Umfrageinstitut Civey: Meinungsforschung in Echtzeit - und mit Spaßfaktor
Umfragen für jedermann: Wer mitmacht, bekommt das Ergebnis gezeigt. Von Kreuzberg aus wagt Civey im Markt der Meinungsforschung eine kleine Revolution. Der Tagesspiegel ist Partner.
Es ist ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Aber die Gründer und Betreiber sind voller Optimismus, dass ihr Projekt erfolgreich sein wird. Civey heißt die Firma, eine Abkürzung für Citizen Survey, Bürgerumfrage. Zwei Altbauwohnungen in Berlin-Kreuzberg, nicht weit vom Kottbusser Tor, 20 Mitarbeiter - und ein hoher Anspruch: Meinungsforschung nicht nur neuen Stils, sondern auch für alle. Die Investitionsbank Berlin gab eine Starthilfe von 1,7 Millionen Euro - 200.000 Euro, um die Machbarkeit wissenschaftlich untersuchen zu lassen, 1,5 Millionen Euro für die Entwicklung des Produktes und die Markteinführung.
Im August hat Civey mit den ersten Umfragen im Internet begonnen - darunter die klassische Sonntagsfrage zur Bundestagswahl. Der Clou: Wer sich registriert hat - und dafür Geburtsdatum, Geschlecht, Nationalität, Emailadresse und Postleitzahl angeben muss -, bekommt die Umfrageergebnisse stets sofort zu sehen. Immer mit dem Hinweis, ob die Befragung erst eine niedrige oder schon eine mittlere oder sogar hohe Qualität hat. Je nachdem, wie viele sich bereits beteiligt haben und ob die Teilnehmer einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung darstellen. An die Tafel im Kreuzberger Büro hat jemand geschrieben: "Ich mag Civey, weil... unsere Umfrageergebnisse durch Statistik-Magic verlässliche Ergebnisse ohne Verzerrung liefern."
"Die Brandenburger Witwen sind ein Problem", sagt Gerrit Richter - weil sie nämlich in der Datenbank bisher so gut wie nicht vorhanden sind. Richter ist Gründer und Geschäftsführer von Civey, 42 Jahre alt. Wenn zu viele Menschen aus einer bestimmten Bevölkerungsgruppe abstimmen, werden deren Meinungen heruntergewichtet - und umgekehrt, erläutert er. So würden die Umfragen repräsentativ. Ein Handel mit den persönlichen Daten sei ausgeschlossen.
Bevor Richter das neue Meinungsforschungsinstitut mit vier Mitstreitern an den Start brachte, arbeitete er als Unternehmensberater, in der politischen Kommunikation und war Mitarbeiter des hessischen SPD-Bundestagsabgeordneten Hans Eichel, als der schon nicht mehr Bundesfinanzminister war. Eines seiner Argumente für das Projekt: Die klassischen Umfrageinstitute wie Forsa, Allensbach oder Infratest Dimap seien zu teuer. "Nur ganz wenige können sich Zugang zum Wissen erkaufen", erklärt er. Zudem würden nicht selten Ergebnisse unter Verschluss gehalten, wenn sie den Auftraggebern nicht passen.
Wer abstimmt, bekommt gleich die nächste Frage
Internetumfragen machen auch andere - Marktführer ist das 2000 gegründete Markt- und Meinungsforschungsinstitut YouGov. Civey hat den Anspruch, die Ergebnisse in Echtzeit zu liefern. Und jeden, der an einer Umfrage teilnimmt, dann gleich zum Weitermachen zu ermuntern. Wer also zum Beispiel die Sonntagsfrage beantwortet hat, bekommt weitere Fragen vorgeschlagen: Wählst du noch? Ist Sigmar Gabriel ein geeigneter Kanzlerkandidat? Was ist die größte Gefahr für Europa - Zuwanderung, Austritt von EU-Mitgliedsstaaten, Populismus, TTIP? Tagesaktuelle Fragen sind mit dabei: Soll die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbrechen? Ein Spaßfaktor ist bei dieser Art von Meinungsforschung ausdrücklich erwünscht.
In der Pilotphase formuliert Civey die Fragen in der Regel selbst. Oder lässt sie von Kooperationspartnern vorschlagen wie wahl.de, der sich zum Beispiel aktuell mit dem offenen Hass im Netz beschäftigt. Auch der Tagesspiegel ist ein Partner von Civey, um vor der Abgeordnetenhauswahl am 18. September detaillierte Informationen über die Ansichten der Berliner Wahlberechtigten zu bekommen. Perspektivisch - voraussichtlich 2017 - ist geplant, dass jeder Nutzer eigene Umfragen auf seiner Internetseite einbinden kann. Bisher sind die Umfragen auf Deutschland begrenzt.
"Wir sind kein Meinungsmachertool"
Verspricht Civey zu viel? Experten wie der Politikberater Martin Fuchs verteilen Vorschusslorbeeren. "Das Konzept klingt durchdacht und ist eine sehr gute Ergänzung zu den klassischen Meinungsumfragen, die schwerpunktmäßig auf Telefonumfragen setzen", erläutert er im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Gerade für die Politik gebe es nun ein Tool, das eine solide Alternative gerade für lokale Umfragen darstellt. Er sei gespannt, wie die Politik das Tool annehme.
Auch interessiere ihn, ob es gelingt Umfragen auf verschiedenen Webseiten einzubinden und so unterschiedliche Zielgruppen auch wirklich zu erreichen und zur Teilnahme zu motivieren. Interesse ist vorhanden: Mehr als 13.000 Menschen haben den Meinungsforschern auf Facebook ein "Gefällt mir" gegeben. Und 10.000 Menschen waren Anfang August bereits bei Civey registriert.
Durch die Gewichtung und den hinter Civey liegenden Algorithmus sollen Manipulationsversuche von organisierten Gruppen ausgeschlossen werden. Gerrit Richter versichert, gegen Manipulationsversuche gewappnet zu sein. "Wer provozieren will, hat bei uns nichts zu suchen", sagt er: "Wir sind kein Meinungsmachertool, sondern ein Meinungsforschungstool."
Gespannt ist nun auch Richter, wie viele sich tatsächlich an den ersten Umfragen beteiligen und wie sich die Nutzerbasis entwickelt. Bei einigen Fragen, etwa der Sonntagsfrage, ist die Qualitäts-Ampel bereist auf Grün gesprungen - in der Regel müssen dazu 1000 bis 2000 Leute abgestimmt haben.
Der Tagesspiegel wird in der kommenden Woche mit eigenen Umfragen bei Civey dabei sein.