Anti-Lockdown-Proteste: Warum Corona-Leugner zur Gefahr werden können
Bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen mischen vermehrt Rechtextreme und Verschwörungstheoretiker mit. Sicherheitsexperten befürchten Gewalt.
Das Rentnerpaar fürchtet sich. „Wenn die Freiheit verloren geht, muss man sich einfach wehren“, sagt die Frau am vergangenen Sonnabend bei der „Hygiene-Demo“ in Berlin. Der Ehemann nickt, „wir machen uns jetzt wirklich Sorgen um die Demokratie“. Er betont aber auch, mit „rechten Spinnern“ nichts zu tun zu haben. Das Paar spricht in das Mikrofon eines Mannes, der aussieht wie ein normaler Journalist.
Doch Nikolai Nerling ist ein rechtsextremer Agitator, er nennt sich „Volkslehrer“ und führt die alten Leute später in einem Video vor, das den Titel trägt „Rechts und Links gegen BRD-Faschismus in Berlin“.
Etwa 1000 Teilnehmer waren zu dem wöchentlichen Auflauf gegen die staatlichen Maßnahmen in der Coronakrise gekommen. Rechte, Reichsbürger, bekannte Verschwörungstheoretiker und vergleichsweise harmlos wirkende Menschen standen der Polizei gegenüber. Die Mischung macht den Sicherheitsbehörden Sorge. Und sie ist keine Berliner Spezialität. Bundesweit versuchen Rechtsradikale und andere Extremisten Unmut über den Staat in der Coronakrise zu schüren und auszunutzen.
„Der Extremismus von rechts, aber auch von links und von Islamisten hat ein Thema gefunden“, warnt ein hochrangiger Experte. Die Demonstrationen in Berlin und weiteren Orten und die Agitation im Internet „sind ein Vorspiel auf das, was zu erwarten ist“. Es sei zu befürchten, dass die „Anschlussfähigkeit“ von Extremisten zunehme und damit „mittelfristig auch die Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung“.
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Der Experte zieht sogar einen gewagten Vergleich. „Die Stimmung kann sich entwickeln wie in der Flüchtlingskrise“. Der Hinweis zeigt, was die Behörden umtreibt: 2015 blühte rechter Hass in der Bevölkerung auf.
Damals dominierten zunächst die Bilder von Menschen, die Flüchtlinge willkommen hießen. Doch rasch wuchs in Teilen der Bevölkerung rassistische Feindseligkeit. Die Polizei registrierte hunderte Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, oft waren die Täter nie zuvor als Extremisten aufgefallen. Parallel erlebte die AfD einen Aufschwung, der sie dann in Landtage und Bundestag trug.
Atemschutzmaske in Schwarz-Weiß-Rot
Wie die Töne auch jetzt wieder schriller werden, zeigt ein Youtube-Video des rechtspopulistischen Magazins „Compact“ von Protesten gegen den Staat in der vergangenen Woche in Chemnitz. Eine Frau behauptet, „hier herrscht jetzt totale Diktatur und es wird von Tag zu Tag schlimmer. Wenn wir nicht aufpassen und uns dagegen wehren, dann wird es hier bald viele, viele Tote geben“.
Hinter der Frau steht ein Mann mit einer Atemschutzmaske in Schwarz-Weiß-Rot, das waren die Farben der Fahne des deutschen Kaiserreichs.
Der „Compact“-Kommentator verstärkt die Viele-Tote-Rhetorik noch. „Am Montag hätte wohl nicht viel gefehlt“, sagt die Stimme zu Bildern, auf denen ein am Boden liegender Mann zu sehen ist, umringt von Polizisten. Der Mann habe, behauptet „Compact“, vor wenigen Monaten einen Herzinfarkt erlitten. Ob das stimmt, bleibt unklar.
Doch der Versuch, einen Märtyrer zu präsentieren, ist offenkundig. Auf Youtube wurde der Film seit Sonntag fast 100.000 Mal aufgerufen. „Wenn die Hysterie stärker wird, sind als Reaktion Anschläge von Einzeltätern zu befürchten“, sagt der hochrangige Sicherheitsexperte.
Verschwörungsideologen verdoppeln ihre Abonnenten-Zahlen
Befeuert wird der Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen vor allem durch Verschwörungstheorien. Von antisemitischen Erzählungen einer jüdischen Weltverschwörung über die Behauptung, das Virus gebe es gar nicht, bis hin zur Theorie, der Staat wolle die Abschaffung des Bargeldes über die Coronakrise durchdrücken: Mythen aller Arten erleben derzeit starke Verbreitung.
Miro Dittrich beobachtet für die Amadeu-Antonio-Stiftung nahezu täglich das Geschehen in rechtsextremen Online-Foren. Ihm fällt der Zulauf auf, den rechtsextreme und andere Verschwörungsideologen in der Coronakrise im Netz verzeichnen. So hätten sich seit dem 15. März innerhalb von zwei Wochen die Abonnentenzahlen einschlägiger Kanäle beim Messenger-Dienst Telegram verdoppelt.
„Menschen, die vorher nicht an Verschwörungserzählungen glaubten, sind jetzt überzeugt, von der Regierung belogen zu werden“, sagt Dittrich. Für sie sei Corona eine Art „Erweckungsmoment“. Sie klickten sich von Video zu Video, von Text zu Text. „Das Bedrohliche ist: Bis sie in einer vollkommenen Parallelwelt angekommen sind, geht es sehr schnell.“ Dittrich beobachtet, wie er sagt, eine Art kollektiven Wahn. „Bei vielen findet eine völlige Realitätsverweigerung statt.“
Mit der Waffe in die Pizzeria
Weil sie an die abstrusesten Dinge glauben, sind Verschwörungstheoretiker lange belächelt worden. Doch Studien zeigen, dass es keineswegs ungefährlich ist, wenn sich immer mehr Menschen in diese Parallelwelt ziehen lassen. Die Mainzer Sozialpsychologin Pia Lamberty sagt: „Menschen, die an Verschwörungen glauben, misstrauen dem Staat. Sie gehen deshalb weniger wählen oder unterschreiben Petitionen.“
Stattdessen suchten sie andere Wege, sich politisch auszudrücken. Verschwörungstheoretiker sähen Gewalt eher als legitimes Mittel in der politischen Auseinandersetzung. Lamberty und ihre Kollegen untersuchten etwa, inwieweit Menschen es legitim finden, einen Brandanschlag zu machen – die Zustimmung war unter Verschwörungsgläubigen höher. „In den USA haben wir in unserer Studie zur Corona-Krise zeigen können: Menschen, die glauben, das Virus sei im Labor gemacht worden, waren auch eher bereit, sich Waffen anzuschaffen“, sagt Lamberty.
Dass die Gewaltbereitschaft von Verschwörungstheoretikern auch zu Taten führen kann, zeigte sich beispielsweise im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016. Die sogenannte „Pizzagate“-Verschwörungstheorie besagte, dass aus einer beliebten Pizzeria in Washington D.C. heraus ein Kinderpornoring agiere, in den auch die Kandidatin Hillary Clinton verstrickt sei. Später drang ein bewaffneter Mann in die Pizzeria ein, weil er die vermeintlich dort eingesperrten Kinder befreien wollte.
In Deutschland wurde spätestens nach dem Anschlag in Hanau klar, wie gefährlich Verschwörungsglauben ist: Der Täter hatte sich unter anderem durch rassistische Verschwörungsmythen radikalisiert. Auch der Attentäter von Halle, der in einer Synagoge ein Blutbad anrichten wollte, hing antisemitischen Verschwörungstheorien an.
Lamberty warnt, dass es auch weiterhin passieren könne, dass durch Verschwörungserzählungen terroristische Attentate legitimiert würden. „Besonders Rechtsextremisten gewinnen in der Corona-Krise hat Reichweite – hier liegt meines Erachtens auch die Gefahr am höchsten.“
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