Corona-Ampel, Tests, Absprachen: Amtsärzte attackieren Gesundheitssenatorin für Berliner Sonderweg
Es rumorte schon länger, nun machen die Amtsärzte ihrem Ärger Luft. Ihre Kritik: Die Senatorin übergehe sie und entscheide teils ohne fachliche Grundlage.
In einem Offenen Brief an Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) haben sich die zwölf Amtsärzte der Bezirke strikt von deren Kurs zur Bewältigung der Coronakrise distanziert. Dem Schreiben zufolge, das dem Tagesspiegel exklusiv vorliegt und am Mittwochnachmittag verschickt wurde, seien die Gesundheitsämter von zu "geplanten Maßnahmen vorab fachlich-medizinisch in keiner Weise angehört oder eingebunden" worden.
"Die Informationen zum Ampelsystem und zur sogenannten 'Teststrategie' erfuhren wir ausschließlich aus der Presse", heißt es weiter. Anfragen aus der Bevölkerung könnten die Gesundheitsämter deshalb nicht beantworten, das führe zu "Irritationen, Erwartungen und Verunsicherungen".
Weiter heißt es in dem Schreiben: "Als Amtsärzte und Amtsärztinnen setzen wir auf möglichst evidenzbasierte Entscheidungen und wissenschaftliche Empfehlungen wie beispielsweise aus dem Robert-Koch-Institut (RKI) und medizinischer Fachgesellschaften." Auf dieser Grundlage würden die Gesundheitsämter erfolgreich arbeiten, wie die Nachverfolgung von Kontaktpersonen und die gezielte Abstrich-Strategie nach Empfehlung des RKI zeigen würden.
"Eine ungezielte Testung ohne medizinische Indikation lehnen wir ab", erklären die Amtsärzte mit Blick auf dementsprechende Pläne Kalaycis und fügen hinzu: "Auch das am Dienstag öffentlich vorgestellte Ampelsystem ist medizinisch für uns nicht nachvollziehbar."
Mit der Corona-Ampel will der Senat die Ausbreitung des Virus zuverlässiger beurteilen als mit einer reinen Obergrenze für Neuinfektionen. Die Ärzte fordern eine "fachlich untermauerte Gesamtstrategie", die für die Akzeptanz in der Berliner Bevölkerung notwendig sei.
Moritz Quiske, Sprecher der Gesundheitssenatorin, sagte am Mittwoch: „Wir haben noch keinen Brief erhalten, wundern uns aber schon ein wenig über die Selbstkommentierungen der Absender.“ Man lese den Brief nun erst einmal und bleibe „auf jeden Fall beim konstruktiven Miteinander“. Mittes Gesundheitsstadtrat Ephraim Gothe (SPD) distanzierte sich von dem für ihn überraschendem Schreiben und erklärte: „Öffentliche Schuldzuweisungen sind kontraproduktiv“.
Ankündigung von mehr Tests - ohne zu sagen, wie es geht
Abgestimmt und einstimmig beschlossen worden war der Brief auf einer am Mittwochvormittag abgehaltenen Konferenz aller Amtsärzte der Bezirke. Im Hintergrund hieß es, die Situation sei „schon längst eskaliert“ und die Amtsärzte hätten befürchtet, „in das Elend hineingezogen zu werden“.
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Unter ihnen gärt es schon lange, vor allem die mangelnde Kommunikation der Gesundheitsverwaltung wird kritisiert. „Wir werden überhaupt nicht einbezogen“, sagt ein Amtsarzt. Zuletzt hatte die Ankündigung von Kalayci für Unmut gesorgt, viel mehr zu testen.
Wie das geschehen solle, sagte sie nicht. Die Bezirke spüren aber schon die Konsequenzen der Aussage, weil die Menschen sich zuerst an die Gesundheitsämter wendeten, es aber noch gar keine Lösung dafür gebe, die Tests massiv zu erhöhen. „Wir müssen ausbaden, was die Senatsverwaltung beschließt“, sagt ein Amtsarzt dem Tagesspiegel.
„Weder evidenzbasiert, noch abgesprochen“
Aus der Sicht der Amtsärzte seien Entscheidungen oft „weder evidenzbasiert, noch irgendwie abgesprochen“. Die Senatsverwaltung für Gesundheit würde sogar versuchen, die Amtsärzte unter Druck zu setzen und einzelne Bezirke gegeneinander auszuspielen.
Einzelne Amtsärzte würden in den dreimal wöchentlich stattfindenden Telefonkonferenzen mit der Gesundheitsverwaltung erheblich angegangen. So seien etwa die Bezirke Mitte und Neukölln von der Senatsverwaltung für ihre Teststrecken gelobt worden und andere Bezirke damit bedrängt worden, eigene solcher Orte aufzubauen – dabei seien die Voraussetzungen in den Bezirken sehr unterschiedlich, so der Amtsarzt.
Auch aus diesem Grund haben sich die obersten Seuchenbekämpfer der Bezirke jetzt für einen weiteren gemeinsamen Brief entschieden, einen ersten hatte es bereits im März gegeben.
„Alle Amtsärzte haben das gleiche Ziel, die Wege dorthin sind aber teils unterschiedlich – und das ist auch okay“, sagt ein anderer Amtsarzt.
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Zuletzt hatte es auch innerhalb der Koalition immer wieder Kritik an der Arbeit Kalaycis gegeben. Während diese zu Beginn der Krise Rechtsverordnungen wie die zur Schließung von Clubs und Bars nicht schnell genug geliefert haben soll, lässt aktuell eine vor Wochen angekündigte Strategie zur Ausweitung der Corona-Tests auf sich warten. Am vergangenen Dienstag hatte der Senat das Thema erneut vertagt. In der kommenden Woche soll eine Einigung erzielt werden.
Tim-Christopher Zeelen, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, nutzte den Brief der Amtsärzte für harsche Kritik an der Senatorin. "Es ist mir vollkommen unverständlich, warum die Senatorin nicht die Amtsärzte in Entscheidungen mit einbezieht", erklärte Zeelen und fügte hinzu: "Nachdem Kalayci wochenlang schon nicht die Krankenhausgesellschaft, die Kassenärztliche Vereinigung und die Ärztekammer eingebunden hat, wiederholt sie erneut die gleichen Fehler bei den Amtsärzten."
Der FDP-Gesundheitspolitiker Florian Kluckert wiederum kritisierte die Amtsärzte für ihre Forderung, lediglich Menschen mit Symptomen auf eine Coronainfektion testen zu lassen. „Man riskiert hier unnötig Menschenleben", sagte Kluckert mit Blick auf die mittlerweile vorhandenen Testkapazitäten.
In Richtung Kalayci erklärte er: "Sie muss jetzt endlich eine Strategie vorlegen, wie vor allem bei den vielen Lockerungen die Risikogruppen besser geschützt werden und alle freien Testkapazitäten genutzt werden, einen Anstieg der Infektionszahlen zu verhindern."