Jinping besucht in dieser Woche Großbritannien. Das wohl spektakulärste Projekt ist der Bau eines neues Atomkraftwerks in Essex – mit chinesischer Technik und chinesischem Kapital. Eine Woche darauf fährt Bundeskanzlerin Merkel nach China. Gemeinsame China-Politik? Fehlanzeige. Jeder macht seins. Wie im Umgang mit der Migration. Wenn das so weitergeht mit dem Rückzug ins Nationale, scheitert die EU.

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