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Viel Aufwand, wenig Ertrag. Und trotzdem geben Politiker wie Björn Eggert den Straßenwahlkampf nicht auf.
© Thilo Rückeis

Straßenwahlkampf in Berlin: Schirme, Badeenten und die Sache mit "den Ausländern"

Straßenwahlkampf ist Werben und Streit, Plaudern und Debatte, Argument und Tirade. Was lernen wir, wo Politik und Souverän aufeinanderprallen, über den Zustand der Stadt? Unser Autor hat sich mal ein bisschen umgehört.

Der Wähler hat gesprochen, wird es am morgigen Sonntag heißen, wenn alle Kreuze gemacht und alle Stimmzettel in der Urne versenkt sind. In Wirklichkeit aber sprechen die Wählerinnen und Wähler schon jetzt, die ganze Zeit, sie tönen und maulen und quasseln, sie loben und sticheln, kalauern und debattieren: im Straßenwahlkampf.

Der Straßenwahlkampf ist der Rummelplatz der Demokratie. Hier treffen die Volksvertreter auf das vertretene Volk, hier kämpfen Kandidaten um Wähler und manchmal auch mit ihnen, hier spricht der Souverän, und er nimmt – das gleich vorweg – kein Blatt vor den Mund. Wenn er denn einmal tatsächlich anhebt zu sprechen!

Ihn dazu zu bringen, ist manchmal allerdings gar nicht so leicht. Denn vor allem anderen ist er viel beschäftigt, sehr gehetzt, hat alle Hände voll zu tun. „Haben Sie kurz eine Minute?“ – „Nein, gerade überhaupt nicht!“ Weil er eben nicht nur Souverän ist, sondern auch noch: Frau, Rentner, Mutter, Student, Hartz-IV-Empfänger, Steuerzahlerin, weiß der Teufel was, auf dem Weg zum Discounter, zur Uni, zum Amt, in die Kneipe. Man muss ihn aus seinem Lauf reißen, will man mit ihm ins Gespräch kommen. Und doch ist er hier, im Straßenwahlkampf, der, von dem alle Macht ausgeht, alle fünf Jahre jedenfalls für ein paar Wochen.

Kaum messbar sei der Effekt dieser Wahlkampfform, sagt ein alter SPD-Haudegen. Und trotzdem verzichte niemand darauf. Zu wichtig auch für die Parteien diese Konfrontation, als Standortbestimmung und bestenfalls sportliche Herausforderung. Wie aber interpretiert der Souverän seine Rolle – an verschiedenen Parteiständen, in unterschiedlichen Bezirken? Was treibt ihn dabei um, was ist das beherrschende Thema, die Konstante, die auf die allgemeine Gemütsverfassung schließen lässt?

Klausenerplatz, Charlottenburg, 9. September, 9.30 Uhr

"Sie ganz sicher nicht!" Sebastian Czajas FDP-Mitstreiter haben es im Wahlkampf nicht immer leicht.
"Sie ganz sicher nicht!" Sebastian Czajas FDP-Mitstreiter haben es im Wahlkampf nicht immer leicht.
© dpa

Der FDP schwappt erst mal Unmut entgegen. Einen kleinen Stand hat sie sich aufgebaut, klassisch mit Sonnenschirm zwischen Marktständen und Zebrastreifen. Ein sehr wohlerzogener junger Wahlkämpfer verteilt Flugzettel, höflich bietet er sie an – sie und die Angriffsfläche gleich mit.

„Na, Sie sicher nicht, aber ganz sicher nicht“, tönt es ihm prompt entgegen. Ein Frauchen mit zwei Hündchen, die Haare der Frau lang, rot und offen, wird die FDP „auch diesmal“ nicht wählen.

„Darf ich fragen, wo Sie denn normalerweise hintendieren?“, erkundigt sich der wohlerzogene Wahlkämpfer.

„Was würden Sie denn raten?“

Ein kurzer, prüfender Blick. „Vielleicht eher zur Linken?“

Das stimmt. Grundsätzlich jedenfalls. „Aber die Wagenknecht, die kann ich nicht mehr ab“, fährt die Frau fort. „Was die so in letzter Zeit von sich gibt! Die sollen die rausschmeißen. Ich frag mich manchmal, ob der nicht der Oskar ins Hirn geschissen hat!“

Der Jungliberale guckt etwas ratlos – soll er jetzt Ehestreitigkeiten anderer Parteien schlichten? Dann ziehen die Hunde an der Leine. „Nicht mit mir!“, bescheidet die Dame noch, bevor sie dem Druck von der Straße nachgibt. „Diesmal wird’s die Tierschutzpartei!“

Da ist der junge Wahlkämpfer schon vom nächsten Kunden in Beschlag genommen. Ein leicht übergewichtiger Herr. Durchaus wohlwollend blickt er den FDP-Mann an.

„Habt ihr keine Kugelschreiber?“

Bedauerndes Kopfschütteln. Sind leider aus.

„Dann guck ich mal bei der CDU nebenan, vielleicht haben die noch welche. Kugelschreiber ist Kugelschreiber, wa?“

Lektion 1: Der Souverän ist zuweilen gut informiert, er ist anspruchsvoll und meinungsstark – und er weiß genau, was er will.

Wilmersdorfer Straße, Charlottenburg, 1. September, 16 Uhr

Wichtig: Kugelschreiber. Die will der Souverän, das Volk - fast egal, von wem.
Wichtig: Kugelschreiber. Die will der Souverän, das Volk - fast egal, von wem.
© Thilo Rückeis

Michael Müller, Regierender Bürgermeister, trifft ein im dunklen Auto, um ihn herum Anzugträger, Personenschützer. Vor den Wilmersdorfer Arcaden wartet schon das Parteivolk, die Basis, die örtlichen Kandidaten, der blutjunge Kampagnenhelfer.

Ein älterer Herr, der sich das ansieht, kurze Hosen, kurzes Hemd, befindet, noch bevor Müller überhaupt etwas gesagt hat: „Es ist ganz erstaunlich, was man vor den Wahlen immer alles machen will, jedesmal dasselbe, schon erstaunlich finde ich das!“

Die Bühne steht, dann trommelt eine ohrenbetäubende Sambatruppe, schließlich spricht Müller ins Mikrofon. Ein kurzes Wahlkampfmedley, Berlin ist, Berlin bleibt, Berlin muss werden, meine Damen und Herren, Erfolge, Erreichtes, Herausforderungen. Und dann noch eine Warnung, Müllers Refrain in diesem Wahlkampf, der, je näher der Wahltag rückt, noch deutlich schriller tönen wird: „Wenn Sie auf der Bezirksebene eine Partei wie die AfD wählen“, sagt Müller, „wenn Sie die Rechtspopulisten stärken, dann kriegen die Regierungsverantwortung, dann kriegen die Stadträte hier im Bezirk! Und da sag ich aufpassen! Und sich anschauen, sich bewusst machen, was man wählt, wen man wählt.“

Der ältere Herr mit den kurzen Hosen hört zu. Er lächelt, aber seine Stimme kann auch sehr kalt werden. Etwa als er während der Veranstaltung mit einem neben ihm stehenden Mann ins Gespräch kommt, der nicht ganz akzentfrei Deutsch spricht. „Wenn ich rede“, fährt ihn der ältere Herr an, „dann will ich nicht unterbrochen werden!“

Was er stattdessen will, teilt er nach Müllers Rede dem örtlichen SPD-Bezirkskandidaten mit, der neben der Bühne steht, um mit dem Wähler in den Dialog zu treten, wobei es hier erst mal ziemlich monologisch losgeht. Das große Wort führt einmal mehr nicht der Wahlkämpfer.

Überhaupt, so kristallisiert es sich langsam heraus, lässt sich das Wahlvolk grob in drei Untergruppen einteilen, die alle nicht angetreten sind, sich folgsam bekehren zu lassen. Die erste bedient sich. Flugzettel, Wahlprogramme, Kugelschreiber, Infos, Jutebeutel, was es so gibt. Die zweite kommt mit einem Anliegen, einer Frage, einer Aufforderung. Die dritte, und zu dieser Gruppe scheint der ältere Herr zu gehören, freut sich über die Möglichkeit, hier ihr Mitteilungsbedürfnis zu stillen, ihren Frust abzuladen, mal so richtig Dampf abzulassen.

Der Kandidat: ein gesetzter Herr in Ahmadinedschad-Jacke

„Es gibt ja viel mehr Arbeitslose, als man immer sagt“, weiß der ältere Herr, in Wirklichkeit, sagt er, gebe es nämlich sieben oder gar acht Millionen Arbeitslose, die hinter Beschäftigungsmaßnahmen oder anderen statistischen Tricks versteckt gehalten werden, „da brauchen wir keine Flüchtlinge mehr“, denn das seien eh „zu 90 Prozent“ Wirtschaftsflüchtlinge, schätzt er.

Der Bezirkskandidat, ein gesetzter Herr in einer Art Ahmadinedschad-Jacke, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, hört erst mal zu. „Hier in Berlin“, wirft er irgendwann ein, „haben wir hunderttausende Langzeitarbeitslose.“ Und dass das alles nicht ganz so einfach sei, aber da redet schon der ältere Herr weiter, der sich auch von akzentfrei sprechenden Bezirkskandidaten nicht gerne unterbrechen lässt. „Wie kann Deutschland so schwach sein, dass arabische Großfamilien das Sagen haben und Richter und Staatsanwälte bedrohen? Das ist ein Fakt! Ich finde das unerträglich.“

„Ich bin ja hier jetzt in Wilmersdorf mit der Polizei im engen Dialog“, setzt der Bezirkskandidat an, „weil die Wilmersdorfer Straße leider ein Kriminalitätsschwerpunkt geworden ist, weil hier Banden aus dem Balkan ...“

„Ich habe von arabischen Großfamilien gesprochen! Die kassieren hier ab! Sozialhilfe – und das Fünzigfache mit Drogen. Das sind Fakten!“

„Woher wissen Sie das denn so genau?“, fragt der Kandidat nach.

„Das habe ich aus Insiderkreisen!“

„Nun, das sind sehr unterschiedliche ...“

„Reden Sie sich nicht raus! Eine Integration ist in meinen Augen überhaupt nicht möglich. Da brauche ich nur an drei Koranverse denken: Keine Vertrautheit mit Menschen, die außerhalb eurer Gemeinschaft sind, keine Vertrautheit mit Menschen, auf die Allah zornig ist ...“ Der dritte Vers geht dann irgendwie unter, weil der immer wütender klingende Herr schon beim nächsten Punkt ist. „Ich bin so sauer, wenn es zum Beispiel in den Medien heißt, Dresden hat nur nullkommaprozent Moslems, da zieht es mir die Hosen aus! Ist doch nur eine Frage der Zeit, bis die da die gleichen Verhältnisse haben wie in Neukölln, Kreuzberg, Wedding – im Wedding, da wird unsere Polizei angegriffen! Und dann beklagt man sich über den Westen. Wem es im Westen nicht passt, der kann seine Koffer packen, ganz einfach!“

Der Kandidat lässt das alles erst mal regungslos an sich abperlen. Er schafft es tatsächlich, sich weder Zustimmung noch Ablehnung anmerken zu lassen, er strahlt quasi zenbuddhistische Indifferenz aus, man will ja schließlich den aufgebrachten Wähler nicht gleich für immer verlieren. Vielleicht hat er gelernt, dass man bei gewissen Exemplaren der Spezies Wahlvolk am besten aikidomäßig keine Gegenwehr leisten sollte, um sie nicht weiter anzustacheln.

Lektion 2: Straßenwahlkampf ist Zuhören, wenn der Souverän spricht, auch wenn das zuweilen ein längerer Monolog wird, weil es dem Souverän, vor allem dem verrenteten, an Zeit und Meinung nicht mangelt.

Stefan-Heym-Platz, Lichtenberg, 31. August, 9.30 Uhr

So kennt man sie. Grüne Wahlkämpfer neigen zu Rad und Luftballon.
So kennt man sie. Grüne Wahlkämpfer neigen zu Rad und Luftballon.
© dpa

Berlin ist so groß und so weit und der Wähler ein so scheues Reh, dass es gar nicht so leicht ist, in Kontakt ihm zu treten: Man muss ihn an einem Flaschenhals erwischen, an einem Nadelöhr abpassen, etwa vor der U-Bahn, vor dem Supermarkt, am Ausgang eines Parks.

Die Spezies der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ist vorzugsweise in Fußgängerzonen anzutreffen, in der Nähe von Einkaufszentren, am besten in den frühen Morgen- und Abendstunden, oder sonst an Orten, wo das Stimmvieh schon so eingehegt ist, dass es nicht mehr ausbüchsen kann, wenn man ihm mit Wahlkampf kommt: in Seniorenheimen, in Schulen, auf Kinderfesten.

Hier in Lichtenberg haben die Grünen ihren Stand gleich neben dem Eingang zur U-Bahn aufgebaut, zwei Abgeordnete verteilen Flugzettel, Parteizeitungen, Wahlprogramme, dazu Traubenzucker, Buttons, Anstecker, Gummibärchen, Zeitungen, Buntstifte, Windräder.

„Was zu lesen für die U-Bahn?“

„Nee.“

„Nö.“

„Danke, nein.“

Vielleicht ist es noch zu früh, die Wahlen noch zu weit weg, vielleicht ist der Souverän heute mit dem falschen Fuß aufgestanden, jedenfalls gucken die einen weg, die anderen schauen gar nicht erst hin. Kopfhörer druff, eingestöpselt, als Lärmschutz quasi, dabei wäre ebendieser doch ein grünes Kernthema.

Am Ende kommt man mit manchem doch noch ins Gespräch, es geht um Kitaplätze, um die Höhe der Mieten, um Schulen, den Verkehr, den Luft- und Umweltschutz. Und um: „die Ausländer“, mit denen der Souverän noch eine Rechnung offen zu haben scheint.

„Ich verdiene 1105 Euro netto, damit kann man leben“, findet ein hagerer Schnurrbartträger im beigen T-Shirt, „zwar nicht gut und in Saus und Braus, aber immerhin. Und ich finde ja, die Syrer sollten wir aufnehmen, aber die anderen werden uns ausnehmen“, das kommt so flüssig, als habe er sich das vorher zurechtgelegt, und jetzt lacht er so, als freue er sich, dass er es mal anbringen kann.

Und es geht gleich weiter, eine Wählerin teilt mit: „Fahrradfahren finde ich ja wichtig, und Fahrradwege, toll, dass Sie sich dafür einsetzen – aber die Ausländer!"

Und der nächste: „Ihre Haltung gegen Massentierhaltung unterstütze ich sehr – aber dass Sie all die Flüchtlinge ins Land geholt haben!“

Lektion 3: Das mit den „Ausländern“ scheint dem Souverän, der an Wahlständen vorspricht, hüben wie drüben nicht geheuer zu sein.

Fehrbellinerplatz, Wilmersdorf, 8. September, 10.30 Uhr

Da kommt was auf uns zu. Der schreckliche Zustand, in dem die AfD-Wahlkämpfer Berlin sehen, stimmt sie euphorisch.
Da kommt was auf uns zu. Der schreckliche Zustand, in dem die AfD-Wahlkämpfer Berlin sehen, stimmt sie euphorisch.
© REUTERS

Es leben jetzt, da Sie dies lesen, irgendwo in Berlin zwei Flüchtlingskinder, zwei kleine Jungs, wahrscheinlich aus Syrien, die haben zum Spielen zwei kleine blaue Badeenten mit Logo: „AfD! Damit Deutschland nicht baden geht!“ Ganz sicher waren sie nicht, als sie die Enten am AfD-Stand entdeckten: streckten zaghaft ihre Hände aus. Auch der Kandidat der Alternative für Deutschland zögerte einen Moment, weil: Flüchtlingsjungs – und das waren die beiden offensichtlich – sind jetzt erst einmal eher nicht AfD-Kernwählerschaft. Aber gut.

Das ehemalige Rathaus Wilmersdorf, aus dem die kleinen Jungs kamen, dient immer noch als Notunterkunft für Flüchtlinge aus aller Welt, und auf dem Platz davor stehen an diesem Tag zwei sehr junge, sehr motivierte und sehr zuversichtliche AfD-Kandidaten am Stand.

Ihre Partei macht Wahlkampf mit Zukunftsangst, aber ihre eigene Zukunft sieht bestens aus, guter Listenplatz, kann eigentlich nicht mehr viel schiefgehen! Jede Menge Frust, den man bloß noch kanalisieren muss. Der Souverän schaut nämlich, wenn er erst mal stinkig ist, gar nicht so genau hin, was und wen er da auf den Denkzettel schreibt.

Einer der Kandidaten, ein sehr zugänglicher, adretter Junganwalt, früher FDP, jetzt AfD, hat „sehr gute Chancen“, Listenplatz niedrige Zehner, aber: „Noch ist der Bär nicht erlegt!“

Und bis dahin müssen sie sich noch einiges gefallen lassen, weil: Die AfD werde ja oft in die rechte Ecke gestellt. „Wenn man anfängt, die Zuwanderungspolitik zu kritisieren, ist man automatisch ein Fremdenfeind, und wenn man anfängt, zu fragen, wie ist das mit dem Islam, der Burka und so, ist das gleich islamfeindlich. Da sag ich: Moment mal, das ist ja wohl frauenfeindlich, Niqab und Burkas!“

Und jetzt kommt eine etwas unerwartete rhetorische Finte des Kandidaten. Zwergenweitwurf zum Beispiel, sagt er, sei in Deutschland ja auch verboten, weil das gegen die Menschenwürde verstoße: „Obwohl die Zwerge sich früher freiwillig werfen ließen und damit ihr Geld verdienten! Aber es degradiert den Menschen zum Objekt, und das ist natürlich bei der Niqab auch der Fall. Die Frau verliert damit ja ihre Identität.“

AfD hin oder her: Quietscheente ist Quietscheente

Eine junge Frau mit Kind im Kinderwagen und Kopftuch stößt hinzu, sie interessiert sich: Worum geht es hier, Badeenten, Kugelschreiber, Gummibärchen, wozu das Ganze?

„Eine politische Partei“, wird ihr beschieden, „uns kann man wählen, wir sind eine Alternative, für Deutschland!“

„Aha.“ Der Dame dämmert, dass die Alternative für Deutschland für sie selbst einen Haken haben könnte.

„Ja, wir sind eine eurokritische Partei und möchten eben, dass man das mit den Flüchtlingen wieder besser regelt, nicht so ungeordnet.“

Gut, die Quietscheente nimmt sie dann doch noch mit, weil Quietscheente ist Quietscheente.

Aber da naht schon die nächste potenziell heikle Situation für den Stand, der im Gegensatz zu anderen immerhin Verdruss über Flüchtlinge nicht fürchten muss: Ein schwules Pärchen, der Souverän als Duumvirat, die eine Hälfte groß und muskulös, mit kantigem Kopf und kurzen Haaren, die andere klein und hager, mit Brille und Hipsterbart, ist „jetzt spontan hier stehen geblieben“, sonst seien ja überhaupt keine AfD-Stände zu sehen, nirgends! „Ich find’s gut, dass ihr euch hier raustraut“, sagt der Größere der beiden. „Ist ja lebensgefährlich, hier zu stehen! Also vielen Dank, dass ihr’s macht.“ – „Na ja“, meint der AfD-Kandidat, „ hier ist es relativ ruhig, und es sieht so aus, als würde es am Ende doch friedlich bleiben.“

Es stellt sich heraus, dass die eine Hälfte des Paars Abonnent der strammrechten Zeitung „Junge Freiheit“ ist, während der Brillenträger ein Argument von Vaclav Klaus mitbringt, dem ehemaligen tschechischen Präsidenten, der tags zuvor in Berlin auf einem Boot eine Rede gehalten hat: „Jeder hat bei sich zu Hause doch auch eine Grenze, wo nicht jeder reinkann, wir ja auch“, so einfach, und doch so wahr, das hängt einem nach, nicht wahr? Weil, dieses Grenzenlose, das wollen doch die meisten Leute gar nicht.

Das Duumvirat muss jetzt weiter, und so entsteht kein Gespräch, das in dieser Eintracht wohl ohnehin kaum entstanden wäre: darüber, wie das denn passt, Schwule und eine Partei, die nur die Vater-Mutter-Kind-Familie gelten lässt und die schulische Aufklärung über Homosexualität als „Frühsexualisierung unserer Kinder“ bezeichnet.

Aber bleiben wir noch etwas hier stehen, hier, wo das „Ausländer“-Geschrei des Souveräns anders als sonst an den Wahlständen keine Sprachlosigkeit auslöst. Es naht: ein rüstiger Rentner, den Schnurrbart kurz geschnitten. „Ihr seid mir sympathisch“, findet er, und: „Da muss mal was passieren hier! Nee, isso!“

Wenn der Blutdruck steigt

Der Herr ist mit dem Rad und eigentlich ganz sommerlich unterwegs, aber doch zugleich ziemlich sauer. „Endlich mal welche, die den Mund aufmachen“, findet er und meint die Herren von der AfD, „und nicht den ganzen Scheiß und Bückling wie sonst immer!“

Aber warum er so sauer ist, und warum er glaubt, dass es eine gute Idee ist, seiner Wut genau die Form einer AfD-Stimme zu geben, ist dann doch ein kleines Politlehrstück. Aus Wählerstrom wird Wählerstarkstrom, wenn der Blutdruck steigt. Warum?

„Wir haben fast ’ne Million Rentner, die momentan nebenbei noch arbeiten gehen, damit sie über die Runden kommen!“, empört er sich. „Ich seh’s bei mir, ich hätte zwee netto bekommen in D-Mark, jetzt krieg ich 1000 Euro! Jetzt steh ich da, wo einer 40 Jahre nicht gearbeitet hat, da steh ich heute, das kann doch wohl nicht wahr sein!“

Der Herr war Lehrer, aber er hat irgendwann seinen Beamtenstatus verloren, weil er nach Berlin gezogen ist, das hat man ihm als „Eigenmächtigkeit“ ausgelegt, so hat er sich als Honorarlehrer „durchgefummelt“. Da braucht der Kandidat eigentlich gar nicht mehr viel zu tun, er kommt eh kaum zu Wort: „Hier ist es, das Programm für Berlin, es ist schon sehr lang, und für eine neue Partei ...“

„Wenn ich heute überlege“, fährt der Herr fort, „eine Million Rentner, und jeder zweite oder jeder dritte muss aufstocken lassen, dann ist das doch nicht mehr zu fassen! Wat haben die denn gemacht, frage ich, wat haben die denn gemacht? Gestern erst wieder, in ihrer Bundestagsdebatte, wat sagense, für nen Flüchtling zahlen wir 35 Euro plus Essen! Ja, wer kommt denn bei mir vorbei und sagt, du hör mal, hier hast du 35 Euro! Das sind im Monat 1100 Euro! Und dann noch Essen, wer kommt denn bei mir mit Essen vorbei!?“

Türken, Araber: Der AfD-Kandidat differenziert da schon

Die Frage ist ja dann bloß, was macht der Wähler mit seinem Ärger? Die Herren mit den blauen Quietscheenten haben da so ihre Ideen, die beim Souverän erst mal gut anzukommen scheinen: „Solange es im eigenen Land und im eigenen Volk“, kommt der Kandidat endlich zu Wort, „Leute gibt, die so Riesenprobleme haben, ist es dem eigenen Volk einfach schwer zu verklickern, dass wir für Leute von außen, und noch dazu kulturfremd, und mit den ganzen Problemen, die man absehen kann, so viele Milliarden in die Hand nehmen! Wir sind ja auch die Partei der kleinen Leute, wir sind für die, die es am schwersten haben, weil das ist die Mehrheit im Volk. Die Mehrheit im Volk ist nun mal nicht wohlhabend ...“

„Isso, isso“, nickt der ältere Herr.

„Und wir können ja nicht sagen, kommt alle zu uns, lassen wir unser Sozialsystem allen offenstehen, da schneiden wir uns doch ins eigene Fleisch“, denkt der Kandidat weiter.

„Schauen Sie bloß mal die Türken an, die wir schon hier haben ...“

„Auch da gibt es Erfolgsmodelle“, gibt sich der Kandidat ausgewogen, „allerdings zeigt sich auch dort wieder eine Spezialität des muslimischen Kulturkreises, ohne das böse zu meinen ...“

„Richtig!“

„Durch ihre spezielle kulturelle Eigenheit ...“

„... kann man ja auch verstehen ...“

„... fällt es ihnen schwerer, sich in westlich freiheitliche Systeme vollständig zu integrieren, es gibt da immer einen Rest, der schon statistisch nachweisbar ist ...“

„Das gibt’s ja auch im Lager, dass die sagen, nee, von einer Frau lassen wir uns nicht bedienen ...“

„Wobei das sind wieder die Araber, das ist etwas anderes ...“ Der Kandidat differenziert, kennt sich aus, man kann das durchaus kaum glauben. Ändert aber nix daran: „Der Islam ist eben nicht reformiert, in weiten Teilen, und da ist man auch kein Rassist, wenn man das anspricht! Weil man sagt ja nicht ,Alle Moslems müssen weg‘, so nach dem Motto, die sind alle gleich, sondern man sagt nur: ,Ich sehe, dass da viele dabei sind, mit denen es Probleme geben könnte.‘“

Lektion 3: Rechts der AfD ist immer noch ein bisschen Platz für einen Souverän!

Kaiser-Wilhelm-Platz, Schöneberg, 8.September, 16 Uhr

Richtige Party, falsches Schild. Linken-Spitzenkandidat Klaus Lederer vor einem SPD-Plakat.
Richtige Party, falsches Schild. Linken-Spitzenkandidat Klaus Lederer vor einem SPD-Plakat.
© dpa

Die Linke hat eine kleine Bühne aufgebaut, der Verkehr braust vorbei, die Sonne sticht. Es sprechen die Bezirkskandidaten, Klaus Lederer, der Spitzenkandidat, am Ende soll Sahra Wagenknecht kommen.

Auf der Bühne geht es um Pflege, Personalbesetzung, Tariflöhne, Mieten, einer der Kandidaten spannt den Bogen zur Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, zu antifaschistischen Inhalten, zum Einsatz, damit diese Stadt weltoffen bleibt!

Dann sind die Kandidaten fertig, Sahra Wagenknecht steht noch im Stau, also singt Elen Wendt, Straßenmusikerin, Singer-Songwriterin, englischsprachige Powerstimmen-Songs.

Neben der Bühne parken dick beklebte Werbefahrräder von Zalando, wahrscheinlich machen die Fahrer hier gerade Pause.

Die Räder fallen drei in die Jahre gekommenen Links-Sympathisanten ins Auge, bewegten Polit-Pensionisten, graue Bartstoppeln, T-Shirts, Jutebeutel, die gerade vor einem Tisch mit Flugzetteln und kleingedruckten Parteiprogrammen politisieren. Man kennt sich, man sieht sich, man vertreibt sich die Zeit bis zum Wagenknecht-Auftritt.

Einer zeigt auf die Zalando-Räder und macht auf harter Hund: „Wollen wir die Scheiße nicht mal abfackeln? Wollen die uns provozieren oder was, dass die genau hier parken?“

Die anderen reagieren erst nicht, aber der Zalando-Hasser lässt nicht locker: „Haste das gesehen, der Müller hat sich nicht entblödet, für die Arschlöcher den Grundstein zu legen? Die ganzen Klamotten werden in Bangladesch unter unsäglichen Bedingungen produziert, und dann das.“

Sein Parteigenosse ist da ganz Realo: „Aber daran können wir beide doch nichts ändern.“

„Ändern nicht, aber deswegen können wir das jetzt doch trotzdem abfackeln!“

„Hehe, ja, Ernst Thälmann, wa, der hat ganz andere Sachen gemacht!“

Straßenwahlkampf ist eben nicht: die Pyrotechnik der Demokratie. Aber klar: Diese Art, Wert abzuschöpfen, von Leuten, die schlecht bezahlt werden, sonstwo, so isser, der Kapitalismus heutzutage, immer noch nicht besiegt, überwunden, gezähmt.

Und die Arbeitsplätze?

Das lässt der Stoppelbart nicht gelten: „Das sind mit die am schlechtesten bezahlten!“

„Ja klar, aber die Leute machen ja mit“, sein Kumpel ist wirklich ein sehr realpolitischer Realo.

„Na und: Selbst wenn die Leute mitmachen, dann muss man doch trotzdem mal seine Stimme erheben und sagen, da machen wir nicht mit!“

„Aber kannst du den Leuten denn einen anderen Arbeitsplatz bieten?“

Kann er nicht. Die Sonne sticht, und Sahra Wagenknecht steckt immer noch im Stau.

Da singt Elen Wendt: „Ah forgive me, forgive me, baby-y-y-y, is all you can say, is all I can say. Words don't come easily, but I lo-o-ove you.“

Lektion 4: Manche sind sich selbst genug.

Klausenerplatz, Charlottenburg, 9. September, 10 Uhr

Echt jetzt? Es gibt tatsächlich Fans des CDU-Wahlkampfs.
Echt jetzt? Es gibt tatsächlich Fans des CDU-Wahlkampfs.
© dpa

Das Auge wählt mit! Und Straßenwahlkampf ist zum Großteil auch das Photoshop der Demokratie.

Am Stand der CDU, gleich neben dem Wochenmarkt, steht die örtliche Kandidatin, eine Unternehmerin, sie verteilt Flugzettel mit dem Wahlspruch „Berlin im Kopf – Charlottenburg im Herzen“, hinter ihr eine große Flagge mit ihrem Foto drauf. Da nähert sich eine Dame mit Rad, eine Schauspielerin, um die 60, eigentlich unterwegs zum Gemüsekauf.

„Darf ich Ihnen sagen“, spricht sie die Kandidatin dann doch noch an, „dass ich Ihr Foto unendlich apart finde? Deswegen habe ich jetzt darauf reagiert ...“

Oh, danke, das freut die Kandidatin, ist ja nicht ganz ohne Aufwand, solche Fotos zu schießen, auszuwählen, zu produzieren, ganz ohne Nachbearbeitung. „Der Geheimtipp war: Fotos nie selber auswählen! Weil man hat ja einen ganz anderen Blick auf sich selbst.“

Die Schauspielerin ist, ganz allgemein, dieses Jahr „mit den CDU-Plakaten mit am zufriedensten, weil es sonst einfach zu entleert ist, zu sehr Personality-Show, und das will man nicht! Gut, ‚starkes Berlin‘, das war mir am Anfang auch, na ja, etwas, wie soll ich sagen – aber dann hat sich am Ende doch ein Bild ergeben, was ich gut finde.“

Das kann die Kandidatin verstehen, sie ist schon länger dabei, zum ersten Mal im Jahr 1983, als Richard von Weizsäcker wegging. „Damals machten wir eine Kampagne für Diepgen, die hieß ,Ein Berliner für Berlin‘.“

Der Souverän zieht ein bisschen nachdenklich von hinnen, vielleicht ist das mit dem Sinnentleerten ja nicht ganz neu. Andererseits: Immer ist es ja er, der den Phrasen Sinn einhauchen könnte – nicht zuletzt indem er sie hier und jetzt, wo er jenen „da oben“ nah ist wie nie, hinterfragt.

Letzte Lektion: Straßenwahlkampf, das ist gelebte Demokratie, ist Werben und Auseinandersetzung, Plaudern und Debattieren, mit Argument und Injurie. Und manchmal auch nur Oberfläche.

Dieser Text erschien zunächst am 17. September 2016 in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.

Pepe Egger

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