Juso-Chef auf dem Weg in die SPD-Spitze: Kevin Kühnert ist der Dagegenkandidat
Sein Einfluss ist auch so groß, weil die SPD so schwach ist. Nun könnte Kevin Kühnert in die Parteiführung aufrücken.
Kevin Kühnert ist zu spät. Die Bahn, mal wieder. Als er endlich den vollbesetzten Saal in Leipzig betritt, hat die Podiumsdiskussion der sächsischen Jusos schon ohne ihn begonnen. Kühnert setzt sich schnell auf einen freien Stuhl auf der Bühne, stellt seine Bierflasche neben sich. Und dann verteidigt der Juso-Chef die SPD.
„Warum sind denn immerhin 80.000 junge Menschen in der SPD?“, fragt Kühnert. Die Jusos hätten mehr Mitglieder als die Grünen insgesamt. „Und die sind ja nicht im Suff eingetreten.“ Die SPD möge eine überalterte Partei sein. Aber die Werte, die sie vertrete, seien überhaupt nicht alt. Nur werde der SPD mittlerweile oft das Verständnis dafür abgesprochen, was es heiße, heute jung zu sein. „Das mindert die Lust daran, sich zu beteiligen.“ Es klingt ziemlich bedacht.
Ist das derselbe Kevin Kühnert, der noch vor anderthalb Jahren als Groko-Killer Schlagzeilen machte? Der tituliert wurde als „Milchgesicht, das Merkel stürzen will“? Der Kevin Kühnert, der BMW enteignen will? Und die Parteiführung vor sich her treibt?
Doch mittlerweile ist der Juso-Chef im Gespräch für höchste Ämter in der SPD. Das liegt auch daran, dass er im Gegensatz zu einer ganzen Reihe an Spitzengenossen eine Kandidatur für den Parteivorsitz ausdrücklich nicht ausschloss. „Kommt jetzt Kevin?“, titelte der „Spiegel“ – bebildert mit einem ernst dreinblickenden Schwarz-Weiß-Kühnert.
Elf Prozent in den Umfragen - die Grünen liegen bei 27
Vom Milchgesicht zum Parteichef – dass das überhaupt als Möglichkeit diskutiert wird, sagt viel aus über den Zustand der SPD. Die Parteivorsitzende Andrea Nahles ist zurückgetreten, der Job nur übergangsweise besetzt. Viele Mitglieder sind resigniert oder gefrustet und die SPD-Führung scheint daran wenig ändern zu können. Eine besonders desaströse Forsa-Umfrage sah die Partei kürzlich bei elf Prozent – die Grünen dagegen bei 27.
Dass Kühnert in diesem Vakuum als Kandidat gehandelt wird, können Spitzengenossen nicht verstehen. „Vollkommen übertrieben“ und „Wahnsinn“ schimpfte Ex-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, Ex-Fraktionschef Thomas Oppermann findet es viel zu früh und Carsten Schneider, der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, meint: „grotesk“.
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Dass sich die Großkopferten der Partei so an Kühnert reiben, ihn angreifen, zeigt aber: Sie nehmen ihn durchaus ernst. Anfangs haben sie ihn unterschätzt, schließlich spucken Juso-Vorsitzende seit jeher große Töne. Doch Kevin Kühnert ist mehr als ein Juso-Vorsitzender, er ist der Lautsprecher des linken Flügels, er steht für die Groko-Frustrierten.
Er blieb bei seinen Aussagen, trotz der Entrüstung
In der Führungsriege der SPD haben es Kühnert einige sehr übel genommen, dass er auch nach dem Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag noch Spitzen gegen die Große Koalition setzte. Dass er Nahles unter Druck setzte. Und dass er nach dem Sturm der Entrüstung, der wegen seiner Sozialismusthesen über die SPD hinwegfegte, trotzdem bei seinen Aussagen blieb.
Doch auch die Genossen, die ihn auf keinen Fall an der SPD-Spitze sehen wollen, wissen: Kühnert, der gern mit Turnschuhen und Kapuzenpulli herumläuft, ist ein Machtfaktor. Es könnte also klug sein, ihn auf irgendeine Weise in der nächsten Parteiführung einzubinden. Die Frage ist, ob er sich wirklich einbinden lässt.
Der Juso-Chef ist in diesen Tagen auffällig still. Der Grund: Erst am Montag entscheidet die SPD-Führung, wie die Nahles-Nachfolge geklärt werden soll. Dann werden sich auch die Bewerber für den Parteivorsitz aus der Deckung wagen. Im Gespräch sind auch Familienministerin Franziska Giffey, Generalsekretär Lars Klingbeil und Außenminister Heiko Maas. Es gilt als wahrscheinlich, dass es um eine Doppelspitze gehen wird. Doch bis das Prozedere klar ist, wird auch Kühnert sich zurückhalten.
Das hier ist nicht Berlin, das merkt man
Wer also wissen will, was der Juso-Chef denkt, kann ihm zum Beispiel nach Leipzig folgen, zu besagter Podiumsdiskussion. Dass das hier nicht Berlin ist, merkt man schon daran, dass Kühnert während der zweistündigen Veranstaltung nicht ein einziges Mal gefragt wird, ob er Parteivorsitzender werden will. Hier haben die Leute andere Probleme. In Sachsen steht die SPD bei sieben Prozent, die AfD bei 25. Der Frust über die Groko und überhaupt die SPD-Spitze in Berlin ist groß. Kühnert muss hier nicht einheizen. Er muss versuchen, den Topf auf dem Deckel zu halten.
Und so kommt es, dass Kühnert an diesem Abend der Beschwichtiger ist. Die Dresdner Juso-Chefin Sophie Koch fordert, man müsse so schnell wie möglich aus der Koalition raus, um für junge Leute wieder cool zu werden. Vor anderthalb Jahren wäre das eine Steilvorlage für Kühnert gewesen. Jetzt stimmt er nicht mit ein. Später sagt er: „Wir haben Nein gesagt zur Groko, aber am Ende hat die Mehrheit Ja gesagt. Mitgefangen, mitgehangen. Deswegen arbeite ich mich nicht jeden Tag an der Groko ab. ,I told you so’ hilft nicht weiter.“
Die vergangenen anderthalb Jahre haben Kühnert verändert. Am Tag seiner Niederlage im März 2018 steht er mit einem Reporter des Jugendportals „bento“ auf der Dachterrasse des Berliner Willy-Brandt-Hauses und raucht eine Zigarette. Er hat die Ergebnisse des SPD-Mitgliedervotums im Livestream im Juso-Büro verfolgt, 66 Prozent der Genossen sind für die Groko. Kühnert, der zuvor drei Wochen durch die Republik tourte und gegen eine erneute Koalition mit der CDU kämpfte, hat verloren.
"Die Idee dieser Partei ist wichtiger als unsere Gefühlslage"
Doch nun fällt auch die Spannung von ihm ab. Kühnert lächelt. „Jede Enttäuschung ist jetzt verständlich. Und trotzdem ist die Idee dieser Partei wichtiger als unsere Gefühlslage“, gibt er später zu Protokoll.
Einen Tag darauf publiziert das queere Magazin „Siegessäule“ ein Interview mit Kühnert, in dem er zum ersten Mal öffentlich über seine Homosexualität spricht. Darin bezeichnet er den früheren Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit als „ganz wichtigen Fixpunkt“ in seinem Leben. „Er hat etwas gemacht, was ich vorbildhaft finde: in die Offensive gehen“, sagt Kühnert.
In den folgenden Monaten wird es zunächst ruhiger um Kühnert. Er arbeitet schließlich auch – im Büro der queerpolitischen Sprecherin der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Er sitzt in der Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof-Schöneberg. Arbeitet mit am neuen Sozialstaatskonzept der SPD. Er ist Mitglied einer fünfköpfigen Lenkungsgruppe, die für die Erneuerung der Partei Vorschläge machen soll.
Doch als sich Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen mit seinen Aussagen zu den Ausschreitungen in Chemnitz unmöglich macht, wird Kühnert wieder laut. Er fordert, die SPD müsse die große Koalition beenden, sollte Maaßen im Amt bleiben. Parteichefin Nahles steht so unter Druck, dass sie in den Verhandlungen einen schweren Fehler macht – und einer Beförderung Maaßens zum Parlamentarischen Staatssekretär zustimmt.
"Macht den Leuten kein X für ein U vor"
Im Anschluss informiert sie auch Kühnert. Der hält sich nicht zurück, sondern veröffentlicht ein Statement, in dem die Rede ist von einem „Schlag ins Gesicht.“ Einen Tag später twittert er: „Noch schlimmer als die Maaßen-Entscheidung werden die Versuche der Beschwichtigung, Verharmlosung, der Schönrederei und die billigen Durchhalteparolen bewertet.“ Die Parteiführung belehrt er: „Macht den Leuten kein X für ein U vor. Klappt nicht.“ Später macht Nahles die Kehrtwende.
Die Episode zeigt, mit welcher Methode Kühnert die Parteiführung vor sich hertreibt. Er ist zum einen schnell. Mit einem Tweet kann er in einem Dutzend Medien zitiert werden – und zwar vor den SPD-Kollegen. Er weiß die Gefühlslagen der Parteimitglieder einzuschätzen – schließlich kann man nur etwas verstärken, was bereits da ist. Und er nutzt keine verschwurbelte Funktionärssprache.
Doch die Geschichte mit Maaßen und Nahles bleibt an ihm haften, sie wird in der Partei auch gegen ihn verwendet. Kühnert beginnt sich stärker zurückzuhalten. Ein paar Monate später bei einem Gespräch im Willy-Brandt-Haus sagt er, er ziehe keine Konflikte nur aus Prinzip hoch, „sondern da, wo es nötig und zielführend ist“. Er sei nicht angetreten, um Sand ins Getriebe zu streuen, nur um am Ende recht zu behalten. Kühnert lobt sogar, dass im zweiten halben Jahr für die Groko viel Gutes dabei gewesen sei: Krankenkassenbeiträge, die jetzt gleichermaßen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gezahlt werden. Das Gute-Kita-Gesetz. Es sind neue Töne.
Keine Rücksicht auf Wahlkämpfe oder Umfragewerte
Zum 1. Mai, dem Tag der Arbeit, macht Kühnert dann noch einmal Schlagzeilen. Die „Zeit“ ist auf die Idee gekommen, den Chef der Jungsozialisten zu fragen, was es für ihn eigentlich heißt, Sozialist zu sein. Und Kühnert antwortet wahrheitsgemäß. Er versteht es als seine Aufgabe als Juso-Chef, solche Visionen zu formulieren – ohne gleich die Reaktionen mitzudenken. Genau das werfen ihm seine Gegner in der Partei aber vor – dass er keine Rücksicht nimmt auf Wahlkämpfe oder Umfragewerte.
Dass er über die Kollektivierung von Unternehmen spricht und sich dabei das Beispiel BMW in den Mund legen lässt, löst Entrüstung aus. Betriebsratschefs von BMW und Daimler warnen davor, die SPD zu wählen. „Was hat der geraucht? Legal kann es nicht gewesen sein“, wettert auch der SPD-Abgeordnete Johannes Kahrs. Einige Genossen fragen sich, ob Kühnert die Partei mit solchen Vorstößen nicht mehr Stimmen kostet, als er bringt. Generalsekretär Lars Klingbeil reagiert gelassener: „Er spricht in einem Interview über eine gesellschaftliche Utopie. Diese ist nicht meine und auch keine Forderung der SPD.“ Wieder treibt Kühnert die SPD vor sich her. Nahles wird angegriffen, weil sie nicht die Kraft habe, Kühnerts Fantasien als „Randströmung“ abzugrenzen.
Nahles' Rücktritt macht ihm zu schaffen
Kühnerts Einfluss, sagen manche, begründe sich nur zur Hälfte in seiner eigenen Stärke. Die andere Hälfte sei die Schwäche der anderen.
Als Andrea Nahles schließlich zurücktritt, macht Kühnert das zu schaffen. Er twittert, die SPD dürfe „ nie, nie, nie wieder so miteinander umgehen, wie wir das in den letzten Wochen getan haben.“ Inwieweit er sich selbst dabei mit einschließt, sagt er nicht.
Kühnert steht in der SPD für ein junges, urbanes Milieu, das sich für Klimaschutz und Willkommenskultur einsetzt. Er hält wenig von den SPD-Altvorderen, die früher auch mal „ganz dolle links“ waren und jetzt für eine konservativere Einwanderungspolitik werben.
In Leipzig regt es im Saal viele auf, dass die SPD-Abgeordneten in Berlin dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz von Horst Seehofer zugestimmt haben – im Austausch gegen das Fachkräftezuwanderungsgesetz. Kühnert sagt zwar auch, dass der „Kuhhandel als Prinzip“ nicht begeisterungsfähig sei, dass das „Politik zum Abgewöhnen“ sei. Erzählt aber, dass er mit einigen SPD-Abgeordneten nach der Abstimmung gesprochen habe. Die hätten sich auch nicht gut gefühlt. Auch in der Öffentlichkeit haben sich die Jusos mit der Kritik an dem „Kuhhandel“ zurückgehalten und stattdessen einen Brief an die Abgeordneten geschrieben.
Das Privileg, auf eine Demo zu gehen
Ein junger dunkelhäutiger Mann mit blond gefärbten Haaren stellt sich in Leipzig als „schwarz, schwul, Pole und Ossi“ vor und beklagt, dass innerhalb der SPD das Prinzip der Solidarität nicht gelebt werde. Kühnert antwortet nicht direkt darauf. Er erzählt stattdessen etwas Persönliches, „von schwulem Mann zu schwulem Mann“, wie er sagt. „Ich bin nicht wegen meiner Homosexualität in die SPD eingetreten.“ Trotzdem fühle er sich seiner Partei rund um die Pride Week im Sommer mitunter am verbundensten. Er mache sich dann bewusst, was für ein Privileg es sei, zu so einer Demo zu gehen, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Daran habe die SPD ihren Anteil.
Kühnert schwärmt auch vom Begriff der „Selbstwirksamkeit“. „Es gibt nichts Größeres als den Moment, in dem man merkt: Meine Initiative, mein Argument hat dazu beigetragen, dass sich etwas verändert hat. “ Er habe das erlebt, als sich die Jusos in Berlin für die Preissenkung des Sozialtickets im öffentlichen Nahverkehr in Berlin eingesetzt hatten. Das sei heute Realität.
Dem Juso-Chef wird von Gegnern in der Partei seit der „NoGroko“-Kampagne gern vorgeworfen, er sei immer nur dagegen. Aber man wisse nicht, wofür er eigentlich stehe. An diesem Abend, so scheint es, versucht er den Gegenbeweis zu erbringen. Und anstatt die Jusos weiter aufzustacheln, bemüht er sich, sie zu bremsen. Man könnte auch sagen: Den Widerstand, den er einst selbst geschürt hat, muss er jetzt wieder einfangen.
Sein Wort wird weiter Gewicht haben
Auch wenn Kühnert nichts zu seinen parteipolitischen Ambitionen sagt, lässt er erkennen, wie er tickt. So sagt er, es stimme eben nicht, „dass man erst 40 Jahre dabei sein muss und Würstchen beim Sommerfest grillen, bevor man auch mal irgendeine Entscheidung beeinflussen darf.“ Und: „Ich lasse mich in keinem Themenbereich mit ,Das hatten wir ja noch nie’ abspeisen“.
Am Ende wird Kühnert wohl nicht Parteichef werden. Dass er in der nächsten Führung dennoch einen wichtigen Posten innehaben wird, ist nicht unwahrscheinlich. Und auch wenn es darum geht, ob die SPD weiter in der Groko bleibt, wird sein Wort Gewicht haben. Bis spätestens Ende des Jahres müssen sich die Sozialdemokraten entscheiden. Zur Halbzeit der Koalition müssen nämlich laut Revisionsklausel im Koalitionsvertrag Union und SPD sagen, ob sie weitermachen wollen.
Nach dem Ende der Podiumsdiskussion in Leipzig geht Kühnert noch mit ein paar der Jusos in den Park. Eigentlich will die Gruppe zum Supermarkt, Getränke kaufen, aber jemand hat schon einen Kasten Ur-Krostitzer besorgt. Langsam wird es dämmrig. Der Mann, der die Politik aufmischt wie wenige andere, sitzt im Schneidersitz auf der Wiese. Unter den Jusos gehen die Diskussionen weiter. Einer hat Sorgen, dass sich die SPD irgendwann noch einmal spaltet. Ein anderer ist genervt von den konservativen SPD-Seeheimern in seinem Kreisverband. Selbst in der Freizeit dominiert die Politik.
Kühnert verabschiedet sich um kurz nach zehn, er muss noch seinen Zug kriegen – zurück nach Berlin. Es ist knapp, er muss sich beeilen. Er ist schon wieder zu spät dran.