Coronavirus-Shutdown in der Hauptstadt: Berlins Vollbremsung und ihre Folgen
Barbetreiber tricksen, die Polizei greift ein – und manche verstehen es immer noch nicht: eine Hauptstadt zwischen Vernunft und Irrsinn.
Eine halbe Stunde vor Mitternacht kommt die Polizei. Sie ist mit Mannschaftswagen in der Kreuzberger Bergmannstraße vorgefahren, fünf Uniformierte betreten das „Turandot“. Von den rund 60 Gästen, die jetzt noch in der Raucherkneipe feiern, bemerken nur wenige, wie ein Beamter an die Theke tritt und den Angestellten sehr freundlich, aber unmissverständlich erklärt, dass nun wirklich Schluss sein müsse. Der Wirt nickt, dreht die Musik ab. Er hat von der Verordnung seit Stunden gewusst.
Die Gäste bleiben sitzen, viele haben noch volle Gläser. Andere wollen nachbestellen. Nein, kein allerletztes Bier, sagt der Mann hinterm Tresen. Nein, auch keinen Kurzen! Wirklich nicht. Na gut, noch ein Jever für den Stammgast.
Die Verordnung des Berliner Senats, die das Nachtleben der Stadt zum Erliegen bringt, wird am Samstagabend sehr unterschiedlich befolgt. Kneipen, Kinos und Shisha-Bars, Spielhallen, Sportstudios und Wettbüros sollen sofort schließen, die Clubs ebenfalls, aber von denen ist sowieso keiner mehr geöffnet, die Betreiber haben von sich aus verzichtet.
Restaurants und Cafés dürfen weiter öffnen, sofern sie einen Mindestabstand von eineinhalb Metern zwischen den Tischen sicherstellen. Diese Regel wird noch am Sonntag reihenweise missachtet werden. Der Sonnenschein treibt die Menschen in die Straßencafés. Auch die Spielplätze sind voll.
Ein Kino verschenkt sein Popcorn
Der Senat hat die weitreichenden Regeln nach tagelangem Zaudern, Abwägen, Aufschieben am frühen Samstagabend verkündet. Manche Kneipen- und Kinobetreiber reagieren sofort – und stoßen auf Verständnis. Zum Beispiel im Kreuzberger Yorck-Kino nahe Mehringdamm, wo um 20 Uhr eigentlich die „Känguru-Chroniken“ gezeigt werden sollen.
Gäste, die das Kino betreten, sind überrascht: das Foyer komplett leer bis auf drei Mitarbeiterinnen hinter der Theke. Tut uns wirklich seid, sagt eine. Die Entscheidung habe sie selbst überrascht, sie hätten eben erst Berge von Popcorn zubereitet. Die verschenken sie jetzt an jeden, der umsonst vorbeigekommen ist. „Mögen Sie lieber süß oder salzig?“
[Behalten Sie den Überblick: Corona in Ihrem Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihren Bezirk. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de]
Viele Kneipenbetreiber sind weniger vernünftig. Sie wollen offenhalten, bis die Polizei kommt. Die ist mit 100 Beamten extra im Einsatz, arbeitet sich am Abend Straße für Straße durch die Feiermeilen in Mitte, Friedrichshain, Kreuzberg und Neukölln, wird insgesamt 200 Orte ansteuern. Wo geschlossen wird, bilden sich alternative Feierorte: Einige Spätverkaufsläden werden spontan zu Trinkhallen umfunktioniert. Die Kunden bleiben drinnen stehen und leeren in Ruhe ihr gerade gekauftes Flaschenbier.
In der Neuköllner Weserstraße, wo sich Berliner und Touristen sonst gleichermaßen in Dutzenden Kneipen drängen, haben einige Läden freiwillig zu. Das „Ä“ hat sich von seinen Kunden mit einer Grußbotschaft verabschiedet, sie ist auf einem Zettel am Eingang zu lesen: „Wir wünschen allen ein gutes Überstehen der nächsten Zeit. Auf dass wir uns gesund und munter wiedersehen.“ Und dann noch: „Hoch die internationale Solidarität.“
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in der Raucherkneipe „Tier“, wird dagegen gefeiert. Das Lokal ist voll, die Gäste sitzen und stehen eng beieinander. „Morgen leider nicht mehr“, sagt die Bedienung. „Eigentlich hätten wir heute schon nicht mehr aufmachen dürfen.“ Sie hätten irgendwie zu spät von der Senatsentscheidung erfahren. „Jetzt nehmen wir mit, was geht.“
Ähnlich sieht es der Betreiber des „Würgeengel“ in der Dresdener Straße. Während die Shisha-Bar gegenüber, das Kino Babylon und die Absturzkneipe „Möbel Olfe“ an der Ecke bereits geschlossen haben, drängen sich hier die Gäste. Natürlich wisse das Team von der neuen Verordnung, sagt der Barmann, doch man habe sich dafür entschieden, noch ein bisschen weiterzumachen. „Aber nur bis Mitternacht. Wir wollen es ja nicht überstrapazieren.“
Wie viel Tische müssen jetzt raus?
Die allermeisten Restaurants ignorieren Samstagabend noch die neuen Regeln. Die Tische sind besetzt, der nun geforderte Mindestabstand zwischen ihnen scheint kaum jemanden zu scheren. Doch es gibt Ausnahmen. Vor dem „Kinnaree Thai“ am Südstern schreibt ein Mann mit weißem Edding auf die Infotafel: „Tischabstand 1,5 Meter“. Daneben malt er ein Herz. Der Mann heißt Tam Suttisap, er ist der Betreiber.
Als er vorhin von der Senatsverordnung erfuhr, habe er den Raum ausgemessen und vier von 18 Tischen aussortiert. Suttisap sagt, die Regelung klinge vernünftig. „Und falls sie noch verschärft wird und wir einen Sicherheitsabstand von drei Metern brauchen, werden wir auch das hinkriegen.“ Aus Angst vor dem Coronavirus seien die Gästezahlen in seinem Restaurant zuletzt sowieso um 70 Prozent eingebrochen.
In seiner Not will Tam Suttisap seine Gerichte ab sofort zu den Daheimbleibern ausliefern. „Ich habe das immer abgelehnt, weil dann die Qualität leidet, die Suppe auf dem Weg vielleicht schon etwas abkühlt“, sagt er. Aber in Coronazeiten sei nicht perfekte Suppe immer noch besser als gar keine Suppe.
Keiner will den Türknopf drücken
Tagsüber wirken die Innenstadtbezirke menschenleerer als sonst. Nicht so sehr wie an Abenden, an denen im Fernsehen WM-Spiele der deutschen Fußball-Nationalmannschaft übertragen werden, aber spürbar. Berlins öffentliches Leben ist plötzlich weniger hektisch, leicht gedämpft. Und es entwickeln sich neue Umgangsformen.
Hintergrund über das Coronavirus:
- Coronavirus-FAQ: Lesen Sie hier 66 wichtige Fragen und Antworten zu SARS-CoV-2
- Mit Gesichtsmasken gegen das Coronavirus? Was wirklich vor der Übertragung von Keimen schützt
- Nach Aufenthalt in Risikogebiet: Was bei Verdacht auf eine Coronavirus-Infektion zu tun ist
- Was Eltern zum Coronavirus wissen müssen: "Covid-19 ist für Kinder nicht schlimmer als eine Grippe"
- Experte über Anti-Coronavirus-Maßnahmen: "Konsequenterweise müsste man den öffentlichen Nahverkehr einstellen"
Man sieht auf der Straße Menschen, die sich zum Gruß nicht mehr die Hände, sondern die Ellenbogen reichen, manche ironisch, manche sehr ernst. Im Geschäft wischen sich Kunden, nachdem sie die Geheimzahl ihrer EC-Karte eingegeben haben, die Finger ab. In der Bahn lassen Fahrgäste einander den Vortritt, den Knopf zum Öffnen der Tür zu drücken. Hieß es nicht, die würden ab sofort von allein aufgehen?
Eine Freundin beendet jetzt jedes Gespräch mit „Bleib gesund.“ Ein Bekannter sagt: Seit Corona ist, telefoniere er wieder viel mehr. Ein anderer geniert sich, weil er jetzt langsam wirklich mal Klopapier kaufen muss, aber auf keinen Fall als Hamsterkäufer gelten will.
Am hässlichsten ist Berlin dort, wo Hygieneartikel verkauft werden. Im Drogeriemarkt an der Bergmannstraße hat sich Samstagmorgen schon vor Öffnung eine kleine Traube Wartender gebildet. Die meisten zieht es zum Regal mit der Flüssigseife und dann gleich weiter ganz hinten durch links zum Toilettenpapier. Manche Kunden nehmen drei Großpackungen auf einmal mit, macht 48 Rollen. Nach 19 Minuten ist das Toilettenpapier ausverkauft. An der Kasse wird diskutiert, von den drei Desinfektionssprays, die ein Mann aufs Band gelegt hat, nimmt die Verkäuferin zwei wieder weg. „Wir haben das rationiert“, sagt sie. Der Kunde widerspricht. Die Verkäuferin sagt: „Das gilt für alle anderen auch.“
„Haben deren Väter auch Leukämie?“
„Das kann ich ja nicht wissen, ob das bei Ihnen so ist.“ Sie bleibt hart.
Wer alles weiter öffnen wollte
Wer am Sonntag mit Berlinern über die neuen Verbote spricht, hört vor allem Erleichterung. Dass zwar zögerlich, aber jetzt doch entschieden durchgegriffen wurde. Wie nötig es war, sich nicht auf die Eigenverantwortung von Veranstaltern und Betreibern öffentlicher Orte zu verlassen, zeigt sich noch Samstagnachmittag an vielen Touristenhotspots. Während die staatlichen Museen bereits geschlossen wurden, haben etliche privat betriebene Ausstellungen weiter geöffnet.
Das Wachsfigurenkabinett „Madame Tussauds“ Unter den Linden etwa. Dort, wo sich täglich viele Hundert Menschen fürs Foto an dieselben Wachsfiguren klammern, schon im ersten Raum alle auf derselben Trabant-Motorhaube posieren. Der Mann an der Kasse sagt, das Museum werde „ganz sicher“ auch am Sonntag offen sein. Das Mauermuseum am Checkpoint Charlie will ebenfalls weitermachen. „Solange wir keine Anordnung von der Regierung kriegen, bleiben wir auf“, sagt ein Mitarbeiter. Sechs Stunden vor dem Beschluss des Senats.
Auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor tummeln sich an diesem Wochenende deutlich weniger Touristen. Und das, obwohl Experten raten, an die frische Luft zu gehen, weil hier eine Übertragung kaum möglich sei. „Kann man nicht rational erklären, sagt einer der Rikschafahrer, die vergeblich auf Kundschaft warten. „Wenn die Angst erst mal im Kopf ist, unterscheiden Touristen nicht zwischen drinnen und draußen.“
Am späten Nachmittag wird es Unter den Linden doch noch voll. In Sichtweite des Brandenburger Tors versammeln sich Reichsbürger zu einer Demonstration. Stehen eng nebeneinander auf der Straße, schwenken ihre Reichsbürgerfahnen. Der Anführer warnt am Mikrofon vor einer großen Gefahr: Nein, nicht das Coronavirus, sondern die jüdische Familie Rothschild, die sei schuld an allem.
City-West, Kurfürstendamm. Das Café Kranzler hat weiter geöffnet, allerdings eine Reihe von Maßnahmen eingeführt: Zuckerstreuer, Löffel und Becherdeckel werden nur noch auf Anfrage herausgegeben, an der Kasse stehen Flaschen mit Desinfektionsmitteln, falls die Kunden welches wollen, die Mitarbeiter sind angehalten, auch privat keine Hände mehr zu schütteln.
Draußen auf der Veranda, mit Blick auf den Kurfürstendamm, sitzt Jae Lee, 29, mit ihrer Freundin. Die Südkoreanerin ist zum Studieren nach Berlin gekommen. Sie sagt, sie spüre, wie die Vorurteile gegenüber Asiaten gewachsen sind.
Erst am Vortag habe sie im Rewe-Supermarkt am Hackeschen Markt ihr Payback-Konto aufladen wollen, nicht gewusst, wie sie das auf ihrem Smartphone anstellen solle. Eine Verkäuferin wollte erst helfen, wurde dann von deren Kollegin barsch angefahren, das Gerät bloß nicht zu berühren. „Alle haben es gehört, es war für mich sehr unangenehm.“
Auf der Neuköllner Hermannstraße sei befreundeten Landsmännern „Coronavirus! Coronavirus!“ hinterhergebrüllt worden. Eine Freundin gebe sich in der U-Bahn große Mühe, bloß nicht zu husten.
Dabei, sagt Jae Lee, seien die Vorsichtsmaßnahmen zu Hause in Seoul sehr viel weitreichender als hier: Jeder könne sich testen lassen, sogar in der eigenen Wohnung, und kenne innerhalb von zehn Minuten das Ergebnis. In der Öffentlichkeit hielten alle Menschen mindestens zwei Meter Abstand. Und ausnahmslos jeder trage eine Gesichtsmaske. Jae Lee sagt: „Es ist schwer verständlich für mich, dass all dies hier nicht geschieht.“