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Lesen und lesen lassen. Bei der Vielzahl der neuen Comics fällt mitunter die Auswahl schwer. Die Tagesspiegel-Kür soll bei der Orientierung helfen.
© Jens Kalaene/dpa

Comic-Bestenliste: Die besten Comics 2015 – Barbara Yelins Favoriten

Welches sind die besten Comics des zu Ende gehenden Jahres? Das wollen wir von unseren Lesern und von einer Fachjury wissen. Heute: Die Top-5-Titel von Barbara Yelin („Irmina“).

Auch in diesem Jahr fragen wir unsere Leserinnen und Leser wieder, welches für sie die besten Comics der vergangenen zwölf Monate waren. Parallel dazu war wie bereits in den vergangenen Jahren wieder eine Fachjury gefragt worden – die in diesem Jahr allerdings neu zusammengesetzt wurde. Die Jury bestand diesmal, mit Ausnahme des Tagesspiegel-Vertreters, komplett aus Comicschaffenden und Fachhändler/innen:
Sarah Burrini, Comic-Autorin und Zeichnerin ("Das Leben ist kein Ponyhof" u.a.) - ihre Favoriten finden sich unter diesem Link
Gesine Claus, Comic-Fachhändlerin (Strips & Stories, Hamburg) - ihre Favoriten finden sich unter diesem Link
Michel Decomain, Comic/Manga-Autor ("Demon Lord Camio", "Dead Ends" u.a.) - seine Favoriten finden sich unter diesem Link
Mawil, Comic-Autor und Zeichner ("Kinderland" u.a.) - seine Favoriten finden sich unter diesem Link
Daniela Schreiter, Comic-Autorin und Zeichnerin ("Schattenspringer" u.a.) - ihre Favoriten finden sich unter diesem Link
Lars von Törne, Tagesspiegel-Redakteur (www.tagesspiegel.de/comics) - seine Favoriten finden sich unter diesem Link
Micha Wießler, Comic-Fachhändler (Modern Graphics, Berlin) - seine Favoriten finden sich unter diesem Link
Frank Wochatz, Comic-Fachhändler (Comics & Graphics, Berlin) - seine Favoriten finden sich unter diesem diesem Link
Barbara Yelin, Comic-Autorin und Zeichnerin ("Irmina" u.a.) - ihre Favoriten finden sich unter diesem Link

Alle Mitglieder der Jury haben bis Ende November 2015 ihre fünf persönlichen Top-Comics des Jahres gekürt, die in den bis dahin vergangenen zwölf Monaten auf Deutsch erschienen sind. Jeder individuelle Favorit wurde von den Jurymitgliedern mit Punkten von 5 (Favorit) bis 1 (fünftbester Comic) beurteilt. Daraus ergab sich dann die Shortlist, auf der alle Titel mit mindestens fünf Punkten landeten. Diese Shortlist wurde dann abschließend von allen neun Jurymitgliedern erneut mit Punkten bewertet - daraus ergibt sich die Rangfolge der besten Comics des Jahres, die sich hier findet.

Hier dokumentieren wir die Favoriten von Barbara Yelin, Autorin des Vorjahressiegers „Irmina“ (erschienen bei Reprodukt):

Platz 5:
Alexandra Rügler: The Ballad of the Barefoot Bandit (Jaja-Verlag)
Der schmale Band von Alexandra Rügler war eine Bachelorarbeit, erstellt in der Klasse von Atak. Hier zeigt sich, weshalb der Jaja-Verlag (u.a.) so wichtig ist, denn er macht möglich, auch solche Debüts noch unbekannter Zeichner_innen zu entdecken. Die lakonisch erzählte Handlung basiert auf einer wahren Story: Ein barfüßiger jugendlicher Möchtegern-Gangster bringt sich selbst das Fliegen bei und legt eine spektakuläre zweijährige Flucht hin. Gute Entscheidung, dass er weder zum Helden noch zum Opfer stilisiert wird. Schön und großformatig gezeichnet, nur in blau und rot gedruckt, gelingt es der Autorin, zeichnerische Experimentierlust fast durchgehend mit einer schlüssigen Erzählung zu verschränken, was gar nicht so leicht ist. Ich bin schon sehr gespannt, was von ihr weiteres zu sehen und lesen sein wird.

Barbara Yelin im Selbstporträt.
Barbara Yelin im Selbstporträt.
© Zeichnung: Barbara Yelin

Platz 4:
Asaf Hanuka: Der Realist (Cross Cult)
Der israelische Zeichner Asaf Hanuka veröffentlicht seit fünf Jahren seine autobiografischen Comicstrips „The Realist“. Zum ersten Mal liegt jetzt ein Sammelband auf Deutsch vor. Sein Alter Ego wechselt darin oft in eine Superheldenidentität, trotzdem geht es meist um alltägliche Dinge: ums Zeichnen, um das Leben in Tel Aviv, um Elternschaft, Beziehung, Familie. Um alles also. Könnte beliebig sein. Aber wenige verstehen wie Hanuka, doppelschichtige Storys zu erzählen: erst beim zweiten Lesen schwant einem oft eine parallele Fragestellung politischer oder gesellschaftlicher Art. Meist stellt er dabei aber nicht die anderen, sondern sich selbst in Frage. Stellvertretend übergibt er damit an den Leser. Trotzdem funktionieren die Strips bereits ohne doppelten Boden. Unschlagbar auch z.B. die Seite über den Zeichner, der als Kopf nur ein gekritzeltes Wirrwarr hat. Er zeichnet das Wirrwarr auf sein Blatt. Danach ist sein Kopf ist wieder intakt, wie er erleichtert feststellt. Doch dann, als sein Sohn die Zeichnung heimlich anschaut, kriegt dieser ein Wirrwarr statt Kopf, undsoweiter... Genau so ist’s!

Platz 3:
Aike Arndt: Das Nichts und Gott (Zwerchfell)
Die Erde ist ein Backunfall von Gottes Großmutter, die den missglückten Teigklumpen zum Spielen freigibt. Gott ist eine Göre, freundlich, aber etwas unbedarft. Es treten sonst noch Nietzsche auf, der Teufel, ein paar Menschen, Schneeflocken, Berge, und natürlich das Nichts. Aike Arndts Episoden-Buch ist schon der zweite, noch bessere Band in der „… und Gott“ - Reihe, die hoffentlich noch Nachwuchs bekommt. Es ist locker gezeichnet, sehr lustig und anarchisch, und enthält trotzdem eine unaufdringliche Portion philosophischer Fragestellung. Für mich ein super Gleichgewicht von toller Sinnlosig- und Sinnhaftigkeit. Erfreut meiner Erfahrung im Freundeskreis nach auch comic-unspezifische Leser, deshalb ein gutes Weihnachtsgeschenk für alle. Außer vielleicht für allzu Gläubige, oder vielleicht grade für die.

Das hier sind die beiden Top-Titel von Barbara Yelin

Platz 2:
Richard McGuire: Hier (Dumont)
Der Titel erschien bereits Ende 2014, aber erst nach der letztjährigen Tagesspiegel-Wahl, und soll deshalb noch Erwähnung bekommen: Einer der überwältigendsten Comics der letzten Jahre, der zu recht alle möglichen Preise bekommen hat. Dabei klingt die Idee simpel: das Buch zeigt immer die gleiche Zimmerecke zu verschiedenen Zeiten. Aber daraus ist, mittels zeitlicher und sequentieller Verschachtelung, sparsamen Einsatzes von Dialog und präzisester Setzung von Leerstellen ein Werk geworden, das wie nichts zuvor das aufregendste Werkzeug des Comics ausreizt: die Lücke zwischen den Bildern. Der Leser wird zum Reisenden zwischen den verschiedenen Seiten und Zeiten, die hier Millionen Jahre umspannen. Wie McGuire dazu selbst sagt: „We are all time-travellers“. Am Schluss bleibt das Gefühl von Vergeblichkeit und Vergänglichkeit, und gleichzeitig die Erkenntnis, dass die eigentliche Feier des Lebens dem kleinsten Augenblick gilt. Mind-blowing.

Platz 1:
Roz Chast: Können wir nicht über was anderes reden (Rowohlt)
Roz Chast, seit Jahrzehnten Haus-Cartoonistin des New Yorker, berichtet von ihren Erfahrungen mit dem Altwerden ihrer über 90-jährigen Eltern, bis zum Tod. Gezeichnet hat sie das skizzenhaft und rough, auch erzählerisch kann man es kaum weniger rührselig machen. Mich hat die collagenhafte Erzählweise begeistert, scheinbar ungeordnet reiht sich eine Episode an die andere, dazwischen einzelne Cartoons, auch Fotos; mal ist es unfassbar komisch, bei der nächsten Seite bleibt einem das Lachen im Hals stecken, oft alles gleichzeitig. Die Vielschichtigkeit von Gefühlen und Erinnerungen ist damit genau erfasst. Es geht um den Alltag und die Absurditäten von Familie, um den Umgang mit dem Altwerden und dem Sterben, auch um die Geschichte der Nachfahren jüdisch-russischer Einwanderer in New York. Schwarzhumorig, authentisch und sehr liebevoll, samt der Einsicht, dass man die Eltern nicht mehr ändern kann. Tex Rubinowitz hat für die deutsche Ausgabe das Lettering gemacht und ein kleines Nachwort geschrieben. Hier wird wieder klar, dass – und vor allem WIE – Comics eben alles abbilden und erzählen können.

Lesen und lesen lassen. Bei der Vielzahl der neuen Comics fällt mitunter die Auswahl schwer. Die Tagesspiegel-Kür soll bei der Orientierung helfen.
Lesen und lesen lassen. Bei der Vielzahl der neuen Comics fällt mitunter die Auswahl schwer. Die Tagesspiegel-Kür soll bei der Orientierung helfen.
© Jens Kalaene/dpa

Barbara Yelin

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