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Erschüttert. Opferanwältin Seda Basay-Yildiz mit Adile Simsek, der Witwe des vom NSU ermordeten Enver Simsek, im Prozess gegen Beate Zschäpe und weitere Angeklagte am Oberlandesgericht München
© Christof Stache /AFP

Opferanwältin Basay-Yildiz zum NSU-Prozess: „Das Urteil ist beschämend“

Die Anwältin Seda Basay-Yildiz vertritt Angehörige eines Mordopfers des NSU und von drei der Getöteten in Hanau. Sie übt harte Kritik an Justiz und Polizei.

Frau Basay-Yildiz, Sie und weitere Opfer-Anwälte im NSU-Verfahren werfen dem Oberlandesgericht München vor, das kürzlich ergangene schriftliche Urteil sei ein Mahnmal des Versagens des Rechtsstaates. Warum?
Es gab zehn Morde, die Opfer waren neun Migranten und eine Polizistin. Neun Menschen wurden aus rassistischen Gründen brutal hingerichtet, die Beamtin aus Hass gegen den Staat. Und man liest in der Urteilsbegründung des Oberlandesgerichts lediglich die Namen der Ermordeten und dies offensichtlich nur, um sie mal genannt zu haben. So nach dem Motto: Der Mann ist tot. Punkt.

Das Alter des Opfers? Hat er eine Familie gehabt?  Welche Auswirkungen hatte die Tat auf die Angehörigen? Dazu kommt nichts. Das waren Menschen, die erbarmungslos und plötzlich aus dem Leben gerissen wurden. Denen muss man ein Gesicht geben. Das wäre das Mindeste gewesen. Die von mir vertretene Adile Simsek, die Ehefrau von Enver Simsek, dem ersten Mordopfer des NSU, wusste über zehn Jahre nicht, wer ihren Mann umgebracht hatte. Sie verfiel in schwere Depressionen. Die Kinder wuchsen ohne Vater und teilweise auch ohne Mutter auf, weil sie sich in stationäre Behandlung begeben musste. Der Haupternährer der Familie fiel von einem Tag auf den anderen weg.

Es sind immerhin 3025 Seiten…
Doch auf den 3025 Seiten des Urteils findet sich kein einziger Satz dazu. Kein einziger. Es ist wirklich zutiefst beschämend und darüber hinaus auch noch unanständig. Unabhängig davon erfordert auch Paragraf 46 des Strafgesetzbuches bei der Strafzumessung für den Täter eine Auseinandersetzung des Gerichts mit den vom Täter „verschuldeten Auswirkungen der Tat“.

Der 6. Strafsenat hat sich 93 Wochen Zeit genommen nach dem mündlichen Urteil im Juli 2018. Weshalb haben Sie trotzdem den Eindruck mangelnder Gründlichkeit?
Das Wort Verfassungsschutz taucht nicht auf. Der Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, Andreas T., der in Kassel beim Mord an Halit Yozgat am Tatort war und der im Prozess über Tage hinweg als Zeuge vernommen wurde, wird nicht erwähnt. Über hunderte von Seiten finden sich jedoch immer wiederkehrende Textbausteine.

Andererseits wird im Fall des Angeklagten Ralf Wohlleben nur knapp gesagt, zu seinen Lasten sei zu berücksichtigen, dass der NSU die von ihm beschaffte Pistole Ceska 83 bei der Ermordung von neun Menschen eingesetzt hat. Die Namen der aus rassistischen Motiven Ermordeten sowie die Auswirkungen der Taten für die Familien werden auch hier nicht thematisiert. Das empfinden ich und auch andere Opferanwälte als formelhaft, ahistorisch und kalt.

 Die Richter haben André Eminger, den langjährigen Komplizen des NSU, zu nur  zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Überzeugt Sie die Begründung des Schuldspruchs im schriftlichen Urteil?
Nein, überhaupt nicht.  Die Beweisaufnahme war im September 2017 bereits abgeschlossen. Die Vertreter des Generalbundesanwaltes hatten am Ende ihres Plädoyers beantragt André Eminger zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren zu verurteilen und ihn in Untersuchungshaft zu nehmen. Das Oberlandesgericht München gab dem Antrag auf Erlass des Haftbefehls statt.

Begründet wurde die Entscheidung damit, dass der dringende Tatverdacht bestehe, der Angeklagte könnte sich unter anderem wegen Beihilfe zum versuchten Mord beim Sprengstoffanschlag auf ein iranisches Geschäft in Köln strafbar gemacht haben. André Eminger kommt also in Haft. Die Plädoyers werden fortgesetzt, am 11. Juli 2018 wird das Urteil verkündet - und Eminger wird in puncto Mordanschlag wegen dieser Sache freigesprochen, ohne dass sich die Beweisgrundlage nach Verkündung des Haftbefehls in irgendeiner Weise geändert hätte.

Verurteilt wurde er nur für die Beschaffung von Bahncards für Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt…
 Der Freispruch ist nicht nachvollziehbar und in sich widersprüchlich. Er beruht maßgeblich auf den Angaben Zschäpes. Meine Kollegen und ich können nicht verstehen, dass das Gericht den Aussagen Zschäpes glaubt, die offensichtlich versuchte, ihren Freund Eminger zu entlasten. Aber gleichzeitig steht im schriftlichen Urteil, dass es Zschäpes Rolle in der Terrorzelle war, alle mit den Taten des NSU und dessen Unterstützern in Zusammenhang stehende Beweismittel zu vernichten.  

Wie hat die von ihnen vertretene Familie Simsek auf das schriftliche Urteil reagiert?
Es war schwer ihnen erklären zu müssen, dass lediglich der Name von Enver Simsek in der Urteilsbegründung auftaucht. Und das auch nur, um den Toten namentlich genannt zu haben. Zu seiner Person findet sich sonst nichts. Die Familie ist sehr betroffen.

Wie geht es Familie Simsek, knapp zwei Jahre nach dem Ende des NSU-Prozesses und 20 Jahre nach dem Tod von Vater und Ehemann Enver?
Adile Simsek, die Witwe von Herrn Simsek, und Semiya, seine Tochter leben inzwischen in der Türkei. Sie haben mit Deutschland weitestgehend abgeschlossen. Der Sohn, Abdulkerim, lebt in Hessen und hat sich zurückgezogen. Das Leben muss weitergehen.

Im Fall des rassistischen Anschlags in Hanau engagieren Sie sich für die Angehörigen der erschossenen Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz und Fatih Saracoglu. Gemeinsam mit weiteren Opfer-Anwälten kritisieren Sie die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft zur Tat von Tobias Rathjen, der sich erschossen hat. Was geht aus Ihrer Sicht in diesem Verfahren schief?
Es gibt einen empfindlichen Mangel an Informationen durch die Ermittlungsbehörden. Die Angehörigen der Ermordeten wissen bis heute nicht: Musste mein Sohn beziehungsweise mein Bruder vor seinem Tod leiden? Ist er am Tatort oder im Krankenhaus gestorben?

Außerdem wurden persönliche Gegenstände der Verstorbenen, zum Beispiel Mobiltelefone, nicht herausgegeben. Und nach der Rückkehr des Vaters von Rathjen nach Hanau führte die hessische Polizei eine Art Gefährderansprache bei einigen Angehörigen durch. Als ob von ihnen eine Gefahr für den Vater ausgeht. Es ist wirklich an Absurdität nicht zu übertreffen. Dahinter scheint die Haltung zu stehen: Bei den Ausländern weiß man ja nie, ob sie nicht Rache nehmen. Zudem erfuhren die Familien aus der Presse, dass das Bundeskriminalamt zu dem vorläufigen Ergebnis gekommen sei, dass der Täter kein rassistisches Motiv gehabt habe. Später wird dies verneint.  Auch das erfahren sie aus der Presse. Es wird nicht persönlich mit ihnen gesprochen. Bis heute. Ist das denn so schwer?

Sie selbst und Ihre Familie werden seit August 2018 von einem unbekannten Täter oder einer Gruppe namens NSU 2.0 massiv bedroht und beleidigt. Als verdächtig gelten Frankfurter Polizisten. Wie gehen Sie und Ihre Familie mit der Belastung um?
Ignorieren und einfach weitermachen, denn sonst haben diese Feiglinge ihr Ziel erreicht und das darf nicht sein.

Spüren Sie in der Coronakrise eine Zunahme des Rassismus?
Für mich ist Rassismus unabhängig von der Coronakrise ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft.  Es ist erschreckend, wie immer mehr Menschen mittlerweile bereit sind, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen. Es wird nicht mehr nur geredet, sondern solange gehetzt bis jemand den Abzug drückt. Und immer noch geht die Justiz zu lasch mit Rechtsextremen um. Die Taten werden häufig nicht konsequent verfolgt, immer wieder wird der rassistische oder antisemitische Gehalt von Taten nicht thematisiert oder heruntergespielt, Taten werden vermeintlichen Einzeltätern zugeschrieben und nicht organisierten Strukturen. Außerdem konnte bis heute der rechtsextreme Urheber von rassistischen E-Mails, der sich „Staatsstreichorchester“  und auch „NSU 2.0“ nennt, nicht überführt werden.

Sie haben während des NSU-Prozesses gesagt, Sie hätten das Gefühl bekommen, kein Teil der Gesellschaft zu sein und niemals zu werden. Hat sich dieser Eindruck etwas abgeschwächt – oder womöglich weiter verfestigt?
Bis heute wird über mich geschrieben, dass ich eine „türkischstämmige“ Anwältin sei. Das ist ja grundsätzlich richtig, aber ich bin gebürtige Marburgerin und solange ich immer noch mit „türkischstämmig“ beschrieben werde, bin ich offensichtlich für einige Menschen immer noch nicht angekommen in dieser, unserer, Gesellschaft.

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