„Coronakrise bestärkt rechtsextreme Tendenzen“: Bundesregierung macht Kampf gegen Rassismus zur Chefsache
Drei Monate nach dem rassistischen Anschlag in Hanau konstituiert sich der Kabinettsausschuss gegen Rechtsextremismus. Ist das mehr als Symbolpolitik?
An starken Worten mangelt es nicht. „Rassismus ist keine Meinung“, sagt Annette Widmann-Mauz (CDU), die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, vor der ersten Sitzung des Kabinettsausschusses gegen Rechtsextremismus und Rassismus, von manchen auch „Antifa-Kabinett“ genannt.
Mit der Coronakrise, dem neuen Phänomen des Rassismus gegen asiatischstämmige Menschen in Zeiten dieser Pandemie und der Einflussnahme von Rechtsradikalen auf die Proteste von Corona-Rebellen, bekommt das Thema ganz neue Aktualität.
Drei Monate nach dem rassistischen Anschlag in Hanau will das Gremium unter Leitung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) an diesem Mittwoch erstmals tagen. Die Gründung war im März beschlossen worden, kurz nach dem Integrationsgipfel. Die Mordserie in der hessischen Stadt gab den letzten Ausschlag dafür. Die Bundesregierung macht damit die Bekämpfung des Rechtsextremismus zur Chefsache.
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Mehr als Symbolpolitik?
Federführend arbeiten in dem Gremium, das in diesem Jahr noch zwei weitere Male tagen soll, neben Widmann-Mauz noch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), Bundesjustizministerin Christine Lambrecht und Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (beide SPD) mit.
Kann das mehr sein als Symbolpolitik? Zumindest vermittelt die Bundesregierung den Eindruck, sie habe die Dimension des Problems verstanden. „Rassismus ist der ideologischen Nährboden für rechtsextremistische Gewalt", sagt Widmann-Mauz imGespräch mit dem Tagesspiegel. „Er ist eine wesentliche Ursache für den Hass und die Gewalt, die Menschen unterschiedlicher Herkunft, aber auch Engagierte und Kommunalpolitiker trifft.“
„Wir müssen Rassismus erkennen, benennen und bekämpfen“
Zugleich fordert die Staatsministerin: „Wir müssen Rassismus erkennen, benennen und bekämpfen – sei es in der Schule, am Arbeitsplatz, in Behörden oder im Alltag. Es geht um bessere Prävention, Hilfe für Betroffene und ihre Sicherheit. Deshalb ist es richtig, dass der Kabinettausschuss Rechtsextremismus und Rassismus auf höchster Ebene zum Thema macht. Wichtig ist, dass die Stimmen der Betroffenen in diesem Prozess Gehör finden.“
„Deutschland hat ein massives Problem mit Hass und Gewalt“, hatte schon Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unter Hinweis auf die rechtsterroristischen Morde in Kassel, Halle und Hanau gesagt, als er im März Kommunalpolitiker aus ganz Deutschland im sächsischen Zwickau traf. Die wachsende Bedrohung von Bürgermeistern, Landräten, Stadt- und Gemeinderäten beunruhigt das Staatsoberhaupt seit Monaten.
Hilfe für Angehörige der Opfer aus Hanau
Auch die Bundesregierung verweist auf konkrete Initiativen. Ihr 2018 eingesetzter Opfer-Beauftragter, der SPD-Bundestagsabgeordnete Edgar Franke, berichtete Mitte Mai vor dem Innenausschuss des hessischen Landtags, dass inzwischen an 53 Angehörige der Opfer sowie Verletzte des rassistischen Anschlags in Hanau mehr als eine Million Euro ausgezahlt worden seien.
Franke sagte, auch wenn die „schreckliche rassistische Bluttat“ mittlerweile fast drei Monate her sei, sei in allen Familien der Schmerz nach wie vor ungebrochen. „Die Opfer wurden mitten aus dem Leben, mitten aus der Stadtgesellschaft gerissen“, dies in einer Stadt, „die bunt und vielfältig ist“, in der Menschen mit ganz unterschiedlichen Wurzeln friedlich lebten.
Der Opfer-Beauftragte sagte weiter: „Ich habe miterlebt, wie sich in Hanau Trauer mit Wut und Fassungslosigkeit vermischt hat.“ Und: „Dieses Verbrechen richtete sich direkt gegen unsere offene und freie Gesellschaft – also gegen uns alle.“
Die Opferberatungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt sehen dennoch eine Lücke bei den Entschädigungsleistungen - sie betrifft die Sachschäden.
Weitere Forderungen von Opferverbänden
„Rassistisch und antisemitisch motivierte Gewalt will auch die wirtschaftliche Existenz der Angegriffenen und ihrer Familien vernichten und sie aus den Unternehmens- und Gewerbestrukturen vor Ort verdrängen“, heißt es in einem vergangene Woche veröffentlichten Offenen Brief dazu, den unter anderem Barbara John unterzeichnete, die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Hinterbliebenen und Opfer des NSU-Terrors.
Trotz der Absichtserklärungen und konkreten Initiativen der Bundesregierung mangelt es nicht an weiteren Forderungen. Als die Opferberatungsstellen vor wenigen Tagen ihre Jahresstatistik vorstellten, wiesen sie auf eine drohende rechtsterroristische Radikalisierung im Zusammenhang mit der Coronakrise hin.
Gideon Botsch, Leiter der Forschungsstelle Antisemitismus am Moses-Mendelssohn-Zentrum in Potsdam, begründete das mit der „sehr rasanten Dynamik der Aufheizung“ bei den Protesten von Kritikern der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie.
Corona-Rassismus könnte Thema für Kabinettsauschuss werden
Und auch der Corona-Rassismus könnte zum Thema des Kabinettsausschusses werden, der in sich in seiner ersten Sitzung zunächst einen Arbeitsplan geben will. Die speziellen Anfeindungen gegen Menschen mit asiatischem Aussehen gibt es seit der Coronakrise - sie werden beleidigt, bedroht, bespuckt, weil man sie verdächtigt, für die Ausbreitung der Pandemie verantwortlich zu sein.
Die Integrationsbeauftragte Widmann-Mauz sieht auch dieses Problem: Jeden Tag würden ihr Menschen berichten, „dass sie diffamiert und ausgegrenzt werden“, sagte sie im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Und: "Eine Frau, die in Deutschland geboren ist, wird angefeindet, weil sie als Asiatin gesehen wird: Man solle sie mit Sagrotan besprühen. Das Wort ,Chinese' ist mittlerweile zum Schimpfwort auf Schulhöfen geworden. In der Coronakrise bestärken solche gruppenbezogenen Vorurteile rechtsextreme Tendenzen.“
Auch die Grünen-Bundestagsabgeordnete Filiz Polat hatte den Corona-Rassismus thematisiert und dazu verschiedene Anfragen an die Bundesregierung gestellt, zunächst aber nur vage Auskünfte bekommen.
Grüne und FDP setzen auf Merkel
Am Dienstag begrüßte Polat ausdrücklich, dass der Kabinettsausschuss nun endlich seine Arbeit aufnimmt. „Es ist ein wichtiges Zeichen, sowohl nach innen als auch nach außen, dass sich die Bundesregierung erstmals nach einem rassistischen Anschlag in einem Kabinettsausschuss dem Rassismusproblem im Land stellt“, sagt die Grünen-Politikerin dem Tagesspiegel. „Die Erwartungen der Angehörigen und Freunden der Opfer von rassistischer Gewalt und auch aller People of Color in Deutschland an den Kabinettsausschuss sind daher hoch, die Bundesregierung darf diese nicht enttäuschen und muss endlich liefern.
[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]
Enorme Chancen durch deutsche Ratspräsidentschaft
Polat, Sprecherin ihrer Fraktion für Migration und Integration, findet es gut, dass Merkel die Leitung des Gremiums übernimmt: „Die rassismuskritische Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft muss zur Chefinnensache werden.“ Die Kanzlerin dürfe hier nicht auf den „Migration ist die Mutter aller Probleme-Bundesinnenminister" als Speerspitze der Antirassismusarbeit bauen, fügt sie in Anspielung auf eine frühere Äußerung Seehofers hinzu.
Auch der FDP-Innenpolitiker Benjamin Strasser hebt die Rolle Merkels hervor. „Sie muss nun zeigen, dass der Ausschuss mehr als Symbolpolitik ist“, sagt er dem Tagesspiegel. Allein die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im Herbst 2020 biete der Bundeskanzlerin dabei enorme Chancen.
Zur Begründung sagt Strasser: „Die rechtsextreme Szene ist europaweit vernetzt. Über Konzerte in anderen EU-Mitgliedsstaaten wird die Szene finanziert und radikalisiert, durch Schießtrainings wie in der Tschechischen Republik im Umgang mit Waffen geschult. Der Verfolgungsdruck muss gerade in solchen EU-Staaten massiv erhöht werden. Hier könnte Angela Merkel mit ihrem politischen Gewicht in Europa echte Ergebnisse erzielen.“