Lüneberger Heide: Der Letzte pustet die Kerzen aus
Kinder, Eltern und Großeltern fahren gemeinsam in die Ferien. Ein Experiment in der Lüneburger Heide.
Auf dem Heimweg flossen erst einmal Tränen. Unser Ältester weinte, weil er schon nach wenigen Metern seine neue Freundin vermisste; der zweite schluchzte ebenfalls: Ihm war klar geworden, dass er in der nächsten Zeit sicher keine „echten Hühnereier“, frisch aus dem Stall, essen würde, sondern wieder die aus dem Kühlschrank; die Tränen der Kleinsten galten dem Abschied von Opa und Oma; ihr Zwillingsbruder trauerte um die Schaukel in der alten Eiche, die eine Woche lang sein Lieblingsplatz gewesen war. Und wir Eltern beklagten uns insgeheim, dass die sorglose Zeit schon vorüber war.
Eine Woche war der Hof Rose unser Zuhause gewesen. Ein komfortabler Fleck am Ostrand der Lüneburger Heide mit idealen Bedingungen für unser ehrgeiziges Experiment, Urlaub mit drei Generationen zu machen: ein bisschen Wellness und Programm für die Großen, ein riesiges Gelände und Kinderbetreuung, regionale Küche und herzliche Gastlichkeit, landschaftliche Idylle sowie eine kurze Anreise für alle. Denn wir, eine sechsköpfige Großfamilie, leben in Hannover, die Großeltern in Berlin. Ob der alte Meierhof in der Nähe von Bad Bevensen hielte, was er versprach?
Schlägt man im Wörterbuch den Begriff „Urlaub“ nach, gibt es Erläuterungen wie „Freizeit“, „Regeneration“, „Erholung“ und „Pause“. Auch Umschreibungen wie „schönste Zeit des Jahres“ kommen einem in den Sinn und bei genauerer Recherche stößt man sogar auf ein Bundesurlaubsgesetz, in dem steht, der Urlaub solle vor allem der „Erhaltung und Wiederherstellung der Arbeitskraft“ dienen. Wer Kinder hat, weiß: Das gilt normalerweise nur für die anderen.
Wir haben vier tolle Kinder – im Alter zwischen zwei und sechs Jahren. Mit ihnen machen wir auch gern Urlaub. Doch der Erhaltung unserer Arbeitskraft diente dieser bisher nicht. Kein Kindergarten, keine Schule, keine Freunde weit und breit, und die Eltern alleine mit vier Nichtschwimmern am Strand oder mit vier Lauffaulen in den Bergen. Auch ein Frühstücksbüfett und ein serviertes Abendmenü im Hotel verlieren schnell ihren Reiz, wenn ein Kind heult, das andere den Kakaobecher umstößt und das dritte von den Herrschaften am Nachbartisch ausgeschimpft wird, weil es mit den Schuhen auf die Bank klettert. Kein Gedanke an einen Cappuccino in Ruhe oder gar ein Buch...
„Aus so einer Erfahrung heraus entstand 1987 Vamos“, sagt Uli Mühlberger, Gründer und einer von zwei Geschäftsführern des Familienreiseunternehmens aus Hannover. „Der Stress wird leider oft genau dann am größten, wenn wir doch eigentlich Erholung suchen“, weiß der 64-Jährige. „Denn das ganze soziale Netzwerk, das uns im Alltag stützt, ist im Urlaub nicht vorhanden.“ Und was vor 25 Jahren als kleiner Verein an einem WG-Tisch entstand, gilt heute als Deutschlands führender Spezialist für anspruchsvolle Familienreisen: 34 500 Reisende, davon rund die Hälfte Kinder, 40 Angestellte, mehr als 200 Kinder- und Gästebetreuer für 118 Reisedomizile in 17 europäischen Ländern.
Und eines dieser Domizile ist unser Hof Rose, eingebettet in Felder, Wälder und Wiesen und hinter blühenden Sträuchern am Ortsrand von Altenmedingen. Nach der Ankunft beziehen wir das alte Backhaus. Auf 120 hellen Quadratmetern finden wir mehr Komfort als erwartet und genießen bald auf der Südterrasse mit Blick auf Wiesen und Eichenwäldchen das erste Stück selbst gebackenen Apfelkuchens. Die Kinder sind schon im riesigen Baumhaus in vier Meter Höhe verschwunden – nicht ohne bereits Bekanntschaft mit Kindern aus Paris, Zürich und Düsseldorf gemacht zu haben.
Die Großeltern packen ihren Koffer in einem der 14 Zimmer im gegenüberliegenden Haupthaus aus – jedes einzelne individuell und erkennbar liebevoll von der Hausherrin eingerichtet, vor allem weit genug entfernt, um unbehelligt von potenziellem Enkellärm ausschlafen zu können und sich bei Bedarf auch am Tage mal zurückzuziehen.
Bauernhof für jedes Alter
Sabine von Borries, die Jüngste von fünf Rose-Töchtern, übernahm 1989 die Leitung des Hauses, das knapp 20 Jahre zuvor den landwirtschaftlichen Betrieb eingestellt hatte. Unter dem Stichwort „Ferien auf dem Lande“ wurden bereits damals die ersten Gäste umsorgt, die hier weit ab von Großstadtlärm und Hektik Ruhe und Entspannung finden. Mit Herzblut und unternehmerischem Geschick hat sich die studierte Betriebswirtin in den vergangenen Jahren daran gemacht, den alten Meierhof, der bereits auf viele Jahrhunderte Familiengeschichte zurückblickt, in einen Ort erstaunlich friedvoller Muße zu verwandeln.
Viele Produkte stammen aus der eigenen Jagd, dem eigenen Stall und der Hofküche sowieso. Die Kinder können sehen, woher die Lebensmittel kommen. So wie unser Sohn, der mir stolz seinen Fund aus dem Hühnerstall präsentiert: „Mama, das sind echte Hühnereier!“
Überhaupt stehen hier, wie es sein soll, die Interessen der Kinder und ihre außergewöhnliche Betreuung im Mittelpunkt. Und der Vamos-Gründer mit sozialpädagogischem Abschluss betont: „Wir bieten keine Aufbewahrung. Bei uns sollen die Kinder in ihrer Persönlichkeit gestärkt werden. Wir wollen, dass sie sich zu fröhlichen, mutigen und selbstbewussten Kindern entwickeln.“ Ob sie klettern oder backen, Filme drehen oder schnitzen lernen – wie bei Holzbildhauer Franz Greife, der den Sommer auf Hof Rose verbringt, um mit den Kindern zu sägen, schrauben, hämmern, bohren und raspeln.
Und während sich unter der Betreuung des Künstlers aus einem Stück Baum ein Kunstwerk, ein Flitzebogen oder sonst ein Objekt herausschält, schieben wir Eltern uns die Liegestühle unter die alten Bäume und sind einmal nicht zuständig. Die Großeltern fahren ins nahe gelegene Lüneburg, schlendern durch die verwinkelten Gassen und erfreuen sich an der norddeutschen Backsteingotik der Salz- und Hansestadt. Und jedes Mal, wenn Eltern und die Großeltern am Nachmittag die Kinder im Schatten der Bäume ausgeruht in Empfang nehmen, um nun unsererseits mit ihnen Ausflüge zu machen, Fußball zu spielen oder ihnen vorzulesen, wundern wir uns, welch friedliches Bild 17 Kinder mit Messern und Hobeln ausgestattet abgeben können.
Schon am ersten Abend löst sich die Tischordnung des Speisesaals auf. Es entsteht eine Tafel auf der Terrasse, die von Tag zu Tag länger wird. Jeder sitzt mal hier, mal dort, mit den eigenen oder auch „fremden“ Kindern und genießt Frühstück oder Abendessen. Um halb acht ertönt der Gong, der die „Blaue Stunde“ einläutet: Alba und Luisa, die beiden Betreuerinnen, holen die Kinder zur Vorlesestunde ab. Die Großen gehen dann noch einmal entspannt zum Büfett und auch zum großen Kühlschrank, aus dem sich alle bedienen. Ein Büchlein mit Strichliste gibt am Ende Auskunft.
Es sind diese Kleinigkeiten, die den Aufenthalt auf dem Hof besonders machen. Es ist nicht nur der gemeinsame Versuch, mit Kindern Urlaub zu machen und das Gefühl, eine Schicksalsgemeinschaft zu sein, sondern auch der Wunsch und das Vertrauen der Hausherrin, dass hier alle mitziehen: „Der Letzte pustet bitte die Kerzen aus und schließt die Tür ab!“
Und als wir dies am Ende der Woche ein letztes Mal tun, wissen wir, dass die Balance von eigenen und gemeinsamen Aktivitäten perfekt war, dass es ein unvergesslicher Urlaub mit Kindern, nicht von den Kindern war, und dass die Tränen im Auto doch nur bedeuteten: Unser Versuch, drei Generationen unter einen Sonnenhut zu bringen, war gelungen.
Anna Schütz