Wahl zum Abgeordnetenhaus: Berliner Straßenwahlkampf
„Darf ich mit Ihnen über Politik reden?“ Viel Mühe und Nerven kostet es, mit den Wählern ins Gespräch zu kommen. Doch keine Partei will darauf verzichten. Eine Reportage
Junge Menschen, im Gespräch vertieft, gruppiert um ein bescheiden flatterndes Parteifähnchen plus Kandidatenfoto. So fabelhaft lebendig kann politische Arbeit sein, Straßenwahlkampf. Nach drei Stunden vergeblicher Suche bietet sich endlich dieses Motiv am Rande des Alexanderplatzes. Doch die Szene täuscht. Die Diskutanten sind allesamt Wahlkämpfer der SPD, keine Wähler.
„Große Plätze sind die am wenigsten attraktiven Orte für Infostände“, sagt die Vizechefin der SPD-Abteilung Alexanderplatz, Michaela Wintrich. Zu viele Touristen und Besucher aus anderen Bezirken. Die Parteifreunde stünden hier nur wegen der Bustour der Wahlkreis-Kandidaten durch die Kieze von Mitte, mehr ein Presse-Event als echter Straßenwahlkampf. Mit den Anwohnern komme man besser im Tür-zu-Tür-Modus ins Gespräch, sagt Wintrich. Also Klingeln und hoffen, dass jemand aufmacht und etwas Zeit übrig hat.
Das Wahlvolk will nicht diskutieren
Straßenwahlkampf gehört immer noch zum festen Repertoire der Kampagnenstrategen – trotz Facebook, Twitter und „innovativer“ Aktionen wie die Kochshow der Linkspartei oder der Popup-Laden der FDP. Kandidaten und ehrenamtliche Helfer schwärmen in der ganzen Stadt aus, verteilen Infomaterial und Luftballons, suchen den direkten Kontakt mit dem Wahlvolk. Doch das hat auch dieses Jahr wenig Lust, am Wochenende mit Politik behelligt zu werden.
Die Grünen haben sich am U-Bahnhof Lipschitzallee in Gropiusstadt postiert. Drei Helfer und ein Spitzenkandidat, Daniel Wesener. Auf der weiten Platzfläche sind die Wahlkämpfer meist in der Überzahl. Die Wähler, vorwiegend im Rentenalter, surren im E-Rolli vorbei, ziehen einen Einkaufstrolley hinter sich her, queren eilig den Platz, rauchend. Sie reagieren nicht auf das „Moin, moin, darf ich ihnen was zur Wahl mitgeben?“ Oder schütteln vorbeugend den Kopf.
Aufkleber für den Briefkasten: Keine Nazi-Post
Eine Frau fragt, die Auslage des Infostandes musternd, ob sie einen Stadtplan hätten. Haben sie nicht. Dafür Fahrradklingel und -reflektoren. Im Angebot ist auch ein Aufkleber für den Briefkasten: „Keine Post von Nazis!“.
Gropiusstadt sei für die Grünen ein schwieriges Terrain, sagt Wesener, aber das sei kein Grund, hier nicht auch mal Flagge zu zeigen. Neulich waren sie in Rudow, auch keine grüne Hochburg. Dort hatten sie Polizeischutz, weil es Drohungen von rechts gab. Ein älterer Mann am Stock, einst aus der Türkei gekommen, schwerfällig die Worte suchend, fragt Wesener, was er von Ausländern halte. Bevor Wesener seine Antwort fertig hat, mischt sich ein anderer betagter Mann ein. „Asylanten“, sagt er nur. Wesener schlägt vor, Ausländer in erster Linie als Nachbarn zu sehen. „Denn is jut“, sagt der Mann und geht langsam weiter. Das war die erste echte Diskussion.
Ein Mann in Karohemd und Weste, Berliner von Geburt, kommt ohne lange Vorreden auf den „Fliegerplatz“ zu sprechen, gemeint ist der Flughafen BER – „was da für Milliarden verballert werden, da müsste doch einigen Politikern mal die Traumgehälter abgezogen werden“. Er kommt auf die Mauerzeit zu sprechen, als er öfter „drüben“ war, bei seinen Kumpels in Mahlsdorf, „tolle Zeit“ - es wird ein Monolog über die Berliner Zeitläufte, der nur am Rande die aktuelle Politik streift.
Eine Frau – „gehe auf die 70 zu“, gestreifter Pulli, gestreifte Jacke, fängt ebenfalls beim Flughafen an, um anschließend über Erdogan, Merkel und Ausländer herzuziehen. „Ick jloob denen keen Wort mehr da oben.“ Beim Stichwort „vermummte Weiber“ versucht Wesener einzuhaken. Die Grünen als Partei der Emanzipation seien auch keine Fans der Verschleierung, aber ein Burkaverbot bringe doch nicht mehr Sicherheit. Ob es denn hier Frauen in Burkas gebe? Die Frau weicht aus, darum gehe es ja gar nicht. Zuletzt bedankt sie sich, mal ihren Frust losgeworden zu sein.
Die Linken stehen vor dem Supermarkt
Die Linken stehen nur zwei U-Bahnhöfe weiter nördlich, vor dem Kaufland-Supermarkt in Britz-Süd. An einem schmalen Tisch lädt Jörg Lelickens, Maler und Lackierer, Leiharbeiter und Gewerkschafter zum „Bürgergespräch“, doch auch mit ihm will fast niemand reden. Und deshalb kann er den Kaufland-Kunden nicht sagen, dass er kein Politbonze ist, sondern einer von ihnen, die nicht gerade viel Geld verdienen.
Leider hat es heute nicht für einen linken Sonnenschirm oder die Parteifahne gereicht, auch rote Kugelschreiber und Brillenputztücher hat der Direktkandidat für Britz nicht dabei. „Ich bin nicht mit dem Auto da.“ Außerdem seien die Personalressourcen an diesem Wochenende knapp. „Wir müssen nachplakatieren. Zwei Drittel unserer Plakate im Süden wurden abgerissen oder zerstört.“
Politikverdrossenheit ist gewachsen
Auch für die Linke sei Neukölln-Süd ein schwieriges Terrain, sagt Lelickens Kollegin Biserka Drahos. Sie ist erst seit ein paar Jahren bei den Linken und hätte sich nicht vorgestellt, dass es so schwer sei, den Leuten Politik zu verkaufen. „Selbst die Armen ziehen sich zurück.“ Die Politikverdrossenheit sei noch größer geworden.
Bald ist Mittag, dann sind die zwei Stunden Infostand vorbei. Mehr sei auch kaum zumutbar, findet Drahos. Aber dann kommt unverhofft der Motivationsschub des Tages: Eine Frau um die 40 stoppt ihr Rad, schiebt die Sonnenbrille in die Haare, lächelt, fragt unverblümt: „Ist die Linke regierungsfähig?“ Drahos erklärt, gestikuliert, die Frau hört zu und bedankt sich am Schluss, mal eine echte Linke getroffen zu haben. Bislang sei die Partei für sie keine Option gewesen, „einfach aus Vorurteilen heraus“. Jetzt sieht sie das anders.
Thomas Loy