Seehofers Versagen: Holt sie aus der Hölle!
In der Coronakrise ist die Evakuierung der Camps in Griechenland zwingender denn je. Die Bundesregierung aber lässt die Flüchtlinge allein. Ein Kommentar.
Hat sich Bundesinnenminister Horst Seehofer wirklich vom Saulus zum Paulus gewandelt? Im Spätsommer 2018 formulierte er im Zusammenhang mit den rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz den fast unfassbaren Satz, wonach die „Migrationsfrage die Mutter aller politischen Probleme“ in Deutschland sei.
Seehofer sagte damals nach der Tötung des Deutsch-Kubaners Daniel H. „Ich wäre, wenn ich nicht Minister wäre, als Staatsbürger auch auf die Straße gegangen.“ Er fügte einschränkend bloß hinzu, dass er „natürlich nicht gemeinsam mit Radikalen“ marschieren würde. Das war damals, wohlwollend gesagt, AfD-light-Politik. Die Politik war damals bereit, dem Druck der Straße nachzugeben. Jetzt, in der Coronakrise, macht sie erst recht die Schotten dicht.
Dennoch will Seehofer bei einer grundsätzlich auf Abwehr ausgerichteten Asylpolitik nun angeblich wenigstens eine Ausnahme machen: wenn es die Flüchtlinge auf den griechischen Inseln geht, vor allem um kranke Kinder und ihre Familien. Zehntausende Asylsuchende hausen in völlig überfüllten Elendslagern wie Moria auf Lesbos. In Zuständen schlimmer als in Dritt- oder Viertweltstaaten.
Bricht dort das Coronavirus aus, werden die Camps zur Todesfalle. Nach Einschätzung von Experten ist das eher eine Frage von Tagen als von Wochen. Das Virus wird auch vor Flüchtlingslagern nicht haltmachen, in deutschen Asylunterkünften ist es bereits angekommen.
Seinen Worten nach vermittelt Seehofer den Eindruck, als habe er die Dimension dieses Problems verstanden. Aber eben nur den Worten nach. Der Christsoziale versicherte am Wochenende öffentlich, dass sich Deutschland an der Aufnahme beteiligen werde. Die Bundesregierung stehe zu ihrer Zusage, sagt er. Aber zugleich verweist der Heimatminister an Brüssel: „Das Heft des Handels liegt jetzt bei der Kommission.“
Ein mehrfach verklausuliertes Hilfsangebot
Es ist ein mehrfach verklausuliertes Hilfsangebot - und damit bis zum Beweis des Gegenteils wertlos. Aktuell sind ernsthafte Zweifel angebracht, ob überhaupt nur irgendetwas daraus wird.
Schon das zahlenmäßige Limit ist ein Problem. Deutschland hat sich gemeinsam mit anderen EU-Staaten wie Frankreich, Irland, Portugal und Finnland Mitte März geeinigt, bis zu 1600 Geflüchtete von den griechischen Inseln aufzunehmen. Einen Bruchteil also nur der Zehntausenden, die alle miteinander evakuiert werden müssen.
Und will Deutschland wirklich erst handeln, wenn es eine Verständigung auf europäischer Ebene gibt? Mutmaßlich also erst dann, wenn die Coronakrise in Monaten überstanden ist?
Die Appelle klingen mehr als dramatisch - zurecht. „Es muss jetzt gehandelt werden, wenn man die Flüchtlinge nicht in einem zynischen Selbstversuch sich selbst überlassen will“, sagt Karl Kopp von der Organisation Pro Asyl. Der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt, der sich seit mehreren Wochen auf Lesbos aufhält, wirft Griechenland vor, ohne Not das Asylrecht außer Kraft gesetzt zu haben. Zudem gebe es in dem Land „teilweise versteckte Einrichtungen, in denen illegale Abschiebungen und Folter“ stattfänden.
Prominente appellieren an Seehofer
Es gibt die Kampagne #LeaveNoOneBehind mit dem Ziel, Moria und andere Lager auf den griechischen Inseln vollständig zu evakuieren. Auf Youtube fordern zudem, schockiert über die Lage in Griechenland, mehr als 60 Prominente von Seehofer: „Retten Sie die Flüchtlinge in Griechenland“. Der Innenminister solle sein Einverständnis geben, „damit die über 100 Städte, Gemeinden und Kommunen, die sich bereit erklärt haben, besonders Schutzbedürftige aufzunehmen, dies endlich auch tun können“, schreiben die Petenten - unter anderem Jürgen Vogel und Katja Riemann - zur Begründung.
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Die in Dresden gegründete Hilfsorganisation Mission Lifeline hat 55.000 Euro gesammelt, um ein Flugzeug aus Lesbos für 100 Geflüchtete zu chartern. Nicht, um die Staaten und Regierungen aus der Verantwortung zu nehmen. Sondern um mit gutem Beispiel voranzugehen. Auf ihren Vorschlag hat Mission Lifeline vom Seehofer-Ministerium nicht einmal eine Antwort bekommen.
Es sieht danach aus, als würde sich ein unwürdiges Spiel wiederholen, das bereits im Zusammenhang mit dem Malta-Abkommen zur Flüchtlingsübernahme zu beobachten war. Im September 2019 hatten sich Deutschland, Frankreich, Malta und Italien auf einen Übernahmemechanismus geeinigt, der wochenlange Fahrten von Rettungsschiffen verhindern sollte. Die Zusage, Bootsflüchtlinge nach Deutschland zu bringen, brachte Seehofer damals Respekt ein - und Ärger mit seiner CSU. Fünf Monate später zeigte sich: Es kommt niemand an.
Jetzt geht es wieder darum, das schlimmste Leid zu mildern. Deutschland schafft es, Zehntausende gestrandete Urlauber aus aller Welt zurück nach Deutschland zu holen, etwa 10.000 kommen Tag für Tag an. Aber bisher nicht ein einziger Flüchtling aus den Elendslagern auf den griechischen Inseln sitzt in einem Flieger nach Deutschland. Kein Kind, kein Kranker, keine Mutter, kein unbegleiteter Minderjähriger. Die angekündigte Hilfe kommt, wenn überhaupt, zu spät - und sie wird wohl bei weitem nicht genügen. Paulus? Von wegen. Seehofer ist drauf und dran, erbärmlich zu versagen. Vielleicht bleibt er sogar absichtlich der alte Saulus.