Epilepsie: Gewitter im Kopf
Bei Epilepsie entladen sich viele Neuronen gleichzeitig im Gehirn. Die Folge sind Anfälle. Wenn Medikamente nicht helfen, kommt für einige Patienten eine OP infrage
Den ersten epileptischen Anfall hatte Marcel Virgiels bei der Arbeit, kurz vor Feierabend. Der Tief- und Kanalbauer wollte sein Werkzeug holen, stand schon am Rand der Baugrube. Zwei Meter ging es vor ihm runter. Plötzlich habe sein Körper die Regie übernommen, sagt er. »Er hat sich einfach umgedreht und ist weggegangen.« Unbewusst, wie ferngesteuert. Dann setzt seine Erinnerung aus. Im Krankenwagen setzt sie wieder ein. Rettungssanitäter sagen ihm, was passiert, wohin sie ihn bringen. Seine Reaktion: »Ins Krankenhaus? Nee, nix da! Ich habe jetzt Feierabend, ich fahre nach Hause!« Marcel Virgiels lacht. Natürlich sei er doch in der Klinik gelandet. 2013 war das, seitdem hat der 27-Jährige viel Zeit in stationärer Behandlung verbracht. Auch die vergangenen Tage. Diesmal allerdings mit der Hoffnung, dass es damit nun bald vorbei ist. Denn bei den Untersuchungen hier im Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge geht es um die Frage, ob die Epilepsie aus seinem Gehirn »herausoperiert« werden kann.
Epilepsie ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems – und zwar eine der häufigsten: In Deutschland sind rund 600 000 Menschen von ihr betroffen, allein in Berlin sind es rund 30 000, darunter 5000 Kinder. Den ersten Anfall erleiden die Betroffenen meist bereits in jungen Jahren – oder im höheren Alter, jenseits des 60. Lebensjahres. Die Neigung dazu ist entweder angeboren oder im Laufe des Lebens erworben, beispielsweise durch Verletzungen des Gehirns. Prinzipiell könnten einzelne epileptische Anfälle aber bei jedem Menschen auftreten, etwa bei hohem Fieber, sagt Martin Holtkamp, Chefarzt der Abteilung für Epileptologie am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge und Medizinischer Direktor des Epilepsie-Zentrums Berlin-Brandenburg. Von einer Epilepsie sprechen Ärzte daher erst dann, wenn sich die Anfälle wiederholen. Das ist bei Marcel Virgiels der Fall. Meist kommen sie nachts, manchmal auch tagsüber. Sie reichen von kurzen Momenten, in denen er geistig abwesend ist, nicht ansprechbar, wie weggetreten – einem sogenannten fokal-komplexen Anfall – bis hin zum sogenannten Grand Mal. Dabei wird der ganze Körper erfasst und zuckt wild, mit versteiften Gliedern, die Augen weit aufgerissen. Einmal hat Marcel Virgiels sich selbst bei so einem Anfall gesehen, auf einer Videoaufzeichnung hier aus der Klinik. »Das war schon schockierend«, sagt er.
Doch so dramatisch ein epileptischer Anfall auch aussehen mag, er geht fast immer recht schnell von alleine wieder vorbei. So dauert ein fokaler, also kleinerer Anfall zwischen 40 Sekunden und einer Minute, ein Grand Mal kann bis zu zwei Minuten anhalten. Danach sind die Betroffenen meist sehr benommen. An den Anfall selbst haben sie hinterher keinerlei Erinnerungen. Kein Wunder: Denn währenddessen tobt in ihren Köpfen etwas, das sich als »Gewitter im Gehirn« beschreiben lässt. Im Gehirn arbeiten Abermillionen von Nervenzellen zusammen. Normalerweise sind diese elektrisch geladenen Neuronen eng aufeinander abgestimmt, sie entladen sich koordiniert, um Signale weiterzugeben. Besteht jedoch ein Ungleichgewicht zwischen dem erregenden Botenstoff Glutamat und dem wichtigsten hemmenden Nerven-Botenstoff Gamma-Aminobuttersäure (GABA), können sie in eine Art Ausnahmezustand geraten. Ganze Neuronengruppen entladen sich dann synchron. Die Folge: ein epileptischer Anfall. Dessen konkrete Symptome können sich von Patient zu Patient unterscheiden. »Epileptische Anfälle gehen bei einem individuellen Patienten häufig von einem bestimmten, klar umrissenen Hirnareal aus«, sagt Holtkamp. »Je nachdem, welches das ist, passieren unterschiedliche Dinge.« Manche Patienten mit einer solchen fokal genannten Epilepsie litten unter Sprachstörungen, bei anderen zucke und versteife sich ein Arm. Zu einem Grand Mal käme es dann, wenn sich das Gewitter bei einem Anfall auf das gesamte Gehirn ausbreite. In extrem seltenen Fällen könne sich auch ein andauernder Anfall entwickeln, ein sogenannter Status epilepticus. »Dies ist ein Notfall, der sofort behandelt werden muss«, sagt Holtkamp. Bei einem »normalen« Anfall genügt es meist, den Betroffenen vor Verletzungen zu schützen, beispielsweise indem man ihn sanft festhält und seinen Kopf weich bettet. »Ein epileptischer Anfall selbst ist in der Regel nicht tödlich«, sagt Holtkamp. Gefährlich sei jedoch, dass die Anfälle immer und überall auftreten könnten: beim Schwimmen, am Steuer – oder, wie bei Marcel Virgiels, an einer tiefen Baugrube.
Den vollständigen Text finden Sie im Magazin für Medizin und Gesundheit in Berlin: "Tagesspiegel Gesund - Berlins Ärzte für Gehirn und Nerven".
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