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Der junge Staatsanwalt Johann Radmann (Alexander Fehling) im Labyrinth der Akten.
© dpa

Nachkriegs-Film „Im Labyrinth des Schweigens“: Die Hand des Mörders

Bleierne Zeit: Giulio Ricciarellis Kinofilm „Im Labyrinth des Schweigens“ erzählt die dramatische Vorgeschichte des großen Frankfurter Auschwitz-Prozesses.

Es ist eine deutsche Zeitreise. Junge Männer tragen Schlips, ob in der Uni oder im Büro, die älteren gehen nicht ohne Hut aus dem Haus und Frauen auch mit Kopftuch, die Möbel sind dunkel und die Gardinen schwer, in manchen Tapeten nistet der Staubrand noch der abgehängten Hitlerbilder. Man raucht, was das Zeug hält, tanzt im Petticoat und hört Ami-Platten, aber wenn einer mal das Holzkastenradio andreht, kommt gleich die Meldung, dass verheiratete Frauen auch weiterhin nur mit Zustimmung des Ehemannes einen Beruf ausüben dürfen. Und danach singt Vico Torriani, der zwar Schweizer ist, aber für die Deutschen zu Italien gehört wie die Korbflasche zum Chianti.

„Im Labyrinth des Schweigens“ heißt der erste Kinofilm des in München lebenden 49-jährigen Deutsch-Italieners Giulio Ricciarelli. Wir sind in den späten fünfziger Jahren, im noch immer vom Nachkrieg gezeichneten Wohlstandswesten, nicht lange nach dem Sieg von Bern. Seit Sönke Wortmanns Reanimierung jener Welt von 1954 hat kaum ein Film ähnlich akribisch die atmosphärischen Valeurs jener Zeit eingefangen: der Adenauer-Herberger-Neckermann-Ära, der Kriegsheimkehrer, der Opel-Kapitäne, der aufstrebenden Fußballwirtschaftsfräuleinwundergesellschaft.

Vom Verdrängen der NS-Vergangenheit

Das labyrinthische Schweigen meint hier das windungsreiche Verdrängen der NS-Vergangenheit. Kanzler Adenauer wollte die Versöhnung mit Israel und die Abwehr des „Soffjetkommunismus“, dafür sollte im Inneren Ruhe herrschen, Schluss mit dem Wühlen in braunen Sümpfen. Da passiert das: Ein Mann geht in Frankfurt /M. tagsüber am Zaun eines Schulhofs vorbei, drei Lehrer stehen als Aufsicht beieinander, einer, der Älteste, schwadroniert, autoritärer Typ, der Passant will sich eine Zigarette anzünden, doch hat er kein Feuer. Ungerufen eilt nun der autoritäre Lehrer zum Zaun und hält dem Fremden („Na, Sportsfreund!“) sein Gasfeuerzeug entgegen. Nahaufnahme: An der Hand des Lehrers fehlen zwei Finger. Der Mann mit der Zigarette fährt entsetzt zurück – er hat die Hand eines Mörders, die ihm als deportiertem jüdischen Jungen fast den Tod gebracht hätte, wiedererkannt. Der Lehrer – mit dem teutonischen Namen Alois Schulz – war einst sein Peiniger in Auschwitz.

Das wirkt auf der Leinwand noch plakativer, als es in diesen Zeilen klingt. Zu Beginn des Zweistundenfilms, der die jahrelange dramatische Vorgeschichte des Ende 1963 endlich eröffneten großen Frankfurter Auschwitz-Prozesses erzählt, glaubt man sich häufig noch in einem didaktischen Klipp-Klapp-Kino. Jedes Requisit, jeder zweite Dialogsatz oder selbst ein paar zufällige Töne aus dem erwähnten Radio enthalten eine Erklärung der Zeit. Doch irgendwann überrascht Ricciarellis Film sich selbst und fängt auch den anfangs leicht genervten Zuschauer ein. Es ist eine spannende, ungeheuerliche Geschichte, bei der ein junger Staatsanwalt über alles Unwahrscheinliche hinweg ins Labyrinth der noch braun durchsetzten bundesdeutschen Nachkriegsjustiz gerät. Staatsanwalt Radmann (Alexander Fehling) und sein zunächst skeptischer Kollege Haller (Johann von Bülow) ermitteln in einer Sache, deren historische Dimension sie erst allmählich ahnen.

Auschwitz, das "Schutzhaftlager im Osten"

Auschwitz, das sei doch nur so ein „Schutzhaftlager im Osten“ gewesen, heißt es hier im Kreis der abweisenden Juristen. Ob es so viel Nichtwissen wirklich gab über das, was Eugen Kogon, der Buchenwald-Überlebende und einflussreiche Publizist, schon 1946 in seinem Buch „Der SS-Staat“ die „Vergasungszentrale Europas“ nannte, sei dahingestellt. Schier unglaublich, aber wahr sind indes die praktischen Probleme: Das einzige Buch über das KZ-Auschwitz ist in der Frankfurter Bibliothek auf Monate ausgeliehen, Adressen Verdächtiger müssen per Handarbeit aus sämtlichen deutschen Telefonbüchern zusammengeklaubt werden, der Tatort liegt in einem Land, zu dem keine diplomatischen Beziehungen bestehen, jeder Anruf von Stadt zu Stadt braucht eine Anmeldung bei der Telefonvermittlung, wichtige Zeugen leben in Amerika oder Israel (auch dorthin gibt’s noch keine diplomatischen Beziehungen).

Es gab eine Million Ermordete und etwa 8000 KZ-Wächter in Auschwitz-Birkenau, und jedem Verdächtigen mussten einzelne Taten im konkreten Detail nachgewiesen werden. Der Film erzählt solch eine Herkulesarbeit: davon, wie Stecknadeln in einem monströsen Mördermisthaufen als Beweise gesucht werden. Lichtjahre vor Computern und Internet wird dies zum Justiz- und Geschichtsthriller.

Am aufregendsten ist dabei die authentische Figur des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, der wie die kluge kalte Spinne im Netz die Fäden der Prozessvorbereitung zieht. Gert Voss, in der letzten Rolle vor seinem plötzlichen Tod in diesem Sommer, spielt den ehemaligen Emigranten Bauer, der außerhalb seines Büros noch immer „Feindesland“ sieht: mit monumentaler Intensität. Weil selber ein Außenseiter und hinter aller Amtswürde hoch fragil, bleibt dieser General fast ohne Armee immer undurchschaubar auf der Hut. Dem jungen Radmann schenkt er sein Vertrauen, indem er es zur Sicherheit verbirgt. Das ist dann statt gut gemeint sehr gut gemacht.

In neun Berliner Kinos

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