Comic-Bestenliste: Die besten Comics 2015 – Lars von Törnes Favoriten
Welches sind die besten Comics des zu Ende gehenden Jahres? Das wollen wir von unseren Lesern und von einer Fachjury wissen. Heute: Die Top-5-Titel von Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne.
Auch in diesem Jahr fragen wir unsere Leserinnen und Leser wieder, welches für sie die besten Comics der vergangenen zwölf Monate waren. Parallel dazu war wie bereits in den vergangenen Jahren wieder eine Fachjury gefragt worden – die in diesem Jahr allerdings neu zusammengesetzt wurde. Die Jury bestand diesmal, mit Ausnahme des Tagesspiegel-Vertreters, komplett aus Comicschaffenden und Fachhändler/innen:
Sarah Burrini, Comic-Autorin und Zeichnerin ("Das Leben ist kein Ponyhof" u.a.) - ihre Favoriten finden sich unter diesem Link
Gesine Claus, Comic-Fachhändlerin (Strips & Stories, Hamburg) - ihre Favoriten finden sich unter diesem Link
Michel Decomain, Comic/Manga-Autor ("Demon Lord Camio", "Dead Ends" u.a.) - seine Favoriten finden sich unter diesem Link
Mawil, Comic-Autor und Zeichner ("Kinderland" u.a.) - seine Favoriten finden sich unter diesem Link
Daniela Schreiter, Comic-Autorin und Zeichnerin ("Schattenspringer" u.a.) - ihre Favoriten finden sich unter diesem Link
Lars von Törne, Tagesspiegel-Redakteur (www.tagesspiegel.de/comics) - seine Favoriten finden sich unter diesem Link
Micha Wießler, Comic-Fachhändler (Modern Graphics, Berlin) - seine Favoriten finden sich unter diesem Link
Frank Wochatz, Comic-Fachhändler (Comics & Graphics, Berlin) - seine Favoriten finden sich unter diesem diesem Link
Barbara Yelin, Comic-Autorin und Zeichnerin ("Irmina" u.a.) - ihre Favoriten finden sich unter diesem Link
Alle Mitglieder der Jury haben bis Ende November 2015 ihre fünf persönlichen Top-Comics des Jahres gekürt, die in den bis dahin vergangenen zwölf Monaten auf Deutsch erschienen sind. Jeder individuelle Favorit wurde von den Jurymitgliedern mit Punkten von 5 (Favorit) bis 1 (fünftbester Comic) beurteilt. Daraus ergab sich dann die Shortlist, auf der alle Titel mit mindestens fünf Punkten landeten. Diese Shortlist wurde dann abschließend von allen neun Jurymitgliedern erneut mit Punkten bewertet - daraus ergibt sich die Rangfolge der besten Comics des Jahres, die sich hier findet.
Hier dokumentieren wir die Favoriten von Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne.
Platz 5:
Ralf König/Nicolas Mahler: Porn Story (Rowohlt)
Ich liebe Ralf König für seine pointierten Dialoge, seine feinsinnigen Beobachtungen des menschlichen Wesens und die Fähigkeit, die wechselnden Gemütszustände seiner Figuren durch minimale zeichnerische Variationen auszudrücken. Und Nicolas Mahler für seine unvergleichliche Art, die Absurditäten des Alltags mit wenigen Strichen zu Papier zu bringen. In ihrem ersten Gemeinschaftswerk „Porn Story“ haben sich die beiden nun der heterosexuellen, männlich geprägten Pornografie und ihrer Spielarten angenommen. Allerdings ist das nur die Folie, um ein weiteres Mal höchst vergnüglich menschliche Beziehungen und die immerwährenden Spannungen zwischen den animalischen und den domestizierten Anteilen des männlichen Homo Sapiens auszuloten. Erzählt wird dies am Beispiel von Eberhard Schlüter, zu dessen sexueller Initiation auch die Teilnahme an einem Porno-Dreh gehörte – dessen Folgen ihn später einholen. Das gibt viel Stoff für unterhaltsame Verwicklungen, in deren Verlauf tradierte Geschlechterrollen und der öffentliche Umgang mit Sexualität ein weiteres Mal sehr amüsant hinterfragt werden. Das Schönste an diesem Buch ist allerdings, wie sich die unterschiedlichen und eigentlich nicht wirklich zusammenpassenden Zeichenstile von Mahler (der für die Pornoszenen zuständig ist) und König (der die Haupthandlung gezeichnet hat) kongenial ergänzen.
Platz 4:
Satoshi Kon: Opus (Carlsen)
Zum Vermächtnis des 2010 früh gestorbenen Manga- und Anime-Magiers Satoshi Kon gehört neben brillanten Filmen wie „Paprika“ und „Tokyo Godfathers“ auch dieser packende Meta-Thriller um einen Manga-Autor, der als Figur in seiner eigenen Story landet. Darin agieren telepathische Killer, ein maskierte Magier und andere Charaktere, die er geschaffen hat, über die er aber zunehmend die Kontrolle verliert. Klare Zeichnungen im Stil von „Pluto“ und „Akira“ helfen dabei, in der verschachtelten Geschichte nie den Überblick zu verlieren. Die Figuren sind fein differenziert ausgearbeitet, die Action- und Traumszenen von betörender Schönheit. Während die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen Handlung und Erinnerung zunehmend verschwimmen, kann man nur staunen, wie klug und unterhaltsam diese Auseinandersetzung mit der Rolle des Autors und der Dynamik des Geschichtenerzählens geraten ist. Rundum stimmig – bis hin zum abrupten Ende, das der Einstellung der Serie und dem Tod des Autors mit gerade mal 46 Jahren geschuldet ist.
Platz 3:
Roz Chast: Können wir nicht über was anderes reden? (Rowohlt)
Ein Buch, das wehtut, weil es um ein Thema geht, das uns allen bevorsteht, auch wenn wir es vielleicht noch nicht wahrhaben wollen: Das Altern und Sterben der eigenen Eltern – und irgendwann auch das eigene irdische Ende. Eigentlich kein Stoff, über den man gerne ein Buch liest, solange das Thema nicht akut ist. Daher habe ich „Können wir nicht über was anderes reden?“ anfangs nur als Teil des dienstlichen Lesepensums angefangen – und konnte dann gar nicht mehr aufhören. Wie Roz Chast es schafft, aus ihrer eigenen tragischen und doch ganz normalen Familiengeschichte eine allgemeingültige Erzählung über das Leben, den Tod und die Phase dazwischen zu destillieren, die dem Leser auch noch jede Menge komische Entlastung verschafft, das ist ein kleines Wunder. Faszinierend, wie sie die letzten Jahre ihrer hochbetagten Eltern und den eigenen, unbeholfenen Umgang damit thematisiert - und dank ihres trockenen Humors und des dazu passenden krakelig-reduzierten Strichs oft sehr unterhaltsam ist, auch wenn man beim Lesen immer wieder von Trauer gepackt wird. „Können wir nicht über was anderes reden?“ nimmt einem nicht die Angst vor dem Tod nahestehender Menschen. Aber es ermuntert einen, das Leben bis dahin zu genießen und dann dem Bevorstehenden mit offenem Visier entgegenzublicken. Außerdem ermahnt es die Leser dazu, sich mit einigen lebenspraktischen, aber unbequemen Fragen vielleicht lieber schon mal etwas früher auseinanderzusetzen.
Das hier sind die beiden Top-Titel von Lars von Törne
Platz 2:
Inio Asano: Gute Nacht, Punpun (Tokyopop)
Komischer Vogel, trauriger Vogel. Der Junge namens Punpun ist nur in Umrissen gezeichnet, ein Vogelkörper mit Schnabel, mehr sieht man lange nicht von ihm. Und lernt doch im Verlauf der 13 Bände von „Gute Nacht, Punpun“ sehr viel darüber, was ihn umtreibt. Um ihn ist es nicht gut bestellt: Die Mutter eine suizidale Alkoholikerin, der Vaterersatz-Onkel ein vom Leben überforderter Glückssucher, auf die vermeintlichen Schulfreunde ist auch kein Verlass. Und dann ist da noch Aika, die große Liebe, zu der er sich nie bekennt. Wie er überhaupt fast jede Chance verpasst, ein Stück vom Glück zu erheischen. Tieftraurig ist das, melodramatisch, auch kitschig. Und doch entfaltet diese Manga-Reihe einen erzählerischen Sog. Das ist auch dem zeichnerischen Kontrast zu verdanken: Hyperrealistische Kulissen und fein modellierte Figurenporträts treffen auf einen groben, nachlässig wirkenden Strich, mit dem Punpun und seine Familie dargestellt werden. Das visualisiert Entfremdung und lädt zugleich zur Projektion ein. Die Hauptfigur ist ein Jedermann, in dem der Leser Anteile seiner selbst oder anderer Menschen entdecken kann, auch wenn es wehtut. Nach und nach werden zudem die Geschichten von Nebenfiguren vertieft. Die verbindet vor allem eine Erkenntnis: Die Suche nach dem guten Leben ist ein alltäglicher Kampf.
Platz 1:
Jillian und Mariko Tamaki: Ein Sommer am See (Reprodukt)
Die beiden Tamaki-Cousinen sind mir erstmals 2008 durch ihre Coming-of-Age-Erzählung „Skim“ aufgefallen, die mit enormem erzählerischen und zeichnerischen Einfühlungsvermögen die Entfremdung einer jungen Frau in ihrer Highschool-Umwelt zeigt. Mit „Ein Sommer am See“ haben sich die beiden Kanadierinnen jetzt noch einmal selbst übertroffen. Vor allem sind es die Bilder von malerischer Schönheit, die Jillian Tamaki für die Geschichte der beiden Jugendfreundinnen Rose und Windy gefunden hat, die mich noch lange nach der Lektüre beschäftigten. Perfekt fangen sie das bittersüße Gefühl ein, das die Sommerferien der beiden Teenager am Rande zum Erwachsenwerden prägt: Einerseits sind die beiden noch Kindern und genießen die damit verbundene Freiheit und Unschuld, andererseits spüren sie, dass sich in ihnen, in ihrer Beziehung und um sie herum etwas verändert, das sie verunsichert. Um so mehr, als die älteren Jugendlichen in der Feriensiedlung am Seeufer und ihre jeweiligen Familien ihnen eine Vorahnung von den Untiefen des Erwachsenenlebens vermitteln. Die Dialoge von Mariko Tamaki sind fein auf den Bilderfluss abgestimmt und angemessen zurückhaltend eingesetzt, sodass eine intensive Atmosphäre entsteht, die im zeitgenössischen Comic ihresgleichen sucht.
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