Soko „Fokus“ zu rechtsextremen Anschlägen in Neukölln: Ermittler haben viele Spuren, aber keine Beweise gegen Neonazis
Die Soko „Fokus“ legt ihren Abschlussbericht zur rechten Anschlagsserie von Neukölln vor. Gegen drei verdächtige Neonazis gibt es keinen Durchbruch.
Es sind mehr als 70 Straftaten, darunter 23 Brandstiftungen, eingeworfene Fenster und Schmierereien an Hauswänden mit Morddrohungen. Die Opfer sind Menschen, die sich gegen Rassismus und Rechtsextremismus engagieren. Seit Jahren terrorisieren Neonazis Neukölln, Betroffene werfen den Behörden Schlamperei vor und verlieren das Vertrauen in Polizei und Justiz.
Nach eineinhalb Jahren Ermittlungen soll am Montag der Abschlussbericht der eigens einberufenen Soko „Fokus“ im Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses vorgestellt werden. Das Ergebnis ist ernüchternd.
Innensenator Andreas Geisel (SPD) will nun externe Ermittler mit einer erneuten Untersuchung der Anschlagsserie betrauen. Am Dienstag berät der Senat darüber. Die Sonderbeauftragten sollen auch prüfen, ob es Netzwerke zwischen Rechtsextremisten und Mitarbeitern von Polizei und Verfassungsschutz, auch in anderen Bundesländern, gibt.
Der Bericht der Soko „Fokus“ enthält nach Tagesspiegel-Informationen keine neuen Beweise gegen die drei Hauptverdächtigen. Sogar die Generalstaatsanwaltschaft, die die Ermittlungen Anfang August an sich gezogen hatte, prüfte den Bericht.
Die Ermittler gehen zwar kriminalistisch von einer hohen Wahrscheinlichkeit aus, dass es sich bei dem Ex-NPD-Mann Sebastian T., dem früheren AfD-Bezirkspolitiker Tilo P. und dem polizeibekannten Neonazi Julian B. um die Täter handelt. Nachweisen können sie dies allerdings nicht.
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Nach Tagesspiegel-Informationen ordnet die Soko „Fokus“ der Anschlagsserie neun Brandstiftungen an Autos aus den Jahren 2014 bis 2016 neu zu, die bislang nicht Teil des Ermittlungskomplexes waren. Dazu zählen etwa ein Anschlag auf einen Bezirkspolitiker der SPD am 13. April 2014 und das Fahrzeug der Freundin eines linken Szenefotografen in derselben Nacht.
Alle Anschläge eint der Tathergang und das Profil der Opfer: Die nächtliche Uhrzeit, zu der die Autos angezündet wurden ebenso wie die verwendeten Brandmittel. Alle Betroffenen engagieren sich sozial oder politisch gegen Rechtsextremismus.
Gaben Polizeibeamte Daten weiter?
Die Soko Fokus ging zudem Hinweisen nach, ob die Daten der Betroffenen von Polizisten oder Postzustellern an die Tatverdächtigen weitergegeben wurden. Für beides fanden sich keine Belege. Zwar sollen zwei Familienmitglieder des Verdächtigen Julian B. bei der Polizei tätig sein.
Ihnen konnten aber nach Tagesspiegel-Informationen weder eine illegale Datenabfrage im System der Polizei zu den Opfern der Anschlagsserie noch andere Verbindungen zu dem Ermittlungskomplex oder in die rechtsextremistische Szene nachgewiesen werden.
Klar ist nur: Die drei Hauptverdächtigen spähten systematisch Menschen aus, die sie als ihre politischen Feinde erkannt haben wollten. Datenträger, die bei einer Hausdurchsuchung von Sebastian T. im Frühjahr 2018 – nach einem Brandanschlag auf das Fahrzeug des Linken-Politikers Ferat Kocak – beschlagnahmt worden waren, enthielten die Daten von mindestens 586 Personen.
Davon gelten 424 bei der Polizei als identifiziert. Auch Julian B. soll eine entsprechende Datensammlung angelegt haben, die sich teilweise mit jener von T. überschneidet.
Bei anderen Datenträgern, die bei T. gefunden worden waren, stoßen die Ermittler an ihre Grenzen. Selbst hinzugezogene Spezialfirmen und IT-Experten des Bundes brachen die Entschlüsselung offenbar ab, weil sie nicht weitergekommen sind.
Die Soko Fokus überprüfte auch einen möglichen Zusammenhang zu Tötungsdelikten in Neukölln. Sie fand keine Verbindungen zwischen den Hauptverdächtigen und den mutmaßlich rechtsextremen Morden an Burak Bektas 2012 und Luke Holland 2015.
Auch Verbindungen zu Tatverdächtigen im Mord am CDU-Politiker Walter Lübcke und den rassistischen Anschlägen auf eine Synagoge in Halle und mehrere Shisha-Bars in Hanau fanden die Ermittler offenbar nicht.
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Gleichzeitig geht aus dem Bericht nach Tagesspiegel-Informationen hervor, dass die Polizei bei den Ermittlungen Daten zum Teil erst im Nachhinein strukturiert überprüft und zusammengeführt hat. Begründet wird dies etwa mit dem Arbeitsaufkommen im Bereich des für politische Straftaten zuständigen Staatsschutzes nach dem islamistischen Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz.
So soll erst die Soko Fokus Daten ausgewertet haben, die bereits 2017 aufgenommen worden waren – und womöglich auch den Anschlag auf den Linken-Politiker Kocak verhindern hätten können. So soll es bereits 2017 Hinweise darauf gegeben haben, dass Kocak von den Tatverdächtigen ausgespäht wurde.
Diesen Hinweisen wurde allerdings nicht nachgegangen. Tatsächlich ins Blickfeld der Ermittler geriet Kocak erst am 31. Januar 2018 nach einem entsprechenden Hinweis des Verfassungsschutzes – in derselben Nacht brannte sein Auto.
Abgeordnete kritisieren Informationspolitik des Senats
Der Linken-Innenexperte Niklas Schrader bezeichnete den Bericht im Gespräch mit dem Tagesspiegel als wenig erkenntnisreich. Allerdings enthalte er einige Details, an die ein späterer Untersuchungsausschuss anknüpfen könne.
So seien etwa Kennbeziehungen zwischen den Tatverdächtigen und Polizisten von der Soko „Fokus“ nicht untersucht worden. Es seien zwar einige Fehler und Pannen in den Ermittlungen neu aufgerollt worden, wirklich neue Erkenntnisse gebe es allerdings nicht.
„Es bleibt dabei, dass Polizisten gegen Polizisten ermittelt haben“, sagte Schrader. Die von Geisel geplante Expertenkommission bezeichnete Schrader als ersten Schritt, sprach sich jedoch weiterhin für einen Untersuchungsausschuss aus.
Schrader kritisierte den Innensenator scharf: Der Soko-Bericht sei seit einigen Wochen fertig, den Abgeordneten allerdings erst kurzfristig am Freitagnachmittag zur Verfügung gestellt worden. Für eine intensive Beschäftigung bleibe kaum Zeit. Das sei ein fatales Signal an das Abgeordnetenhaus und die Betroffenen, sagte Schrader.
Auch CDU-Fraktionschef Burkard Dregger kritisierte das Vorgehen der Innenverwaltung. Diese torpediere durch die kurzfristige Vorlage des Ermittlungsberichts die Arbeit des Parlaments und behindere den Ausschuss.
Grüne fordern mehr Druck auf Neonazis
Benedikt Lux, innenpolitischer Sprecher, und June Tomiak, Sprecherin für Strategien gegen Rechtsextremismus in der Grünen-Fraktion, sagten: „Ermittlungserfolge kann man zwar nicht erzwingen, man muss aber die Anstrengungen erhöhen“. Die Opfer hätten kaum noch Vertrauen in die Ermittlungen. Geisels Sonderbeauftragte müssten daher „mögliche Verstrickungen und Versäumnisse innerhalb der Sicherheitsbehörden“ untersuchen.
Jedem einzelnen Verdacht auf rechtsextreme Netzwerke müsse konsequent nachgegangen werden. Wie im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität müssten Polizei und Justiz jetzt den Druck erhöhen: „Durch mehr Präsenz, mehr Kontrollen und die Vollstreckung offener Haftbefehle.“ Nötig sei ein 360-Grad-Ansatz, „bei dem auch für vermeintlich kleinere Delikte Ermittlungen und Kontrollen“ konsequent geführt werden – „damit Neonazis sich in Berlin nicht mehr sicher fühlen“.
Betroffene fordern politische Konsequenzen
Auch die Betroffenen kritisierten den Senat. „Das Problem sind die Politiker, die ihrer Verantwortung nicht nachkommen“, sagte etwa Claudia von Gélieu, die mehrfach Opfer von Anschlägen unter anderem auf ihr Auto wurde. Dies betreffe auch die geplante Expertenkommission: „Wer trifft denn die Auswahl der Experten? Herr Geisel“, sagte sie. „Das dreht sich immer weiter im Kreis. Das ist eine Verschleierungs- und Verzögerungstaktik und die Abgeordneten meinen nach wie vor, nichts tun zu müssen."
Auch sie sprach sich für einen Untersuchungsausschuss aus: „Es geht nicht um weitere Ermittlungen, es geht um politische Konsequenzen, die Aufarbeitung mit einem Untersuchungsausschuss.“ Pannen und Skandale, die in den vergangenen Wochen publik wurden, seien nicht durch Ermittlungsbehörden aufgedeckt wurden.
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Dass ein Kontaktbeamter der mittlerweile eingestellten Ermittlungsgruppe Rex, die in der Serie ermittelte, selbst an einem rassistischen Übergriff beteiligt gewesen sein soll, enthüllten Recherchen der „taz“ und der Plattform „Recherche030“.
Nach Tagesspiegel-Informationen leistet der Beamte Stefan K. weiter Dienst in einer Rudower Dienststelle. „Wie wenig die Politiker sich für die Betroffenen interessieren, zeigt, dass Herr Geisel über K. gesagt hat, dass die Vorfälle sich in der letzten Legislaturperiode ereignet hätten. K. ist nach wie vor im Dienst. Wenn jetzt was ist, soll ich dann die Polizei rufen und K. steht vor meiner Tür?“, fragt sich von Gélieu.
Bei den mit den Ermittlungen betrauten Beamten macht sich Unzufriedenheit breit. Durch Geisels Sonderbeauftragte stehen sie nun da wie Nichtskönner, einige sehen die Polizei brüskiert. Sie hätten alles mehrfach umgedreht, sagt einer. Nur Beweise gibt es nicht, auch nicht dafür, dass die Ermittlungen durch Rechtsextreme torpediert worden sein könnten.
Hinzu kommt: Gerade der Hauptverdächtige und mutmaßliche Drahtzieher Sebastian T. weiß genau, was er tun muss: Etwa, wie er verdeckte Ermittler, die ihn observieren, einfach enttarnt. Sinnbildlich dafür steht ein Satz, der in Ermittlungsakten steht.
Der RBB und die "Morgenpost" hatten darüber zuerst berichtet. Tilo P. sagte einem Beamten nach einer Vernehmung am 5. Februar 2018: „Wir wissen doch alle, wer die Autos anzündet. Sie wissen das, ich weiß das, alle anderen wissen das. Aber keiner kann es T. nachweisen.“ Eine offizielle Aussage dazu verweigerte P.