Das Ende der hippen Hauptstadt?: Partys, Kultur, Start-ups – wie die Coronakrise Berlins Erfolg gefährdet
Clubs sind in Not, Touristen fehlen, Geschäfte schließen: Die Coronakrise trifft das Herz Berlins. Welche Verluste drohen, welche Chancen ergeben sich?
Schon in den vergangenen Jahren war Berlin nicht mehr ganz so arm und auch nicht mehr ganz so sexy, wie der ehemalige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit die Stadt einst bezeichnet hatte. Die Wirtschaftskraft wuchs, doch das Image als junge und hippe Stadt ist geblieben, die Clubs und das reiche kulturelle Leben prägten weiterhin das Image Berlins als junge und hippe Metropole. Das zog nicht nur Start-ups und junge Unternehmer an, sondern auch viele Touristen. Diese generierten jährlich 1,48 Milliarden Euro Einnahmen bei Hotels, Nahverkehr und Einzelhandel. Doch nun verändert die Coronakrise die Stadt weiter, einiges dürfte verloren gehen, anderes könnte sich als Chance erweisen.
Wie ändert sich Berlins Partyszene?
Kaum eine Branche leidet in Berlin so sehr unter der Coronakrise wie die Clubs. Sie waren die ersten, die schließen mussten. Und bis sie wieder regulär öffnen können, dürfte noch viel Zeit vergehen – denn dort droht hohes Ansteckungsrisiko. Das haben die Coronafälle aus dem Club Trompete unterstrichen.
Dabei spielen die Clubs eine wichtige Rolle für Berlin: 9000 Menschen sind laut einer Studie der Clubcommission in der Szene beschäftigt. Doch für viele der teils ohnehin unter hohen Mieten und Anwohnerbeschwerden leidenden Läden könnte der Einnahmenausfall das endgültige Aus bedeuten.
Deshalb haben einige Clubs, seit auch Restaurants wieder Gäste vor Ort bewirten dürfen, ebenfalls ihre Türen geöffnet – allerdings nicht für den normalen Clubbetrieb mit Tanzfläche, sondern für gastronomisches Angebot auf den Außenflächen. So bietet zum Beispiel der Kreuzberger Club Birgit und Bier nun täglich Pizza im Biergarten an, ebenso die Rummelsbucht, und auch das Sisyphos in Rummelsburg, das sonst für tagelange Technoexzesse bekannt ist, serviert nun am Wochenende Essen an Tischen.
Um auch Läden ohne Speisenangebot das Öffnen zu ermöglichen, fordert die Clubcommission, Freiflächen generell bis 24 Uhr öffnen zu dürfen, mit Musikprogramm bis 22 Uhr – und strengen Hygieneregeln für Gäste und Personal. Ob das auf Dauer zum Überleben reicht, ist fraglich. Zumal nicht alle Clubs über große Außenflächen verfügen – und der Reiz der Berliner Partys ja sonst eher in der völligen Freiheit und Zügellosigkeit liegt.
Wie wandelt sich die Kulturhauptstadt Berlin?
Ein Blick auf die Zahlen zeigt, was auf dem Spiel steht. 160.000 Beschäftigte zählt die Berliner Kultur- und Kreativwirtschaft. Das Senatsbudget für Kultur umfasst in diesem Jahr rund 600 Millionen Euro, und der Bund zahlt auch noch kräftig in die Kulturszene der Hauptstadt ein. Die Kultur bestimmt sehr stark das Bild der Stadt, nach innen und nach außen. Aber das Bild wandelt sich.
Der Lockdown trifft vor allem die Freie Szene. Den freien Künstlern droht die Luft auszugehen, wenn der Herbst so wird dieses Frühjahr: keine Auftrittsmöglichkeiten, kein Publikum. Dabei verschärft die Coronakrise die ohnehin vorhandene Tendenz zur Verdrängung von Spielstätten und Ateliers aus der Innenstadt.
Ähnlich sieht es am anderen Ende des Spektrums aus – vermögende Privatsammler verlassen Berlin, um sich anderen Aufgaben und Orten zuzuwenden. Oder sie haben genug von den erstaunlich bürokratischen Strukturen dieser Stadt, ob auf Bezirksebene oder in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit den Staatlichen Museen.
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Schon vor der Pandemie war – auch bei den Clubs – eine Veränderung zu bemerken: Die Stadt verliert etwas von ihrer Spontaneität, es tritt im Vergleich zu anderen Metropolen eine Normalisierung ein, kurz: Gentrifizierung. Das Coronavirus beschleunigt diese Entwicklung hin zu mehr kommerziellem Denken auch in der Kultur, notgedrungen. Und zur kleinen Form.
Möglicherweise liegt darin eine Chance: Immer mehr Hotels, immer höhere Touristenzahlen, eine stetig wachsende Freie Szene, für die der Senat Sorge trägt, das wird es so nicht mehr geben können. Selbst die finanziell gut ausgestatteten Staatsbühnen und Orchester werden mit Einschnitten konfrontiert sein, da die Steuereinnahmen massiv zurückgehen.
Eine Hoffnung wäre, dass deshalb im Kulturbetrieb nachhaltiger produziert wird. Weniger kann auch mehr sein. Die Zeit mit dem Virus zeigt: Kultur, zumal in Berlin, ist ein treibender und sehr krisenanfälliger Wirtschaftsfaktor. Und sie lässt sich nicht durch digitale Alternativformen ersetzen. Der Herbst wird zu einer Phase der Experimente werden.
Was wird aus dem Stadtbild, wenn ein Teil des Einzelhandels kaputt geht?
Chronische Optimisten und Chefs der Deutschen Post, die viel Geld mit dem Versandhandel verdienen, vertreten die These: Unsere Städte würden dadurch wieder lebenswerter, da dann wieder Privatleute in die Innenstädte ziehen können. „Mehr Versandhandel senkt Mieten in Innenstädten“, behauptete Post-Chef Frank Appel in einem Tagesspiegel-Interview.
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Richtig ist sicher, dass in Berlin – anders als in den meisten mittelgroßen und ganz großen Städten – sich das große Handelsgeschäft nicht um ein bis zwei Fußgängerzonen dreht. Das Elend wäre nicht ganz so sichtbar: Aber es bliebe eine ökonomische Katastrophe wenn Tausende Geschäfte schließen müssten und Zehntausende Angestellte arbeitslos werden würden.
Der Einzelhandel hatte 2019 mit knapp vier Prozent stärker zugelegt als im Bundesschnitt. Innenstädte und eCommerce hin oder her: Hier ist eine Wachstumsbranche in Gefahr.
Was wird aus der Sportstadt Berlin?
Berlin stellt die meisten Erstligisten im Sport in der ganzen Bundesrepublik. Doch in den vergangenen zwei Monaten ging so gut wie nichts mehr. Einzig Jogger und Radfahrer konnten ihr Hobby noch ausüben – wenn auch unter strengen Hygieneauflagen.
Inzwischen tut sich wieder etwas, allen voran natürlich im Fußball. Am Sonntagabend fand das erste Geisterspiel der Bundesliga-Geschichte in Berlin statt, der 1. FC Union unterlag dem FC Bayern im Stadion An der Alten Försterei 0:2. Die Veranstaltung war eher trist, noch trister dürfte das Stadtderby am kommenden Freitag im Olympiastadion werden, wenn Union bei Hertha BSC antritt.
Immerhin: Die Profifußballer dürfen spielen, in den Berliner Amateurligen stehen die Zeichen hingegen auf Saisonabbruch. Irritationen löste das Verbot von Veranstaltungen mit über 5000 Menschen in Berlin bis zum 24. Oktober aus, in anderen Bundesländern steht hier immer noch der 31. August. Der Berlin-Marathon ist davon unmittelbar betroffen, dessen Austragung an einem späteren Termin als am ursprünglich geplanten 27. September unwahrscheinlich ist.
Immerhin ist keiner der großen Berliner Klubs von einer Pleite bedroht und dank der in Aussicht gestellten 8,2 Millionen Euro vom Senat haben auch kleinere und Breitensportvereine die Hoffnung auf einen Neustart nach der Krise.
Was wird aus der Start-up-Hauptstadt?
Ein großer Teil des Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahre gründete sich auf dem Boom von Start-ups, schätzungsweise 19.000 Jobs sind hier allein in den vergangenen zwei Jahren entstanden. Doch der mögliche Mittelstand von morgen ist durch die Krise stark gefährdet: Acht von zehn Jungunternehmen fürchten um die Existenz, vor einem massiven „Start-up-Sterben“ hat deren Verbandschef Christian Miele gewarnt.
Das Problem: Viele Jungunternehmen haben noch wenig Umsätze und auch kaum Rücklagen, zudem bekommen sie meist keine klassischen Kredite. Damit greifen auch viele Hilfsmaßnahmen nicht.
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Die Bundesregierung startete vergangene Woche ein Rettungsprogramm. „Es haben schon mehrere hundert Investoren angeklopft“, sagt der Start-up-Beauftragte im Bundeswirtschaftsministerium, Thomas Jarzombek. Der zweite Teil des Programms ist noch nicht verfügbar, dabei soll kleineren Unternehmen geholfen werden, die noch keine Wagniskapitalinvestoren haben. Auch diese Säule sei nun mehr oder weniger startklar, muss jedoch noch durch den Senat und die Landesbank IBB umgesetzt werden.
Die Krise zeigt auch, wie wichtig die Digitalisierung ist. Der diesbezüglich zu erwartende Schub könnte auch der Berliner Digitalwirtschaft helfen. Damit das nächste Google oder Facebook aus Europa oder gar Berlin komme, wünscht sich Jarzombek aber auch mehr Mut bei der öffentlichen Auftragsvergabe: „Der Staat sollte auch mal bei Prestigeprojekten auf Start-ups setzen, statt immer auf die klassischen Großkonzerne wie Siemens, Telekom & Co.“
Ist die Pandemie auch eine Chance für die Gesundheitsstadt Berlin?
Schon vor der Pandemie hatte Michael Müller (SPD) die Stadt als Medizinmetropole etablieren wollen. Der Senatschef setzte 2018 ein Kommission ein, um Chancen einer „Gesundheitsstadt 2030“ auszuloten. Bis zur Coronakrise wurde zwar vor allem skizziert, aber durchaus auch Weichen gestellt.
Die Charité ist besser gerüstet, als viele erwartet hatten, ihr Chefvirologe Christian Drosten inzwischen weltweit anerkannt. Sicher, die Amtsärzte kritisieren Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci für ihr unabgesprochenes Vorgehen, die SPD-Politikerin wiederum macht Druck auf die niedergelassenen Mediziner, die sich öffentlichkeitswirksam wehren. Doch bei aller Kritik sind die Akteure flexibler als noch zu Jahresbeginn.
Schranken zwischen den Institutionen gibt es seit Jahrzehnten, in der Coronakrise könnten sie sukzessive niedriger werden. Dann ist da die Covid-19-Notklinik an der Messe mit bald 800 Betten. In dieser Infektionswelle wird das Ad-hoc-Krankenhaus nicht gebraucht, zeigt aber: Berlins Gesundheitswesen hat Reserven, die Stadt könnte Covid-19-Patienten anderer Bundesländer, gar Staaten aufnehmen – sie bereitet sich jedenfalls auf eine zweite Welle vor.
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Viel wird nach der Krise davon abhängen, wie der Senat die Expertise der Fachleute in den Krankenhäusern und den örtlichen Pharmafirmen – Bayer, Sanofi und Pfizer – zum Wohl der Stadt nutzt.
Verliert Berlin sein wildes Image?
Dass in Berlin aber längerfristig die Lichter und Bässe ausbleiben, dass Gäste – egal ob Touristen, Geschäftsreisende oder Neu-Berliner – einen Bogen machen, weil Corona Berlin zu langweilig macht, ist kaum denkbar. „Berlin ist keine Stadt, die sich domestizieren lässt“, sagt Markus Voigt, der Präsident des Verein Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI).
Berlin sei und bleibe überall dort wild, wo es Korsetts aufbreche und dazu ermutige, Neues zu wagen und Träume zu verwirklichen. Dieses Lebensgefühl finde sich an allen Ecken und Enden, in der Wissenschaft, in der Kultur, in der Kreativwirtschaft, der Gastronomie, natürlich der Start-up-Szene und den Clubs, sagt der erfahrene Netzwerker. „Bei uns wird in einem Maß experimentiert und ausprobiert, das andernorts unmöglich wäre.“
Diese Vielfalt der Möglichkeiten und der Wille zum Wandel gehörten immer schon zum Markenkern der Stadt und des Standorts. „Das bedeutet aber auch: Konzepte dürfen auch mal scheitern – es muss sich eben alles ändern, damit alles so wild bleibt, wie es ist“, sagt Voigt.