Berlins Politik überfordert vom Coronavirus: Michael Müller – entschieden unentschlossen
Hauptsache, die Verantwortung ist runter vom Schreibtisch – wer so handelt, hat keinen Anspruch mehr, Politik zum Wohle der Menschen zu gestalten. Ein Kommentar
Niemand kann ernsthaft von der Politik erwarten, dass sie in der Coronavirus-Krise nur richtige Entscheidungen trifft. Aber einfach abzuwarten, wie es der Regierende Bürgermeister für geboten hält, ist ein Offenbarungseid - und ein gefährlicher Tiefpunkt in der langen Geschichte der organisierten Berliner Unzuständigkeit.
Politik muss Verantwortung dort übernehmen, wo Unsicherheit herrscht. Das ist hier der Fall. Selbst hochspezialisierte Experten sind nicht in der Lage, exakt vorherzusagen, wie sich die Covid-19-Situation entwickelt. Aber sie sagen eindeutig: Die Lage ist absolut ernst.
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Der führende Charité-Virologe Christian Drosten warnt vor Sterberaten von bis zu 25 Prozent bei älteren Erkrankten. Die Politik in anderen Ländern wie in Italien, aber auch in anderen Bundesländern wie in Bayern und Nordrhein-Westfalen, trifft in dieser Situation Entscheidungen, von der Absage von Großveranstaltungen bis zum nahezu kompletten Shutdown des öffentlichen Lebens. Die Berliner Politik dagegen, sonst der staatlichen Bevormundung gegenüber recht aufgeschlossen, kann sich so gerade mal eben zur Schließung der staatlichen Bühnen durchringen und rät ansonsten dazu, „Gefahren selbst einzuschätzen“. Großveranstaltungen absagen? Sollen lieber andere entscheiden. Hauptsache, die Verantwortung ist runter vom eigenen Schreibtisch.
Wichtig, das Tempo der Infektionen zu begrenzen
Es kann natürlich sein, dass es irgendwann nach der Krise heißt: Es ist ja viel weniger passiert als befürchtet, das war alles eine völlig überflüssige Aufregung. Aber es kann eben auch gut sein, dass genau diese hohe Aufmerksamkeit dazu beiträgt, dass weniger passiert als befürchtet - weil die Leute dann doch etwas vorsichtiger sind als sonst, aber auch weil rechtzeitig ein paar Maßnahmen durchgesetzt wurden, die auf den ersten Blick übertrieben erscheinen.
Hätte Italien vorsorglicher reagiert, wären dort die Infektionen sehr wahrscheinlich weniger schnell gestiegen – und es hätte wohl auch weniger Tote gegeben.
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Wie wichtig es ist, das Tempo der Infektionen zu begrenzen, dozieren Epidemiologen und Virologen täglich in weitgehend taube Ohren. Dabei ist es so offensichtlich: Wenn zu viele Menschen zur gleichen Zeit schwer an dem neuen Virus erkranken, werden die Intensivbetten in den Kliniken knapp.
Es geht darum, Zeit zu gewinnen
Das ist auch für Menschen gefährlich, die jünger sind, an anderen lebensbedrohlichen Krankheiten leiden oder Unfälle hatten. In China starben viele auf den Krankenhausfluren, weil sie nicht rechtzeitig versorgt werden konnten. Und auch unser Gesundheitssystem ist nicht immun dagegen, wegen Überlastung zu kollabieren.
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Es geht also darum, Zeit zu gewinnen: für die angemessene Behandlung von Kranken - und für die Entwicklung eines Impfstoffes. Dafür gibt es nicht die eine, hundertprozentig sichere Lösung. Aber es gibt, berechnet nach Wahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten, eine schnelle Verbreitung des Virus einzudämmen.
Gutes Regieren heißt Verantwortung übernehmen
Temporäre Einschränkungen, die das öffentliche Leben betreffen, gehören dazu. Wer da mit Nebenwidersprüchen argumentiert, wie der Regierende Bürgermeister, hat den Wettlauf mit der Zeit schon verloren.
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Ja klar, es wäre nicht schlüssig, wenn in Berlin etwas Anderes gilt als in Brandenburg. Aber wer in einer solchen Situation lieber auf eine bundeseinheitliche Regelung wartet, als selbst zu agieren, hat offenbar keinen Anspruch mehr, Politik zum Wohl der Menschen selbst zu gestalten. Gutes Regieren bedeutet, in einer unsicheren, aber ernsten Lage mutig Verantwortung zu übernehmen, nicht sie abzuschieben – auch auf die Gefahr hin, dass sich die eine oder andere Entscheidung als übertrieben herausstellen sollte. Hinterher schlauer sein können dann ja alle gemeinsam.