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Blick in eine Notunterkunft für Flüchtlinge in Bruchsal.
© picture alliance / dpa

Das Gedenkjahr 2014 in der Bilanz: 100 Jahre und kein bisschen weise

Das Gedenkjahr 2014 ist vorüber. Was hat es gebracht? Vor allem die Erkenntnis: Das nationale Gedankengut, das 1914 explodierte, findet sich auch heute noch überall in Europa – von Putin bis Pegida.

Am Ende des Jahres ziehen Tausende schweigend durch die Innenstädte, allen voran die Dresdner. Sie bilden eine Art wandelnde Schweigemauer, schwenken deutsche Fahnen. Und sind ein eklatantes, zeitgenössisches Symptom. Auch die Dresdner haben ein Jahr voller Gedenken hinter sich. Gedenken, das war die kulturpolitische Vokabel des Jahres 2014. Es galt dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, dem Ausbruch des Zweiten, den Auschwitzprozessen, dem Eisernen Vorhang, der Berliner Mauer und deren Fall.

Es nahm kein Ende: Die Rede war von Millionen Toten, von Lagern, Stacheldraht und der deutschen Schweigemauer nach 1945, die dem Bau der physischen Mauer vorausging und ihn lange begleitete. Damals war es eine Schweigemauer aus Scham, Strafangst und Verdrängung, Thema des aktuellen Kinofilms „Das Labyrinth des Schweigens“. Heute ist es eine ostentative Schweigemauer, eine aus Anklage, Trotz und Widerstand gegen vermeintliche „Überfremdung“. Lassen sich die Ereignisse zusammenlesen?

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war ein ganzes Jahr lang das 20. Jahrhundert präsent, in Rückschau, Deutung, Darstellung neuerer Forschung, als Mahnung, Warnung, Analyse. Mit zähen, unsichtbaren Fäden wurde 2014 wieder und wieder an 1914 gebunden, an die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts, auf deren Folie die weiteren Daten ihren Kontext erhalten sollten. Diese Verbindungsfäden ließen sich dehnen oder zusammenziehen. Hundert Jahre zwischen dem Einst und Jetzt: Daraus konnte eine unfassbar lange Zeitspanne werden, angefüllt mit derart mächtigen Umwälzungen in Politik und Technologie, dass sich 1914 aus dem Blickwinkel von Zeitgenossen mit Mobiltelefon und Facebook-Account ausnehmen konnte wie eine ferne Vorzeit. Aber es konnte sich auch als eine unfassbar kurze Zeitspanne zeigen. Keine zwei, drei Generationen entfernt hatten Großväter oder Urgroßväter auf den Feldern Flanderns für nationale Ideale gefochten, gegen Feinde in ganz Europa. Ein deutsches Soldatenlied diffamierte Frankreich als „armen Schneider Europas“, England als „neidische Kanaille“, Russland als dummen „Meister im Suff“ und Italien als „feiges Luder“.

In ganz Europa feiern rechte Gruppen Erfolge

Die Gruppen, die jetzt wortlos durch die Straßen ziehen, Kerzen haltend und Poster gegen „Denkverbote“ oder „Lügenpresse“, sind in den Augen mancher nichts weiter als eine Vorhut des relativ späten deutschen Aufschlusses zur grassierenden europäischen Rechten, die bei den Europawahlen im Gedenkjahr 2014 erschreckende Erfolge gefeiert hat. Belgien brachte den „Vlaams Belang“ hervor, Holland Geert Wilders, Frankreich Marine Le Pen, Dänemark Pia Kjærsgaard. Schweden hat die „Schwedendemokraten“, Großbritannien Nigel Farage, Griechenland die „Goldene Morgenröte“ und Ungarn, besonders düsterer Fall, lässt sich weiter von einem Antisemiten wie Viktor Orban repräsentieren.

Rechtspopulisten und Neonationalisten finden sich auch außerhalb Europas. In der Türkei will Recep Tayyip Erdogan das von Atatürk ausrangierte „Osmanisch“ als Pflichtfach durchsetzen und damit die arabische Schrift in die Köpfe der Schüler zwingen, auch damit sie besser den Koran lesen können. Erdogan träumt von einer Rückabwicklung der Reformen Atatürks. Das von ihm propagierte Türkentum soll an vergangene, imperiale Größe andocken. In Russland manövriert Wladimir Putin sein Land rückwärts Richtung Zarenreich. Während der Rubel ins Abseits rollt, ist Putin publikumswirksam und umjubelt unterwegs, um „russische Erde zu sammeln“, wie die Redewendung dort heißt, wenn mit Annexionen wie auf der Krim vermeintlicher Heimatboden zurückgeholt wird, der mit dem Zerfall der Sowjetunion verloren ging.

Europa macht eine Rolle rückwärts. Dieses Jahr sind gespenstische Vergleiche gezogen worden zum politischen Klima in der Vergangenheit, speziell vor dem Ersten Weltkrieg – über dessen Ursachen die Historiker indes streiten. Ihr Problem, erklärt Jürgen Osterhammel, sei die „Tiefenstaffelung der Ursachensequenz“: Ab wann war welches Ereignis vor, während, nach dem Ersten Weltkrieg unvermeidlich? Deutlich wird das Problem bei der Suche der Zunft nach der passenden Metapher. Taumelten Europas Eliten und Bevölkerungen 1914 als „Schlafwandler“ in den Ersten Weltkrieg hinein, wie der Historiker Christopher Clark behauptet? Oder sind sie vielmehr sehenden Auges, wie Lokomotiven ohne Bremsen aufeinander zugerast? Dieses Bild verwendet der Kulturhistoriker Gangolf Hübinger.

Die "Anderen" störten nach 1918 das Phantasma ethnischer Homogenität

Blick in eine Notunterkunft für Flüchtlinge in Bruchsal.
Blick in eine Notunterkunft für Flüchtlinge in Bruchsal.
© picture alliance / dpa

Interessant wird die Analogie zur Stimmung am Beginn des 20. Jahrhunderts, wenn man die Lesart des in Dublin lehrenden Historikers und Oxford-Absolventen Robert Gerwath berücksichtigt. In einem Essay für das Deutschlandradio lenkt Gerwarth, 1976 geboren und der wohl jüngste Weltkriegsdeuter, den Blick auf das Ende der multiethnischen Imperien nach dem Ersten Weltkrieg. Zerschlagen war das Osmanische Reich wie das der Habsburger, durch die russische Revolution beseitigt das Zarenreich der Romanows. Europas Territorium erfuhr eine radikale Neuordnung, in der das nationale Modell – basierend auf dem „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ – zum Sehnsuchtsziel der Nachfolgestaaten wurde, seiner Zerfallsprodukte.

Doch aufgesplitterte, multiethnische Imperien zerfallen so wenig in ethnisch homogene Teile wie Kuchen beim Aufschneiden in Teig und Früchte. Gerwarth argumentiert, „der Zerfall jahrhundertealter Großreiche in Mittel-, Ost- und Südeuropa in aggressiv-nationalistische Kleinstaaten“, die sich in der Logik des ethnischen Nationalismus fast durchgängig zu totalitären Regimen wandelten, habe früher oder später in die Katastrophe führen müssen.

Ein Ruck ging durch Europa - ein Rechtsruck

Die „Anderen“ störten das Phantasma ethnischer Homogenität – Armenier, Kurden, Griechen, Muslime, Serben. „Ethnische Säuberungen“ wurden Teil der Gesamtdynamik des Geschehens. Parallel baute sich Russland vom Zarenreich um zur Union der Sowjetrepubliken. Als Gegenmodell zum ethnischen Nationalismus bot die UdSSR eine politische Alternative, die auf Nationalisten bedrohlich wirkte. Radikaler Antikommunismus amalgamierte sich mit gewaltbereitem Antisemitismus, der den „jüdischen Bolschewismus“ zum Feindbild hatte..

Ein Ruck ging durch Europa – ein Rechtsruck. Gerwarth zitiert einen ehemaligen ungarischen Offizier nach dem Zweiten Weltkrieg: „Wir werden dafür sorgen (…) dass die Flamme des Nationalismus hochlodert.“ Schluss müsse sein, wettert der Mann, mit den „falschen Parolen des Humanismus“. Er wusste, was er meinte: Mit dem irrealen Projekt einer homogenen, „rassereinen“, biologistisch konnotierten Nation lässt sich Humanismus tatsächlich nicht vereinbaren. Rivalisierende Nationalökonomien, konkurrierende Kolonialmächte und der Rassenwahn des Nationalsozialismus: Aus diesem explosiven Gemisch entstand die Gewaltdynamik des 20. Jahrhunderts, die zuletzt in den jugoslawischen Bürgerkriegen der 90er Jahre neu aufflammte – als die Freude über den friedlichen Fall des Eisernen Vorhangs gerade groß war. Auch Jugoslawiens Zerfall folgte der Logik von Gerwarths Argument. Das blockfreie und finanziell von den Großmächten in Ost und West hofierte multiethnische Land war uninteressant geworden. In den Nachfolgestaaten machte man sich ans „ethnische Säubern“ und retroaktive Konstruieren nationaler Mythen.

Wenn jetzt in der Dynamik globaler Rivalitäten aller gegen alle die Unsicherheit wächst, wächst auch die Gefahr politischer Regression. Ihre Symptome sind sichtbar, sie bedient sich der von der digitalen Revolution bereitgestellten Mittel, verbreitet Gerüchte, Fremdenfurcht, Antisemitismus, fern jeglicher Fakten. BrüsselEuropa wirkt fassungslos, ohne Fassung, ohne Verfassungspatriotismus. Strukturelle Schlüsselfragen wie die sozialverträgliche Verteilung von Wohlstand und Chancen sind weder binnenstaatlich noch zwischenstaatlich gelöst.

Wo sich zwischenstaatlicher Ausgleich abzeichnet, wird er innerstaatlich zur nationalen Stimmungsmache verwendet. „Wir sollen für die Griechen, Rumänen, Bulgaren, Portugiesen zahlen? Für Flüchtlinge und Asylbewerber? Warum?!“ Das ist eines der Ressentiments der wandelnden Schweigemauer dieser Tage.

Restbestände aus den Epochen des Rivalisierens sind zuhauf in den nationalen Narrativen konserviert. Diese Konservenkeller sind voll, und gerade in Notzeiten und Krisen wird das Eingemachte gern wieder hervorgeholt, werden nationale Mumien wiederbelebt und ihre postmodernen Tänze als Folklore verkauft. „Invented tradition“, wie sie mit der Erfindung des Nationalstaats einherging, hat wieder Konjunktur, nicht nur in der Ukraine und in Russland. Noch ist das mörderische 20. Jahrhundert kollektiv nicht verarbeitet, so viel hat dieses Gedenkjahr klargemacht. Auch, dass Gedenken kein Nachdenken ersetzt.

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