Erntehelfer in Brandenburg: Weiße Stangen, blutende Finger
Sie ernten Spargel für Berlin, zerstören sich dabei Rücken und Hände. Nach zwei Monaten fahren sie zurück nach Polen und Rumänien. Zu Besuch bei Erntehelfern.
Es ist eisig an diesem Maimorgen, aber der Spargel will raus, Raul muss arbeiten. Später wird es regnen, aber der Spargel wächst, Raul bückt sich in den Schlamm.
Der Spargel bestimmt. Jeden Sommer zwei Monate lang, wann Raul aufsteht – oft um fünf morgens – und wann er Mittag macht, hier in Schäpe bei Beelitz, auf den Spargelhöfen der Brüder Jakobs.
Zu Hause, sagt Raul, hat es jetzt 30 Grad. Zu Hause, das ist in Lupeni, einer Bergstadt in Siebenbürgen, im Südwesten Rumäniens, 30 000 Einwohner, die meisten leben vom Bergbau und vom Holzfällen. Raul, 30 Jahre, Zahnlücken, Glatze, Bärtchen, mixt dort Cocktails in einer Bar.
Er steht jetzt breitbeinig vor einer Bank aus sandiger Erde – darin wächst Spargel –, vor ihm eine blaue Maschine, die Spargelspinne. Sie lupft die schwarze Folie, die den anspruchsvollen Spargel wärmt, immer dort, wo Raul gerade sticht.
Wenn der Spargel seinen Kopf durch die Erde steckt, muss Raul ihn sofort ziehen, sonst verfärbt die Sonne die Spitzen violett, sie blühen auf. Das mögen die Deutschen nicht. Die Deutschen kaufen am liebsten daumendicke weiße Stangen, Bleichspargel, Klasse 1, etwa 8 Euro das Kilo. Raul hat sie erst einmal in seinem Leben gegessen. „Belanglos“, sagt er.
Nur wenige hundert Meter weiter, nahe der Kirche des 150-Seelen-Dorfes Schäpe, drängen sich die Besucher durch den Hofladen. 1996 haben die Brüder Josef und Jürgen Jakobs das verfallene Gebäude entdeckt und hergerichtet.
Seitdem wächst ihr Spargelimperium heran. In Beelitz haben sie einen zweiten Hof. Mehr als 1000 Gäste können gleichzeitig in Scheunen, Innenhöfen und Restaurants essen, Spargelklassiker, mit Kartoffeln, Kochschinken, Schnitzel. Sie können Streichelzoo und Feuerwehr-Cup besuchen, beim Schaustechen dabei sein. Wenn sie Glück haben, treffen sie die Spargelkönigin. Wenn sie Pech haben, ist es wieder so voll, dass die Kellnerin im Trachtenkleid sagt: „Sie haben noch acht Minuten, dann kommen die nächsten Gäste.“ Wer immer noch nicht genug vom Spargel hat, kann die Stangen auf mehr als 50 Ständen der Jakobsbrüder in Potsdam und Berlin kaufen. Auch im Winter muss niemand verzichten: 40 000 Dosen Spargelcremesuppe werden hier gerade eingekocht.
Raul flucht leise. Er hat einen Spargel zerbrochen, das fühlt er mit dem Spargelmesser, eine Art Schuhlöffel mit blauem Plastikgriff. Ist ihm lange nicht passiert, in seinem ersten Jahr oft. „Als Anfänger zerstört man mehr Spargel, als man erntet.“ Mit der linken Hand gräbt er den nächsten Kopf frei, klemmt ihn zwischen seine gespreizten Finger. Mit der rechten stößt er das Messer in die Erde, tastet nach dem Ende der Stange, ruckelt sie mit beiden Händen aus dem Boden. Wenn er gut ist, macht er diese Bewegung fünf Mal in der Minute, erntet 300 Spargel die Stunde.
„Im Fitnessstudio“, sagt Jürgen Jakobs, Rauls Chef, „würde man vielleicht nach 20 Minuten mit dieser Übung aufhören.“ Raul arbeitet acht bis zehn Stunden. Wie es der Spargel verlangt.
Raul wirft den Spargel in eine grüne Kiste. 10970 steht darauf, Rauls Nummer. Später, in der Sortierhalle, scannt ein Computer den Code und sortiert Rauls Ernte. Ein guter Spargelstecher hat sein Feld unter Kontrolle, weiß, welche Stangen er noch ein wenig stehen lassen kann.
Sechs Euro pro Stunde sind der Grundlohn. Für viele Spargel bekommt Raul Prämien, für gute auch. In einem Monat können das 1500 Euro netto werden. Zwei Monate Spargelstechen, dann hat Raul ein Jahresgehalt verdient. Seine Freunde in Rumänien beneiden ihn. Ein Kumpel hatte ihm vor fünf Jahren erstmals von den Deutschen erzählt, die so viel Geld für Gemüse ausgeben. Auch in diesem Frühjahr sind Rauls Freunde, seine Freundin Adelina, sein Vater, zusammen mit dem Bus hierhergefahren. 16 Leute, zwanzig Stunden, jeder hatte zwei Koffer dabei.
Gemeinsam wohnen sie im neu gebauten „Hotel“. Vor dem Haus haben die Jakobsbrüder Rasen gesät und Flieder gepflanzt. „Wir wollen ihnen ein angenehmes Ambiente bieten“, sagt Jürgen Jakobs. Drei bis vier Euro, genau wissen das weder Raul noch Jürgen Jakobs, zahlt er täglich für sein Stockbett; 45 Quadratmeter pro Zimmer, sechs Betten.
Durch den Raum haben sie eine Wäscheleine gespannt, da trocknen ihre Arbeitshandschuhe. Vor der Tür stehen lehmige Gummistiefel, eine Waschmaschine schleudert sandige Trainingshosen. Die Männer sitzen am Tisch, stopfen Tabak in Zigarettenhüllen. Bettwäsche hat Raul mitgebracht, die Spitzenvorhänge haben sie hier gekauft. Mit dem Putzen wechseln sie sich ab. Abends schauen sie Filme auf Rauls Laptop oder spielen Schach.
Der Spargelwahnsinn hat die gesamte Region ergriffen. Zu Wendezeiten waren in und um Beelitz zehn Hektar Spargelfeld – heute sind es etwa 1300. Pro Saison produzieren sie bis zu 8000 Tonnen. „Mehr“, sagt Manfred Schmidt vom Beelitzer Spargelverein, „verträgt die Region nicht.“ 2000 Helfer reisen jährlich an, 70 Prozent aus Polen. Seit 2012 immer mehr Rumänen; seitdem braucht auch Raul keine Arbeitserlaubnis mehr. Er hat eine rumänische Flagge an die Tür gehängt.
„Wir versuchen Polnisch zu lernen, sie sind schließlich überall. Wie Coca-Cola“, sagt Raul. Nur wenige können so gut Englisch wie Raul. Viele Polen sind mit dem Auto angereist. Wenn Raul einkaufen will, bei Lidl in Beelitz, muss er jemanden finden, der ihn mitnimmt. „Wir sind hier, um Geld zu verdienen“, sagt er. Vergangenes Jahr hat er mit dem Geld ein Auto gekauft, im August wird er davon Adelina heiraten. Daheim in Lupeni ist seine Bar geschlossen, die Skisaison ist lange vorbei. Er sucht richtige Arbeit in Deutschland, als Barkeeper. Weil er in Rumänien keinen Deutschlehrer findet, hört er beim Spargelstechen RBB. Er sagt, dass er schon viel versteht.
Jeder sechste Tag ist frei, dann spricht Raul seine zwei deutschen Sätze: „Ein Gruppenticket nach Berlin“ und „Ein Bier bitte“. In Berlin schickt er Geld heim, zur Mutter. Rauls Bruder ist auch zu Hause geblieben. „Er ist mit 21 noch zu jung für diese schwere Arbeit.“ Er selbst hat sich an den Schmerz gewöhnt. „Er hält nicht lange an“, sagt Raul. Zum Glück sei er klein, da müsse er sich nicht so weit bücken. Er lacht. Nur seine Fingernägel kriegt er gar nicht mehr richtig sauber.
„Es ist schrecklich, furchtbar, ich hasse es hier“, sagt Adelina. Sie lacht nicht. Sie sitzt auf Rauls Schoß, legt die Hände vor sich auf den Tisch. Raue, rote Flächen zwischen Daumen und Zeigefinger. Adelina schält Spargel in der Sortierhalle, etwa 200 Kilo am Tag, wie die meisten Frauen. „Am Anfang haben meine Finger nur geblutet“, sagt sie. Gegen die Feuchtigkeit wickelt sie sich Cellophan um die Arme, darüber kommen Gummihandschuhe. Der Spargel mag es trocken und heiß, solange er wächst, aber feucht und kalt, wenn er gestochen wurde. Von der immer gleichen Bewegung schmerzt ihr Kreuz.
Wenn die Saison losgeht, sieht Raul die teuren Autos. Das „Hotel“ liegt vorm Besucherparkplatz. „Die Deutschen haben keinen Stress. Sie haben Geld“, sagt er.
Vor ein paar Jahren gab es noch eine Quotenregelung, jeder fünfte Erntehelfer musste deutscher Staatsbürger sein. Die Arbeitsagenturen versuchten Langzeitarbeitslose für die Spargelernte einzusetzen. Nach wenigen Tagen meldeten sie sich mit Attest vom Arzt krank.
Nach den Jahren in Schäpe hat Raul drei Fragen: Warum essen die Deutschen immer Kartoffeln? Warum habt ihr diesen komischen Buchstaben, „ß“? Und warum will kein Deutscher diese Arbeit machen?
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