Ferien der Kindheit: Zurück nach Oberharmersbach
In den 60er-Jahren war unser Autor zuletzt in dem idyllischen Dorf im Schwarzwald. Hier schoss er Tore und lernte schwimmen. Lässt sich dieses Gefühl wiederholen?
Der Brandenkopf muss noch sein, Tritt für Tritt. Hoch auf den Berg, auch wenn die Sonne runterstrahlt und den Schweiß aus den Poren zwingt. Die Besteigung des Brandenkopfes ist die Königsetappe all der Wanderungen in dieser Region. 946 Meter über Normalnull, dann noch mal 32 Meter auf dem steinernen Aussichtsturm, und dann dieser Blick: Da unten liegt der Schwarzwald, die oberrheinische Tiefebene, man könnte eventuell die Vogesen sehen, gar die Alpen. Weiß ich heute. Wusste ich es damals, hätte es mich beeindruckt?
Überhaupt. Berg? Wanderung? Königsetappe? Etliche Alpengipfel und den ein oder anderen Mountain in Alaska später, nach einer Umrundung Deutschlands zu Fuß, ist dieser Brandenkopf nur noch ein Hügelchen, ein Spaziergang zum Nachmittag. Aber, verdammt, ich bin 61 Jahre alt, ich strample auf dem E-Bike bergauf, hui, wie das saust.
Damals, vor vielleicht 50 Jahren, waren die 9,5 Kilometer von der Kirche im Dorf hoch zum Brandenkopf für den Knaben durchaus eine mörderische Wanderung. Wir mussten ja auch wieder runter, zurück ins Dorf, und dann noch mal zwei Kilometer bis zur Pension „Sonne“ im Dorfteil Riersbach.
Oberharmersbach damals wie heute eine Idylle
Gleich neben dem Holdersbach, in den wir nicht nur die Füße streckten nach der vollbrachten Erntearbeit beim Kornbauern, sondern ganz eintauchten auf der vergeblichen Jagd nach Forellen – Forellen mit der Hand fangen konnten nur die Dorfjungs. Wir bauten Staudämme im Holdersbach und planschten in den dadurch kurzzeitig sich bildenden Badewannen, bis der Holdersbach die statisch fragwürdigen Staudämme wieder einriss, und jetzt wird es ein wenig viel mit den Erinnerungen an die Urlaubstage der Kindheit.
Oberharmersbach, Dorf im nördlichen Schwarzwald, damals wie heute etwas mehr als 2000 Einwohner, damals wie heute eine Idylle, wenn auch nun stärker befahren, etwas weniger als eine halbe Zugstunde von Offenburg entfernt, damals Ort glücklicher Kindheitstage, heute Ziel einer Sentimental Journey.
Es existieren Fotos aus Oberharmersbach, auf denen der Autor brillenlos war, mithin noch keine zehn. Und es gibt ein exaktes Datum für einen Aufenthalt im Ort, den 20. August 1966. Damals hörte ich in der besagten „Sonne“ vom 2:1-Auswärtssieg der heimischen Fortuna aus Düsseldorf über Borussia Dortmund.
Anschließend spielte ich die Dorfjungs auf dem Rasen des Sportplatzes schwindelig, ich war schließlich erstmals Bundesligist und hatte gerade den Europapokalsieger in dessen Stadion besiegt. Bleiben wir mal bei der Version, dass ich die Dorf-Bolzer schwindelig gespielt habe.
Es hat ein bisschen Recherche gekostet, die alte Strecke zu finden
Ich erinnere nicht mehr, wie oft wir, die Eltern, meine Schwester Claudia und ich, in Oberharmersbach waren, vielleicht fünf Mal, vielleicht sechs Mal, aber es war immer traumhaft. Keine Ahnung, warum Oberharmersbach wiederkehrendes Urlaubsziel wurde, vielleicht, weil der Opa mütterlicherseits schon hier war. Eine Vermutung, auf die meine Schwester und ich kommen, als wir in der schönen Pension „Linde“ einen Spazierstock sehen mit aufgenagelten Wanderabzeichen, so einen hatte Opa in den 1950er Jahren auch.
Den Sportplatz meines Triumphes – zur Chronistenpflicht gehört es wohl zähneknirschend, dass der Sieg über Borussia Dortmund so ziemlich der einzige Sieg der Saison der Fortuna vor dem direkten Abstieg blieb –, diesen Sportplatz gibt es noch. Auf ihm liegt jetzt Kunstrasen, ein paar hundert Meter weiter wurde ein zweiter Platz angelegt, mit Naturrasen, aber auf dem dürfte wahrscheinlich kein großspuriger Stadtjunge mehr die Dorfjugend umdribbeln.
Angereist sind Schwester Claudia und ich wie früher, das heißt, mit dem Zug. Es hat ein bisschen Recherche gekostet, die alte Strecke ausfindig zu machen, aber das hat sich gelohnt. Der EC 9 von Düsseldorf nach Zürich fährt noch linksrheinisch. Es hat wohl damals keine Asylbewerberheime gegeben, an denen wir heute vorbeirollen, auch keine Graffiti auf Häuserwänden, aber der Blick auf Bonn, die Stadt meines Studiums, ist unverändert.
Wie die Mutter früher hat Claudia Eibrote geschmiert, die stanken damals das Abteil voll, jetzt kommen sie kurz nach Bonn zum Verzehr. Und kurz nach Boppard auch die Gummibärchen, die damals das erste Highlight auf der Urlaubsreise waren. Die Geschwister, 61 und 64 Jahre alt, Gummibärchen mümmelnd bei Boppard, wir waren damals schon sehr innig, wir sind es heute auch noch. Ist das die schönste Zugstrecke Deutschlands? Aber ja! Die – sorry, Heimatstadt – Klischee-Düsseldorferin gegenüber im Zug, betagt, protzig beringt, auf feine Dame getrimmt, aber vollprollig am Handy, kann das Rheintal nicht vermiesen.
Die einstigen Pensionswirte sind längst gestorben
In Offenburg steigen wir in die Pupsbahn um. Sie hat ihren Namen von damals. Da war sie ein Schienenbus, rot, wenn ich mich recht erinnere, und tönte namensgebend vor jedem unbeschrankten Bahnübergang. Macht sie noch heute, auch wenn die Übergänge inzwischen beschrankt sind. Gengenbach, Zell am Harmersbach, Unterharmersbach, Oberharmersbach, da ist sie, die Idylle meiner Kindheit.
Die „Sonne“ ist verblichen. Putz blättert ab, die Fensterscheiben starren blind vor Dreck. Die einstigen Pensionswirte, Herr und Frau Hummel, sind längst gestorben. Es hat wohl ein paar Versuche der Nachfolge gegeben, zuletzt wollte ein Investor ans große öffentliche Geld und baute die Zimmer um zu Wohneinheiten für Flüchtlinge. Doch dann kamen keine Flüchtlinge mehr, und jetzt stehen in den Zimmern, in denen wir schliefen, Herde, Kühlschränke und Stockbetten ohne Verwendung.
Albert oder Alfred, ich weiß es nicht mehr, der Jüngste der Familie Hummel, ihn habe ich das letzte Mal gesehen, als ich vielleicht zehn war und Albert oder Alfred ungefähr vier, wie er die Treppe hochrannte beim Sprint zur Toilette, es aber nicht schaffte, was am Malheur, das aus der Lederhose quoll, zu sehen war. Nicht dramatisch, es ging eben sehr familiär zu in der „Sonne“. Es besteht sicherlich kein Zusammenhang, aber Albert oder Alfred mochte den Elternbetrieb später, als er erwachsen war, nicht mehr weiterführen.
Was ein großer Verlust ist für kleine Kinder, die nun nicht mehr rüberlaufen können zum Kornbauern, um dort Kühe zu melken, Schweine zu treiben, bei der Ernte zu helfen, im Stroh zu toben, Traktor zu fahren und um Bauernhof nicht zu spielen, sondern zu leben. Auch können sie nicht mehr mit der eingefahrenen Ernte hoch auf dem Leiterwagen im Stroh hocken und anschließend mit dem Kornbauern und der Kornbäuerin und deren Töchtern und Söhnen und Knechten und Mägden in der großen Küche neben dem Schweinestall sitzen und Schwarzwälder Speck essen und – natürlich viel zu früh fürs Alter und viel zu früh am Tag – Most trinken. Wenn leben und arbeiten auf dem Bauernhof sich in Ferien auf dem Bauernhof mit Ziegenstreicheln und Trampolinhüpfen gewandelt hat, darf man das wohl einen großen Verlust für kleine Kinder nennen.
Die Linden am Bach sind einem Silo gewichen
Doch, ja, wir Kinder der Pensionsgäste waren billige Erntehelfer beim Kornbauern, aber wir waren vor allem willige Erntehelfer am Rechen, hoch motivierte Melker, wobei ich mich nicht erinnere, ob ich wirklich Milch aus den Zitzen presste. Einmal, da muss ich zwölf gewesen sein, ließ mich der Jungbauer Eugen sogar Traktor fahren. Ich bin noch heute kein Riese von Statur, und wenn ich das bedenke, werde ich wohl im Stehen gefahren sein, weil ich sonst nie an die Pedalen gekommen wäre. Sicherheitshalber saß Eugen neben mir auf dem Radkasten.
Der Jungbauer von einst ist heute der Altbauer, 76 Jahre alt, Eugen Lehmann, ich habe ihn sofort wiedererkannt. Längst hat sein ältester Sohn den Hof übernommen, der steht da noch gegenüber der „Sonne“, wie er immer da stand, der Fuhrpark ist allerdings größer geworden, um die modernen Traktoren zu fahren, bräuchte ich wohl mittlerweile ein Hochschulstudium.
Auch steht vorne an der Straße eine „Milch-Tankstelle“, wo sich die zahlreichen Biker, die durchs Tal rauschen, mit den Produkten des Kornbauern aus einem Automaten versorgen können. Und die Linden am Bach, ich vermute, dass es Linden waren, in deren Schatten der Bruder des Kornbauern immer sein Mittagsschläfchen abhielt, sind einem Silo gewichen. Der Geruch der Silage beißt sich stark mit unserem Geruchsgedächtnis. Die Kutsche, an die Schwester Claudia sich erinnert, die in der Scheune stand und in der wir, auch ohne vorgespannte Pferde, lange Fahrten durch Fantasia unternahmen, die, sagt Eugen Lehmann, die gibt es schon lange nicht mehr.
Auch die Idylle hat ihre grausige Seite
Wir sind diesmal mit den E-Bikes durch die Oberharmersbacher Realität 2017 gefahren. Es hat sich wenig geändert im Dorf, die Idylle lebt weiter. Ein paar Pensionen haben zumachen müssen, ein Problem der Familienbetriebe, wie Bürgermeister Siegfried Huber am lauschigen und launigen Abend unter der Linde vor der „Linde“ erzählt.
Auch sei es nicht gelungen, ein Haus der gehobenen Klasse anzusiedeln, eins mit Wellnessoasen und solchen Dingen. Zum Glück nicht, sagen die Geschwister. Aber auch der Bürgermeister scheint nicht allzu betrübt zu sein, dass der hochpolierte Tourismus einen großen Bogen um Oberharmersbach macht. Ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit ist das Credo des CDU-Mannes, eher Milieuschutz statt hemmungslosen Wachstums. Was ihn ausgesprochen sympathisch macht und uns unser Oberharmersbach erhält.
Es gibt jetzt im Dorf eine „Adventure Mini-Golf“-Anlage – ein ziemlich bescheuerter Name für eine erstaunlich liebevoll und in Natur und deren Tradition eingebettete Anlage. Andere beklagenswerte Kotaus vor der Moderne außer diesem Namen haben wir nicht gefunden, na gut, auch nicht gesucht. Wir sind Stätten der Erinnerung abgeradelt, wir waren im Zuwalder Tal, an dessen Ende die Maria-Hilf-Kapelle steht, von der Schwester Claudia behauptet, ich hätte dort an einem Sonntag voller Begeisterung am Glockenstrang zum Sonntagsgebet geläutet. Ich kann das nicht mal leugnen, weil es in einem Super-8-Filmchen dokumentiert ist. Der Vater hielt damals alles und jeden Schritt mit der Kamera fest, mithin auch jede Peinlichkeit.
"Ach, die haben es nicht so mit dem Herrgott"
Nun hat aber auch die Idylle ihre schmutzige, grausige Seite. Die kam an Fronleichnam zum Vorschein, als das Dorf mit Tschingderassabum und Spielmannszügen und Bürgerwehr im Gemeindesaal fromm sein wollte. Die Dorfkirche wird zurzeit saniert, sie ist geschlossen. Der Altartisch wird dabei auch erneuert, „der sündige Stein muss weg“, wie ein Dorfbewohner sagte.
Vor 20 Jahren nämlich kam heraus, dass der alte Pfarrer in den späten 60er und frühen 70er Jahren im widerlichen und regelmäßigen Stil hinter dem Altar die Messdiener missbraucht hat. Er hat sich später feige selber gerichtet, aber das Dorf, uns als sehr, sehr gottgefällig und gottesfürchtig in Erinnerung, ist damals offensichtlich stark vom Glauben abgefallen.
„Ach, die haben es nicht so mit dem Herrgott“, sagt die Kornbäuerin, als die halbe Bürgerwehr und die halben Spielmannszüge doch lieber draußen in der Sonne bleiben, statt im Gemeindesaal der Messe zum Festtag zu lauschen. Also noch ein Pluspunkt meines Oberharmersbachs, diese Verweltlichung.
Aber sonst, alles beim Alten geblieben. Das Freibad gibt es noch, hier habe ich Schwimmen gelernt, die Wälder gibt es auch noch, hier habe ich das Wandern gelernt und die Schwester, trotz einer eher unangenehmen damaligen Begegnung mit einer Kreuzotter, ihr ebenso stark ausgeprägtes Faible für die Natur entdeckt. Zwei Bienenvölker imkert sie heute.
Ach, Oberharmersbach, schönes, wundervolles Oberharmersbach, oh Jugendzeit, oh Kinderglück, für kein Geld der Welt kommst du zurück. Most haben wir auch keinen getrunken diesmal, dafür pupst die Pupsbahn bei der Abreise besonders schön.
Reisetipps für Oberharmersbach
ANKOMMEN
Man kann natürlich mit dem Auto anreisen. Schöner ist es mit dem Zug. Mit dem ICE bis Offenburg, dort umsteigen in die Bimmelbahn und gemächlich bis zur Endstation Oberharmersbach-Riersbach zuckeln. So nähert man sich idyllisch dem Ort. In dem Fall ist es jedoch ratsam, sich abholen zu lassen, denn Taxen sind in der Gegend rar. Was die Reisefreude etwas eintrübt: Eine Fahrt ohne Bahncard ist mit Preisen ab 230 Euro hin und zurück kein Schnäppchen.
UNTERKOMMEN
Zahlreiche Pensionen und Privatanbieter sind auf www.oberharmersbach.de zu finden. Besonders zu empfehlen ist das Gasthaus „Zur Linde“. Dortige Zimmer gibt es ab 29 Euro, eine Ferienwohnung kostet ab 45 Euro pro Einheit und Nacht.
SPEIS UND TRANK
Pflicht sind die Forellen. Die sind zwar aus der Zucht, der Zuchtteich aber ist Teil des rauschenden Harmersbachs. Zum Beispiel im „Jägerstüble“ oder „Zur Linde“ probieren.
Helmut Schümann
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