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Die Auschwitz-Überlebende Jadwiga Bogucka präsentiert ein Foto von sich aus dem Jahr 1944.
© Reuters

Siebzig Jahre nach der Auschwitz-Befreiung: Ende der Verdrängung

Das deutsche Schweigen nach 1945 war der Versuch einer Selbstreinigung auf Kosten der Wahrheit. Jetzt beginnt eine neue Generation, sich der Geschichte ihrer Eltern und Großeltern zu stellen.

Im Spätsommer 1964 bekam Marcel Reich-Ranicki einen Anruf einer Mitarbeiterin des NDR. Sie wollte ihn interviewen, unter anderem zu seiner Zeugenaussage vor dem Münchner Schwurgericht im Verfahren gegen einen ehemaligen SS-Obergruppenführer. Der Mann wurde dann wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300 000 Fällen verurteilt, er kam nach fünf Jahren aus der Haft wieder frei. Die Radioreporterin, 30 Jahre alt, traf sich mit dem Autor, damals Literaturkritiker der „Zeit“, im Hamburger Café Funk-Eck auf der Rothenbaumchaussee in der Nähe vom Sender. „Ihre Fragen waren exakt und intelligent“, erinnerte sich Reich-Ranicki, „sie kreisten um ein zentrales Problem: Wie konnte das geschehen?“

Das Gespräch dauerte länger als geplant. Beim Abschied sah der Befragte, dass seine Interviewerin Tränen in den Augen hatte. Später fragte er sich selber: „Warum hat sich Ulrike Meinhof, deren Zukunft ich nicht ahnen konnte, so tief meinem Gedächtnis eingeprägt? Könnte dies damit zu tun haben, dass sie die erste Person in der Bundesrepublik war, die aufrichtig und ernsthaft wünschte, über meine Erlebnisse im Warschauer Ghetto informiert zu werden?“ Man lebte, noch in den frühen sechziger Jahren, im „Labyrinth des Schweigens“, wie der 2014 angelaufene Spielfilm über Fritz Bauer heißt, den Initiator der Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main. Wer das Schweigen brach, ob öffentlich oder privat, gegenüber Opfern oder Tätern – und ob als Opfer oder als Täter – der verletzte in der Bundesrepublik der Nachkriegsjahre eine ihrerseits in schweigendem Einverständnis entstandene Konvention.

Das Schweigen nach Auschwitz

Die Epoche zwischen der „Stunde null“ und den Auschwitz-Prozessen, zwischen der Ost-West-Teilung des Landes und dem Beginn des politischen Erwachens Anfang der sechziger Jahre, gerät jetzt, 70 Jahre nach Kriegsende, unter anderem als historisierter Erzählstoff in den Blick der Öffentlichkeit. Kinder und Enkel bearbeiten die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern, in Büchern wie Sabine Bodes Sachbuch-Bestseller „Die vergessene Generation. Kriegskinder brechen ihr Schweigen“, in populären Narrativen wie dem Fernsehdrama „Das Zeugenhaus“ oder der ZDF-Serie „Tannbach, Schicksal eines Dorfes“. Breite Rezeption finden Bücher wie „Der wilde Kontinent“ des britischen Historikers Keith Lowes, der Europas Wirren nach 1945 beschreibt.

In Deutschland gehörte das Schweigen über Grauen und Terror der unmittelbaren Vergangenheit zur emotionalen Währungsreform des Wohlstands. Wie hätte sich das Wirtschaftswunder genießen lassen, ohne Scham und Schuld zu verdrängen? Doch allein die Tatsache, dass der von den Alliierten mit Milliardengaben beförderte ökonomische Fortschritt das religiös konnotierte Wort „Wunder“ enthielt, verrät viel: Die Deutschen empfanden den Wohlstand als völlig unverhofft, im Grunde unverdient, wie von höheren Gnaden auf sie gekommen. Parallel dazu entstand der Mythos der tapferen Trümmerfrau und der fleißigen Deutschen, die sich aus eigener Kraft aus dem Schutt erhoben hatten. Die Milliarden des US-Marshallplans wurden dabei kaum erwähnt.

Verbrennung der NS-Dokumente

Auf den Tapeten, da, wo das Porträt des „Führers“ gehangen hatte, war in vielen Wohnungen oft noch ein helles Rechteck zu sehen, eine Leerstelle im Wortsinn. Symbolisch lässt sie sich als Auftakt eines Säuberungsschweigens lesen, als dessen physische Repräsentanz. Millionenfach entfernten die Besiegten nach 1945 die Zeichen ihrer Loyalität mit dem Regime. Ehe die alliierten Besatzer die Beweise finden sollten, wurden Uniformen von Wehrmachtsangehörigen verbrannt, Bücher wie „Mein Kampf“, NS-Dokumente, Urkunden, Briefe, Fotografien. In Hinterhöfen und Datschengärten brannten die Feuer, in Mülltonnen und Kachelöfen.

Am Ende ihrer sadistischen, massenmörderischen Menschenjagd waren aus den Menschenjägern Leute in Furcht und Panik geworden, die auch ihr Gewissen zum Schweigen bringen wollten. Ihr stärkster Feind war die Wahrheit. Besser, man stellte keine zu existenziellen Fragen. Wo gefragt wurde, geschah es oft in Selbstmitleid. Prototypisch dafür war der Kriegsheimkehrer Beckmann in Wolfgang Borcherts 1947 in Hamburg uraufgeführtem Drama „Draußen vor der Tür“. In der zertrümmerten Stadt verhallt das zwischen Hohn, Anmaßung und Verzweiflung oszillierende Rufen des jungen Mannes: „Wo ist denn der alte Mann, der sich Gott nennt? Warum redet er denn nicht? Gebt doch Antwort! Warum schweigt ihr denn? Warum? Gibt denn keiner eine Antwort? Gibt keiner Antwort? Gibt denn keiner, keiner Antwort???“

Die Verzweiflung von Borcherts Beckmann bezieht sich nicht auf die Todesfabriken des Nationalsozialismus. Vielmehr geht es dem Ex-Soldaten um seine Einsamkeit, seine Verzweiflung. Andere Stimmen waren rar. Wolfgang Staudtes 1946 gedrehter Film „Die Mörder sind unter uns“ über das durch existenzielle Spannungen aufgeladene Nebeneinander von Opfern und Tätern zwischen den Trümmern blieb auf Jahrzehnte ein Solitär.

"Opa war kein Nazi"

Zwar war die Gesellschaft in den ersten Nachkriegsjahren vom Wirtschaftswunder noch weit entfernt. Damit es sich überhaupt anbahnen konnte, mussten realistische, politische Fragen wie Antworten draußen vor der Tür bleiben. Komplize des Verstummens über die Taten war das vertuschende Sprechen. Ein Diskurswechsel hatte eingesetzt. Beliebt wurden ontologische Begrifflichkeiten, hinter denen die NS-Zeit als gesellschaftliche Hervorbringung verschwand. Wie von einem Naturereignis sprach man über die „dunklen Wolken“ einer Epoche, oder „die schlimmen Jahre“, als habe es sich um eine Naturkatastrophe gehandelt. Lange ehe die Formel „Opa war kein Nazi“ entstand, hatte sich diese Haltung eingebürgert.

Hitler eine Art "Superman"

In seiner Studie „Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45“ (Frankfurt am Main 1999) hielt der Historiker Saul Padover, der als Erster für die US-Armee Deutsche interviewte, mit bitterer Ironie fest, Hitler sei offenbar eine Art „Superman“ gewesen, da er sämtliche Verbrechen allein begangen hatte, ohne Mittäter und Anhänger. Padover hatte Bauern und Bäuerinnen befragt, ehemalige Hitlerjungen und BdM-Mädchen, Angestellte, Lehrer, Juristen, Arbeiter, Hausfrauen, sämtliche Altersgruppen und Schichten.

„Niemand ist ein Nazi“, notierte wenig später auch die amerikanische Journalistin Martha Gellhorn, die im Rang eines US-Hauptmanns über den Krieg berichtet hatte. „Niemand ist je einer gewesen.“ Es habe, hörte sie, vielleicht ein paar Nazis im Nachbardorf gegeben, „bei uns“ aber nicht. Juden? Sarkastisch notierte Gellhorn: „Ich habe einen Juden versteckt, er hat einen Juden versteckt, alle Kinder Gottes haben Juden versteckt.“ In diesem Land der Guten, resümierte Hans-Magnus Enzensberger, beschwor man den Humanismus und setzte auf bürgerliche Kulturheroen, insbesondere auf Goethe als Garant eines Abendlandes, das jetzt wieder Schlagzeilen macht.

Letzte Chancen für letzte Spurenrettungen

Woher kamen aber die Trümmer, die symbolischen Zeugen der Gegenwehr der Alliierten? Schon als Kind fragte sich das der Autor W. G. Sebald, geboren im letzten Kriegsjahr. Sebald hatte das Gefühl, es werde ihm „etwas vorenthalten, zu Hause, in der Schule und auch von den deutschen Schriftstellern, deren Bücher ich in der Hoffnung las, mehr über die Ungeheuerlichkeiten im Hintergrund meines eigenen Lebens erfahren zu können“. Für Sebald war das Beschweigen der zerstörten Städte ein Symptom für die „erstaunliche Fähigkeit der Selbstanästhetisierung“ einer ganzen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die Spuren auslöscht.

Heute bestehen letzte Chancen für letzte Spurenrettungen. Haushalte der letzten Zeitzeugen werden aufgelöst, Privatarchive ausgehoben, Dokumente ans Licht geholt, Tagebücher, Notizen, Briefe. Am Bundesarchiv wird seit zwei, drei Jahren ein enormer Anstieg an Nachfragen zur Rolle von Familienangehörigen während der NS-Zeit bemerkt. Doch häufig verläuft die Trennlinie, ähnlich wie in Missbrauchsfamilien, zwischen den Aufklärern und den Bagatellisierern, die den Rettern der Reste das „Herumwühlen in der Vergangenheit“ vorwerfen.

Erkenntnisse für die Zukunft

Nicht selten werden die Aufklärer einsam zwischen den übrigen Angehörigen, wie es der mutigen Rechercheurin Beate Niemann erging, als sie ihr Buch „Mein guter Vater“ veröffentlichte. In der Regel dominiert auch in den Familien eine Mehrheit, wenn es um Dokumente der Privatarchive geht. Man soll das „lieber wegtun“, es „diskret verschwinden“, im Altpapier zerschreddern lassen. Doch Dokumente des Zivilisationsbruchs gehören der Zivilisation. An ihr vergeht sich, wer solche Spuren zerstört. Denn es ist das Recht und die Aufgabe der Gesellschaft, mithilfe der Archivare, Historiker, Soziologen, aus allen Dokumenten, auch und gerade den privaten, Erkenntnis zu gewinnen, zu lernen. Geschuldet wird das den Nachkommen der Opfer wie der Täter. Und der Zukunft.

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