Attacken gegen Asiaten: Bundesregierung ignoriert Corona-Rassismus
Diffamiert, beleidigt, bespuckt: Asiatischstämmige Menschen werden in der Coronakrise zu Opfern von Rassismus. Warum tut die Regierung nicht mehr?
Nhi Le, Journalistin, Bloggerin und Moderatorin aus Leipzig, kann aus eigener Erfahrung vom Coronarassismus erzählen. Vom permanenten Druck, nirgends mehr sicher zu sein vor Anfeindungen - so wie es viele Menschen mit asiatischem Aussehen seit Monaten erleben. Von ihrer Angst, sich in der Öffentlichkeit aufzuhalten. Und der Angst von Freundinnen und Freunden, von Bekannten, attackiert zu werden.
Die Betroffenen werden verspottet als „Kong Flu“, beleidigt, bedroht, bespuckt. Beschuldigt, für die rasche weltweite Ausbreitung des Coronavirus verantwortlich zu sein. Alte Stereotype gegen Asiaten würden hervorgekramt, sagt die Reporterin im Podcast „Aufklären & einmischen“, den NSU Watch und der Verband der Beratungsstellen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) gestartet haben.
In München sei eine Frau von ihrem Nachbarn mit Desinfektionsmittel besprüht worden, sagt Nhi Le, und dies sei mitnichten ein Einzelfall. „Viele asiatische Menschen werden unter Generalverdacht gestellt“, sagt Le, „aufgrund ihrer Identität stigmatisiert“. Zunächst seien es meist nur vermeintliche Witze gewesen, inzwischen aber komme es immer häufiger auch zu körperlichen Angriffen. Die Betroffenen wehren sich mit der Kampagne „Ich bin kein Virus“, Nhi Le selbst hat über dieses Thema auf „Zeit Campus“ geschrieben.
Ähnliche Erfahrungen schilderte der Journalist Marvin Ku im Februar im Tagesspiegel.
[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple-Geräte herunterladen können und hier für Android-Geräte.]
Zuständiger Kabinettsausschuss hat bisher nicht getagt
Der Coronarassismus - Le selbst hat diesen Begriff mit geprägt - wäre in Zeiten der Pandemie ein hoch aktuelles Thema für den Mitte März vom Bundeskabinett nach der rassistischen Mordserie in Hanau eingesetzten Kabinettsausschuss „zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) selbst wollte den Vorsitz übernehmen, Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) ihr Stellvertreter werden.
Das Thema als Chefinnensache - wenn es denn mit dem symbolträchtigen Kabinettsausschuss vorangehen würde. Das aber ist offenbar nicht der Fall, wie aus Antworten der Bundesregierung auf Anfragen der Bundestagsabgeordneten Filiz Polat (Grüne) und Martina Renner (Linke) hervorgeht.
Die erste Sitzung des Kabinettsausschusses werde „zeitnah“ stattfinden, schrieb das Bundesinnenministerium Ende April an Renner: „Die Vorbereitungen für die künftige Ausschussarbeit und insbesondere die erste Sitzung laufen derzeit sowohl im Hinblick auf organisatorische als auch inhaltliche Fragestellungen.“ Ähnliches wurde Polat in der Fragestunde des Bundestages beschieden.
Für die beiden Politikerinnen sind diese aus ihrer Sicht vagen Auskünfte unbefriedigend: „Der neu eingerichtete Kabinettsausschuss sollte sich jetzt des Themas annehmen“, verlangt die Grünen-Politikerin Polat. Weder das Coronavirus noch der damit einhergehende Rassismus würden sich von heute auf morgen erledigen. Corona dürfe nicht als Ausrede herhalten, die Rassismusbekämpfung unter den Tisch zu kehren. „Wenn durch ein Virus, das weder Geschlecht, Hautfarbe, Religion noch sexuelle Identität kennt, rassistischen und diskriminierenden Einstellungen Vorschub geleistet wird, müssen wir uns dem klar entgegenstellen.“
[Die Coronaviruskrise ist auch für die Politik eine historische Herausforderung. Jeden Morgen informieren wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, in unserer Morgenlage über die politischen Entscheidungen, Nachrichten und Hintergründe. Zur kostenlosen Anmeldung geht es hier.]
Renner beklagt: „Fast zwei Monate nach Einsetzung ist offensichtlich nicht klar, was genau der Ausschuss machen soll.“ Dabei sei es gerade während der Krise wichtig, Rassismus und rechten Terror zu bekämpfen. „Rassistische Angriffe beispielsweise gegen asiatische Menschen oder rechte Netzwerke in Polizei und Bundeswehr, die sich auf einen Tag X vorbereitet haben, bieten Anlass genug.“
Nur sechs Fälle in der Polizeistatistik
Dass die Bundesregierung wenig unternimmt, könnte auch damit zu tun haben, dass sie bisher wenig über Coronarassismus weiß - oder das Problem weitgehend verdrängt. In einer dem Tagesspiegel vorliegenden weiteren Antwort des Innenministeriums geht hervor, dass - Stand 23. April - in der Statistik zur politisch motivierten Kriminalität gerade mal sechs Fälle von Hasskriminalität gegen asiatischstämmige oder asiatisch aussehende Menschen im Zusammenhang mit der Coronakrise erfasst wurden, in fünf Fällen kamen die Täter aus dem rechtsradikalen Milieu. Einmal ging es um die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, dreimal um Volksverhetzung und zweimal um Beleidigung.
Einen „bundesweit gültigen Katalogwert ,Corona'“ gibt es der Auskunft zufolge in der Statistik nicht, die Daten sind also lückenhaft. Das Ministerium schreibt: „Vor dem Hintergrund der Anzahl bislang bekannt gewordener Straftaten und unter Berücksichtigung der Vorläufigkeit der Fallzahlen kann zum aktuellen Zeitpunkt keine Aussage hinsichtlich eines möglichen Anstieges der Hasskriminalität gegen Menschen asiatischer Herkunft aufgrund der Covid-19-Pandemie getroffen werden.“
Polat spricht mit Blick auf diese Antwort von einem „Offenbarungseid“. Offensichtlich verfüge die Bundesregierung über keine fundierten Daten bezüglich der Hasskriminalität im Zusammenhang mit der Coronakrise. „Im Ergebnis kann sie den Anstieg dieser Form der Hasskriminalität gar nicht feststellen und dagegen vorgehen. Wir brauchen aber eine valide Datenlage, um Rassismus in seiner jeglicher Form bekämpfen zu können.“
Kinder werden „Virus“ oder „Corona“ gerufen
Dass das Problem eine größere Dimension hat, geht aus anderen Erhebungen hervor. Bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gab es in diesem Jahr nach Angaben des Bundesfamilienministeriums von Anfang April 55 Anfragen zu Diskriminierungen und rassistischen Vorfällen im Zusammenhang mit der Coronakrise - im Januar eine, im Februar 32 und im März 23.
Der Verband der Opferberatungssstellen VBRG kommt in einer internen, dem Tagesspiegel vorliegenden Statistik sogar auf mehr als 130 Fälle, einer schockierender als der nächste: Kinder wurden demnach „Virus“ oder „Corona“ gerufen, Hakenkreuze an asiatischen Restaurants im baden-württembergischen Weingarten und in Leipzig aufgebracht. Chinesen wurden geschlagen oder als „dreckiges Pack“ beschimpft. Auch vor Medien macht der Coronarassismus nicht halt - und hielt laut VBRG etwa in die ZDF-Satiresendung „Heute-Show“ Einzug.
Die Hörfunkjournalistin Minh Thu Tran berichtete unter dem Hashtag #ichbinkeinvirus auf Twitter, sie sei auf der Straße beschimpft worden: „Schon wieder so eine, die das Zeug hier rübergeschleppt hat.“ Und: „Ich gehe schon seit Wochen ungern alleine raus, wenn es dunkel ist. Jetzt weiß ich wieder, warum.“