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Sommerfreuden: Eine Szene aus „Ein Sommer am See“.
© Reprodukt

Neue Comics aus Kanada: Hier spielt die Musik

Wieso kommen einige der besten Comics derzeit aus Kanada, darunter die vielgelobte Erzählung „Ein Sommer am See“? Eine Spurensuche in Toronto.

Vielleicht liegt’s an den Rohstoffen. Nirgendwo sonst finden sich so reine Farbpigmente, nirgendwo sonst produzieren die Bäume so gutes Papier – so erklärte kürzlich der Zeichner Jesse Jacobs („Safari Honeymoon“) den Lesern der kanadischen Tageszeitung „National Post“ die Erfolgsgeschichte des kanadischen Comics. Ein Wunschtraum: Im Vergleich zu Japan, Frankreich und den USA ist Kanada nach wie vor ein kleiner Player. Dennoch vergeht in jüngster Zeit kaum ein Monat, in dem nicht ein weiterer kanadischer Titel auf Deutsch erscheint – darunter vieles, das zum Besten gehört, was der zeitgenössische Comic zu bieten hat. So waren am vergangenen Wochenende unter den Empfängern der Eisner Awards, die als höchste Comic-Auszeichnung der westlichen Welt gelten, wieder eine Handvoll Kanadier, darunter Mariko und Jillian Tamaki, deren Buch „Ein Sommer am See“ (die Tagesspiegel-Rezension finden Sie unter diesem Link) bei der Comic-Con in San Diego mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde.

Kurz zuvor kommen die beiden Cousinen zum Gespräch in ein Bibliothekscafé in Toronto. Die selbstbewusst wirkenden Mittdreißigerinnen ergänzen sich glänzend. Hier die mit floralen Tätowierungen bedeckte, kräftige Autorin Mariko im Blümchenkleid, die laut und schnell spricht und bei deren extrovertierter Art es nicht verwundert, dass sie seit dem Literaturstudium nicht nur Comics, Romane und Theaterstücke schreibt, sondern als politisch aktive Feministin und Lesbe auch mit Performance-Gruppen wie „Cheap Queers“ Geschlechterstereotype und Schönheitsideale attackiert. Dort ihre Cousine Jillian – schlank, schwarzes Kleid, ohne sichtbare Tätowierungen. Sie spricht ruhig und wählt jedes Wort, wie jemand, den es nicht ins Rampenlicht zieht und der es gewohnt ist, viele Stunden alleine am Zeichentisch zu arbeiten. Sie hat sich nach dem Kunststudium vor allem als Illustratorin und freischaffende Künstlerin einen Namen gemacht.

„Ich war als Kind immer uncool“

„Unsere Zusammenarbeit ist ein glücklicher Zufall“, sagt Mariko. Es begann vor acht Jahren mit einer Kurzgeschichte, der folgte die viel gelobte Coming-of-Age-Erzählung „Skim“, die die Entfremdung einer jungen Frau in ihrer Highschool-Umwelt zeigt. „Ich war als Kind immer uncool“, sagt Mariko Tamaki. „Zugleich war mir sehr bewusst, was man tun musste, um cool zu sein – das hat meine Wahrnehmung geschärft.“ Dazu kommt, dass sie sich schon früh zu Frauen hingezogen fühlte – während die anderen Mädchen (auch ihre Cousine) den Jungs hinterherliefen. Das prägte eine Sensibilität, die sich durch ihre Erzählungen zieht, die meist von jungen Frauen an der Schwelle zum Erwachsensein handeln. Beim aktuellen Buch harmoniert das perfekt mit Jillians Zeichenstrich, der filigrane Figurendarstellungen mit flächigen, gemalt wirkenden Landschaftskulissen verbindet.

Cousinen-Power: Jillian (li.) und Mariko Tamaki.
Cousinen-Power: Jillian (li.) und Mariko Tamaki.
© Lars von Törne

Das ist umso bemerkenswerter, weil die Zeichnerin auch ganz anders kann: Ihr ebenfalls kürzlich erschienenes Buch „Super Mutant Magic Academy“ versammelt die Strips ihrer von „Harry Potter“, den „X-Men“ und Videospielen inspirierten Webcomic-Reihe über den schrägen Alltag einer Gruppe von Schülern mit übermenschlichen Fähigkeiten. Hier wirken die Zeichnungen skizzenhaft und roh, der Humor schwankt zwischen derbe und tiefsinnig. Diese Verbindung von Independent und Mainstream zeichnet auch Marikos Werk aus: Neben ihren von der Riot- Grrrl-Bewegung beeinflussten Performances und den Comics mit ihrer Cousine schuf sie auch einen Band der Reihe „Teenage Mutant Ninja Turtles“ und war Autorin des Comics „Emiko Superstar“ für einen Ableger des DC-Verlages.

Trotz ihrer Erfolge in den USA sehen die Tamakis sich als typische Vertreterinnen der kanadischen Szene. „Unsere Geschichten sind durch und durch kanadisch“, sagt Mariko. „Die Atmosphäre, die Bedeutung der Jahreszeiten und der Natur, die verschneiten Winter und die heißen Sommer in der Blockhütte am See – und vor allem der gedämpfte, verhaltene Erzählton und der subtile Humor, das ist alles typisch für uns.“

Zwischen Superhelden und persönlichen Geschichten mit Tiefgang

Die Cousinen stehen für eine stilistische Offenheit, die viele kanadische Comicschöpfer auszeichnet. Beide sind einerseits Kinder der in Kanada omnipräsenten US-Popkultur. Über ihre Familie (ihr Urgroßvater kam aus Japan nach Kanada) hatten sie Zugang zu japanischer Kunst und Literatur, die sie ebenfalls als prägend nennen. Daneben verarbeiteten sie viele europäische Einflüsse, die vor allem die Comicszene im französischsprachigen Kanada bis heute prägen. Mariko studierte Literatur in Montreal und nennt Zeichner wie den Belgier Hergé und den Italiener Igort als Einflüsse.

Eine ähnliche Offenheit und Vielfalt findet sich bei vielen kanadischen Zeichnern und Autoren der jüngeren Generation. So pendelt Jeff Lemire seit Jahren zwischen persönlichen Geschichten mit Tiefgang („Essex County“) und Mainstream wie „Superboy“. Auch der in Toronto lebende „Superman“-Zeichner Stuart Immonen und seine als Superhelden-Autorin erfolgreiche Frau Kathryn veröffentlichen immer wieder eigene Erzählungen, die vom europäischen Kunstcomic beeinflusst sind. Und Cameron Stewart wird als Autor und Zeichner von „Batwoman“ wie auch als Schöpfer eigener Erzählungen wie „Sin Titulo“ gefeiert.

Zwischen den Stilen: Michael Cho in seinem Atelier in Toronto.
Zwischen den Stilen: Michael Cho in seinem Atelier in Toronto.
© Lars von Törne

Ein Comic-Grenzüberschreiter ist auch Michael Cho. Wir treffen den Zeichner in seinem Einfamilienhaus in West-Toronto, wo er sein Atelier hat. Auf dem Tisch liegen Originalzeichnungen seines Comics „Shoplifter“, der soeben auf Deutsch erschienen ist: die Geschichte von Corrina, einer Endzwanzigerin, die in einer Werbeagentur arbeitet und mit ihrem Leben nicht viel anzufangen weiß. Das ist autobiografisch geprägt, sagt Cho, der sich vor allem als Illustrator für das „Wall Street Journal“, die „Washington Post“ und Buchverlage einen Namen gemacht hat. Daneben hat Cho, der als Sechsjähriger mit seiner Familie aus Korea nach Kanada zog, immer wieder kurze Comics in Anthologien, im Internet oder im Eigenverlag veröffentlicht und die Kinder-Detektivserie „Max Finder Mystery“ illustriert.

Ohne Berührungsängste

Ähnlich wie die Erzählungen der Tamakis leben auch Chos Arbeiten von Zwischentönen. „Ich habe sehr hart daran gearbeitet, möglichst viele subtile Gesichtsausdrücke hinzubekommen“, sagt der Zeichner über die Hauptfigur seines neuen Buches. Vieles drücke er daher mit wortlosen Panels aus, in denen kleine Gesten das Innenleben von Corrina zum Ausdruck bringen. „Sie glauben gar nicht, wie viel Zeit ich damit verbracht habe, verschiedene Stimmungen mit minimalen Veränderungen in ihren Augenbrauen zum Ausdruck zu bringen.“

Die 100-seitige Erzählung „Shoplifter“ ist sein bislang größtes Werk – und eine bemerkenswerte Fusion der Einflüsse, die ihn als Zeichner prägten. Die Suche der jungen Protagonistin nach einer Richtung im Leben ist ein typisches Motiv von Independent-Comics, zeichnerisch aber erinnern die exakt durchkomponierten Bilder an Werbeillustrationen der 60er Jahre oder an Retro-Superheldencomics von Darwyn Cooke. „Mein Herz gehört dem Schreiben und Zeichnen von Indie-Comics“, sagt Cho. „Aber meine Jugendliebe sind eben Superheldencomics.“

Er verschwindet in einer Atelierecke und kommt mit einem Stapel Veröffentlichungen wieder, die in dieser Vielfalt wohl nur wenige Zeichner vorzuweisen haben: Batman- und Superman-Sammelbände, Literaturzeitschriften wie „Taddle Creek“ mit Kurzcomics von Cho, und obendrauf Schwarz-Weiß-Comics, die der Zeichner eigenhändig in einem Copyshop vervielfältigt und getackert hat. Mit seiner Begeisterung für Mainstream- und Independent-Comics sei er lange „ein komischer Vogel“ in seinem Freundeskreis gewesen. Seit sich aber auch viele andere Zeichner und Autoren gerade aus Kanada an dieser Schnittstelle etabliert haben, könne er beiden Leidenschaften frönen, ohne dass sich jemand daran stößt.

Hinweis: Ein ausführliches Tagesspiegel-Interview mit Michael Cho findet sich unter diesem Link.

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