Gesund leben: Intelligentes Leben
Alltagskompetenz, Situationsschläue, Persönlichkeitsmerkmal: Intelligenz hat viele Seiten – was sie ist und warum sie uns menschlich macht.
Dort draußen, in den Weiten des Weltalls, gibt es da eigentlich intelligentes Leben? Das fragen wir Menschen uns schon seit Langem, aber eine endgültige Antwort darauf gibt es bis heute nicht. Wir suchen weiter. Allerdings ging dieser Suche bereits ein folgenreiches Finden voraus – denn die Tatsache, dass wir überhaupt nach fremder Intelligenz fahnden, beweist, dass wir uns unseres eigenen Intellekts bewusst und kognitiv genug entwickelt zur Selbstreflexion sind. Tiere und Pflanzen können das nicht. Im Vergleich zu ihnen sind wir also intelligenter.
Was ist Intelligenz?
Der Begriff Intelligenz leitet sich zwar vom Lateinischen »intellegere« ab, was so viel wie »verstehen« bedeutet und damit bereits anhand der Wortbedeutung auf eine schnelle Auffassungsgabe in ungewohnten Situationen verweist. Dennoch sind sich Wissenschaftler bis heute nicht einig, wie genau sich Intelligenz am besten beschreiben lässt. »Befragt man heute 20 Intelligenzforscher nach einer Definition, erhält man 20 unterschiedliche Antworten«, sagt Thomas Grüter, der als Arzt und Sachbuchautor zur Neurophysiologie forschte. Bis heute existieren mehrere, zum Teil rivalisierende Modelle zur Erklärung dieses Phänomens.
So entwickelte beispielsweise bereits 1904 der britische Psychologe Charles Spearman das bis heute in seinen Grundzügen akzeptierte Zwei-Faktoren-Modell der Intelligenz: Sie setzt sich danach aus einem g-Faktor und mehreren s-Faktoren zusammen. »Das ›g‹ steht dabei für ›general‹ und sagt aus, dass in verschieden vielen Intelligenzleistungen immer ein allgemeiner Intelligenzfaktor mehr oder weniger stark mitwirkt«, sagt Grüter. Somit vereinheitlichte Spearman also eine Vielzahl von Denkprozessen zu »der« einen Intelligenz. Nach dem heute gängigen Drei-Schichten-Modell dürfen wir uns die menschliche Intelligenz wie eine Firma im Gehirn vorstellen, in der es einen Vorstand (Generalfaktor), mehrere Abteilungen (Sekundärfaktoren) und bis zu 70 Arbeitsgruppen (Einzelfaktoren) gibt. Kritiker dieses Modells sehen darin allerdings ein statistisches Konstrukt und nehmen an, dass verschiedene Gehirnregionen weitgehend unabhängig voneinander das Gesamtergebnis erschaffen.
Der US-amerikanische Psychologe Robert Sternberg ging davon aus, dass Intelligenz auf mehreren Ebenen – nämlich im Rahmen analytischer, praktischer und erfahrungsbezogener Fähigkeiten – zum Tragen kommt: Intelligenz sei vorrangig als Interaktion des Individuums mit seiner Umwelt zu verstehen. »Für Sternberg ist Intelligenz keine feststehende Eigenschaft, sondern vielmehr der Prozess, wie Informationen verarbeitet werden«, sagt Grüter. Das mache dann auch den Unterschied zwischen den Intelligenzleistungen der einzelnen Menschen aus.
Kann man Intelligenz messen?
Ob Altersentsprechung, Berufsqualifikation oder Studierfähigkeit: Intelligenztests existieren in verschiedenen Formen sowie für unterschiedliche Zwecke. Dabei haben diese Tests gemein, dass man deren Ergebnis in der Regel als eine Zahl erhält.
Ein Blick in das Geschichtsbuch verrät, dass der französische Psychologe Alfred Binet und der Arzt Théodore Simon 1905 gemeinsam den ersten Intelligenztest für Kinder entwickelt haben. Der deutsche Psychologe William Stern teilte als Erster das Lebensalter durch das Intelligenzalter und nannte das Ergebnis „Intelligenzquotient (IQ)“. Sterns amerikanischer Kollege David Wechsler überarbeitete dieses Modell und führte 1932 eine Skala ein, die noch eine statistische Streuung um den Mittelwert berücksichtigte. »Heute kann man mit standardisierten IQ-Tests, die rund zwei Stunden in Anspruch nehmen, gut vorhersagen, wie erfolgreich man in der Schule oder später in der Universität sein wird«, sagt Experte Grüter. Dabei erfasst ein Intelligenztest allerdings ähnlich wie der PISA-Test kognitive Leistungen allgemeiner Art, aber keine speziellen Fähigkeiten. Schließlich können sich Begabungen unterschiedlich manifestieren, und ein Hirnchirurg kann nicht automatisch ein Haus bauen oder eine Oper komponieren – und umgekehrt. Heute liegt der Intelligenzquotient bei rund 70 Prozent der Weltbevölkerung zwischen 85 und 115, der durchschnittliche IQ eines geistig gesunden Erwachsenen beträgt 100.
Lässt sich Intelligenz mithilfe der Technik Imitieren?
Biologisch betrachtet sind für die Intelligenz besonders Vorgänge in der Großhirnrinde von Bedeutung, denn hier werden neuronale Erregungsreize in Empfindungen und Wahrnehmungen umgewandelt. Dadurch können wir denken, sensorische Impulse wahrnehmen und Bewegungen kontrollieren. »Wir wissen heute, dass besonders die Stirn- und Seitenlappen des Gehirns für die Intelligenz ausschlaggebend sind«, sagt Forscher Grüter. Das meine jedoch nicht, dass sich Intelligenz ausschließlich auf bestimmte Hirnareale eingrenzen lasse. Vielmehr spiele die Verschaltung der Hirnareale untereinander und damit das Hirn als Ganzes eine wichtige Rolle – genauso übrigens wie auch unsere Gene und Umwelteinflüsse. Viele Faktoren prägen also unsere Intelligenz. Und zusammen formen sie unsere Persönlichkeit und unser Weltbild.
Analog zu den komplexen Vorgängen im menschlichen Hirn versuchen Wissenschaftler schon seit Jahrzehnten, Intelligenz künstlich zu erschaffen oder anzuwenden. Heutzutage sind einige Geräte auch tatsächlich in der Lage, komplexe Daten verhältnismäßig intelligent verarbeiten zu können – wie etwa automatisches Sprachverstehen, die Erkennung natürlicher Muster oder auch die Möglichkeit, computergenerierte Gegner in Videospielen auf Aktionen des Spielers reagieren zu lassen. »Moderne Schachprogramme beispielsweise erreichen Großmeisterstatus und sind von Menschen nicht mehr zu besiegen«, sagt Experte Grüter.
Der entscheidende humane Faktor jedoch, der den Maschinen dabei fehlt, ist ein Selbstbewusstsein mit Abstraktionsvermögen. Also bleiben die Szenarios aus Science-Fiction-Büchern und -Filmen von durch Menschenhand geschaffenen Systemen, die aus eigenem Antrieb handeln und sich damit gar zur Bedrohung für die Menschheit entwickeln, vorerst fiktiv.
Macht Intelligenz glücklich?
Dem Intelligenten scheinen alle Türen offen zu stehen. Denn, so weiß man heute aus Studien, Intelligenz hat einen hohen Einfluss auf den Bildungserfolg – was sich oft in besseren Schulleistungen, einer steileren Karriere im Beruf und damit höherem sozialem Ansehen widerspiegelt. Deshalb denken einige Forscher, dass ein hoher IQ auch proportional glücklich mache.
Kritiker dieser Sichtweise meinen hingegen, dass Menschen mit niedrigerem IQ zufriedener seien, weil sie im Vergleich zu den Schlauen schlichtweg nicht intelligent genug seien, um die oftmals »bittere Wahrheit« verschiedener Lebensbereiche überhaupt zu erkennen. »Dass ein höherer IQ mit höher angesehenen akademischen Graden einhergeht, ist letztlich eine selbsterfüllende Prophezeiung«, sagt Grüter, »denn IQ-Tests wurden ja wie gesagt auf die Vorhersage akademischer Fähigkeiten hin konzipiert.« Im wirklichen Leben sei es hingegen relevanter, als wie erfüllend sich die berufliche Tätigkeit für einen selbst entpuppt – egal, ob man dabei Maurer oder Raketenwissenschaftler sei. Demnach hänge das Lebensglück also nicht vom Intelligenzquotienten ab.
Außerdem reicht ein hoher IQ allein nicht dazu aus, automatisch auch auf zwischenmenschlicher Ebene gut zurechtzukommen – denn nicht umsonst spricht man heute von emotionaler oder sozialer Intelligenz im Zusammenhang mit einem empathischen Grundverhalten. Am erstrebenswertesten scheint es also, wenn man sowohl mit Köpfchen als auch Kommunikationskompetenzen punkten kann – allein schon, weil man dann immer noch ein Ass im Ärmel hat, das schon Kurt Tucholsky blumig umschrieb: »Der Vorteil der Klugheit besteht darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwieriger.«
Unser Experte Thomas Grüter forschte als Arzt zu neuropsychologischen Themen. Er lebt in Münster und ist Autor des Sachbuches »Klüger als wir? Auf dem Weg zur Hyperintelligenz«.
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Weitere Themen der Ausgabe: Faktencheck. Spannende Infos über das Gehirn. Vernetzt. Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir etwas Neues lernen? Spielend schlau bleiben. Hellwach bis ins hohe Alter. Intelligenz lernen. 60 Prozent des menschlichen IQs bestimmen die Gene - den Rest müssen wir von Kind auf lernen. Stromlinien. Mit der Elektroenzephalografie machen Neurologen Hirnströme sichtbar - doch was bedeuten die Kurven? Das Stroke-Einsatz-Mobil. Schnelle Hilfe beim Schlaganfall: Ein Krankenhaus auf vier Rädern. Arztbrief. Wie man Schlaganfälle erkennt und therapiert. Reha nach Schlaganfall. Nach einem Hirninfarkt muss sich das Denkorgan neu organisieren. Langzeit-Reha. Den Alltag wieder lernen. Signalstörung. Zittern, Krämpfe, Muskelstarre lindern - wie Hirnschrittmacher gegen Parkinson helfen. Vorbote Schlafstörung. Eine REM-Schlafverhaltensstörung deutet auf Parkinson hin - und eröffnet Medizinern neue Therapieansätze. Auf eigenen Beinen. Multiple Sklerose muss nicht im Rollstuhl enden. BSE Ade? Gefahr begannt? was ist eigentlich aus der Rinderwahn-Epidemie geworden? Gewitter im Gehirn. Was bei Epilepsie hilft. Rasende Schmerzen. Ein Clusterkopfschmerz-Patient berichtet über ratlose Ärzte und verständislose Mitmenschen. Kater - ohne Alkohol. Woher die Migräne-Attacken kommen und was gegen den Kopfschmerz hilft. Kleine Blutsauger. Zecken sind auf dem Vormarsch - und übertragen gefährliche Erreger. Borreliose und FSME. Wie man die Zeckenkrankheiten erkennt und therapiert. Außerdem: Kliniken und Rehazentren im Vergleich. "Tagesspiegel Gesund" - Jetzt bei uns im Shop
Leonard Hillmann