Der Neukölln-Komplex: Koppers greift gegen Oberstaatsanwalt F. durch – was ist da los?
Berlins Generalstaatsanwältin übernimmt das Verfahren zu rechtsextremistischen Anschlägen, der Senator stützt sie. Ermittler sind fassungslos. Eine Spurensuche.
Es ist Tag eins nach der Entscheidung von Generalstaatsanwältin Margarete Koppers, die Verfahren zur rechtsextremistischen Anschlagsserie in Neukölln an sich zu ziehen – zwei Staatsanwälte, die mit den Ermittlungen betraut waren, wurden versetzt. Ein ungewöhnlicher Vorgang, manche sprechen von einem Beben, das durch die Behörde geht. „So etwas haben wir noch nicht erlebt“, sagt ein Beamter.
Wen man auch fragt, es herrscht Fassungslosigkeit, Unglaube. Dieser Eingriff sei einmalig. Von einem Bauernopfer ist die Rede, von einem Anlass, um politisch unliebsame Ermittler, die gegen Linksextremisten vorgehen, loszuwerden. Koppers richte die Behörde auf die politische Linie von Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) aus.
Koppers begründet ihr Vorgehen mit dem Verdacht, dass der Leiter der Staatsschutzabteilung, F., befangen sein könnte. Es gebe zwar keine Beweise dafür, sondern nur Eindrücke. Aber der Verdacht, dass in Moabit nicht neutral ermittelt werden könnte, wiege so schwer, dass sie sich dazu gezwungen gesehen habe – zum Schutz der Ermittlungen, aus Rücksicht auf die Opfer.
Tatsächlich ist die Beweislage dünn. Um den Fall zu verstehen, ist ein Rückblick nötig. Es geht um Tilo P. Er ist einer der Beschuldigten bei den seit Jahren erfolglosen Ermittlungen im Neukölln-Komplex: Es geht um mehr als 70 Fälle, darunter Brandanschläge auf Autos, Drohungen auf Häuserwänden. Opfer sind Menschen, die sich in Neukölln gegen Rechtsextremismus engagieren. P. war einst im AfD-Kreisverband Neukölln aktiv. Dort war ein Infostand der Partei angegriffen worden, dazu wurde er vom Leiter der Staatsschutzabteilung vernommen – als Zeuge.
Kurz nach der Vernehmung, schreibt P. im Jahr 2017 einem anderen AfD-Mann eine Chat-Nachricht. Darin erklärt P., dass ihm wohl nichts passieren werde und der Staatsanwalt auf ihrer Seite stehe. Jedenfalls hatte P. den Eindruck, dass F. irgendwie „AfD-nah“ sei. Weil P. zu diesem Zeitpunkt auch von Ermittlern überwacht wird, steht das alles in Abhörprotokollen.
Soko „Fokus“: Anschlagspläne, Feindeslisten – aber kein Durchbruch
Gegen P. und seinen Komplizen, den Neonazi Sebastian T., wird weiter wegen der Anschlagsserie ermittelt. Einen Durchbruch gibt es bis heute nicht, aber Pannen. Der Verfassungsschutz erfährt im Januar 2018 von Anschlagsplänen, auch die Polizei wird informiert – das spätere Opfer aber nicht gewarnt. Das Auto des Neuköllner Linken-Politikers Ferat Kocak geht in Flammen auf. Im letzten Moment kann verhindert werden, dass sie auf das Haus und eine Gasleitung übergreifen. Kurz danach werden die Wohnungen von P. und T. durchsucht.
Im Mai 2019 setzt Innensenator Andreas Geisel (SPD) bei der Polizei die Soko „Fokus“ ein, die die Ermittlungen führen soll. Diese stellt Fehler fest, fand Feindeslisten unter anderem mit Politikernamen auf den Computern der Verdächtigen. Die Soko „Fokus“ bringt bislang nicht den Durchbruch. Das Misstrauen der Opfer gegenüber den Sicherheitsbehörden wächst. Sie fragen sich: Behindern rechte Netzwerke die Ermittlungen und schützen Rechtsextremisten?
Staatsanwalt S.: ein erfahrener Ermittler, politisch unverdächtig
Im Juli 2020 legt die Anwältin von Kocak bei der Generalstaatsanwaltschaft Beschwerde sein, weil sie trotz zahlreicher Anfragen von der Staatsanwaltschaft nicht die vollständigen Akten bekommen hat. Statt der Abhörprotokolle bekommt sie nur den Abhörbericht des Landeskriminalamts. Daraufhin prüft die Generalstaatsanwaltschaft die Akten – und stößt auf die abgefangene Chat-Nachricht und die Aussagen von P. über den Leiter der Staatsschutzabteilung.
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Die Soko „Fokus“ hat das Aktenkonvolut mitsamt dem Abhörprotokoll bereits im November 2019 an die Staatsanwaltschaft geschickt. Dabei war auch wie üblich ein Vermerk zu den wichtigsten Erkenntnissen aus dem Verfahren. Nach Tagesspiegel-Informationen wiesen die Ermittler darin ausdrücklich auf besagte Chatnachricht von P. zu Oberstaatsanwalt F. hin.
Zuständig für das Verfahren war bisher der Staatsanwalt S. Auch er kennt die geäußerten Vermutungen des Beschuldigten P. – ernst genommen hatte er sie offenbar nicht. Jedenfalls hat er sie nicht gemeldet. Wem hätte er auch berichten sollen? Betroffen war sein Chef F. Um die Behördenspitze zu informieren, erschien ihm die Äußerung offenbar nicht stichhaltig genug. S. gilt als erfahrener Ermittler, politisch unverdächtig. Er ist seit 20 Jahren in der Abteilung tätig.
Oberstaatsanwalt F.: stramm rechts – aber radikal, extremistisch?
Über F. und S. heißt es, dass sie hart gegen Linksextremisten ermitteln. S. gerät ins Visier von Justizsenator Behrendt, als er eine Durchsuchung bei der Umweltorganisation Greenpeace erwirkt. Die Aktivisten hatten im Sommer 2018 das Straßenrondell am Großen Stern mit gelber Farbe zugeschüttet, es sollte ein Symbol sein für die Energiewende. Behrendt kritisiert die Durchsuchung im November 2018, bezweifelt die Verhältnismäßigkeit und fordert von der Staatsanwaltschaft einen Bericht an.
Und Oberstaatsanwalt F.? Mit Generalstaatsanwältin Koppers soll er schon lange über Kreuz gelegen haben, auch politisch. F. gilt, so ist von etlichen Seiten in der Behörde zu hören, als stramm rechts. Aber radikal, extremistisch? Nein, eher rechtskonservativ - und bestimmt nicht dumm. Dass er einem Beschuldigten bedeutet haben könnte, AfD-nah zu sein, und P. deshalb straffrei davonkommen könnte, daran glaubt in der Staatsanwaltschaft niemand. Absurd, heißt es von allen Seiten. Er ist Beamter, ein Profi.
Ein Gespräch über Hetzjagden, NSU und Verschwörungstheorien
Eine weitere Begebenheit zeigt seine andere Seite. Es war im März 2020, kurz vor dem Corona-Lockdown. Fritz Marquardt, Mitarbeiter eines Europaabgeordneten der Grünen, saß mit wenigen anderen Jura-Studenten beim letzten Vorgespräch zur mündlichen Prüfung für das erste Staatsexamen. F. war Chef der Prüfungskommission. Eigentlich wurde Fachliches beredet.
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Aber F., so erinnert sich Marquardt, soll ohne Anlass über Politik gesprochen haben. Dass es keine Hetzjagden auf Migranten in Chemnitz gegeben habe, damals bei den Ausschreitungen im Sommer 2018. Auch der frühere Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen, der als AfD-nah kritisiert wird, fand, es habe keine Hetzjagden gegeben.
F. soll mit den Prüflingen auch über den NSU-Prozess um die rechtsterroristische Mordserie geredet haben. Die Sicherheitsbehörden hatten es dem Neonazi-Trio bekanntlich leicht gemacht. F. soll gesagt haben, die angebliche schlechte Rolle des Verfassungsschutzes im NSU-Komplex sei eine Verschwörungstheorie, die Behörde habe sauber gearbeitet. Offen ist, warum Marquardt diese Episode per Twitter erst jetzt öffentlich macht.
Als Staatsschutzchef degradiert – und verunsicherte Kollegen
F. und S. werden nun versetzt: F. wird Abteilungsleiter für allgemeine Kriminalität – eine Degradierung, Staatsschutzchef ist ein Prestigeposten. Die Behörde wird gerade umgebaut, eine neue Hauptabteilung entsteht mit der „Zentralstelle Hasskriminalität“. Ein Prestigeprojekt von Koppers und Behrendt, F. wird nicht dabei sein.
Eine Sprecherin wiederholt am Donnerstag, für eine Befangenheit gebe es keine Beweise, auch „bestehen für strafbare oder disziplinarrechtlich relevante Handlungen keinerlei Anhaltspunkte“. Justizsenator Behrendt sagt, es dürfe keinen Zweifel daran geben, dass die Strafverfolgungsbehörden rechtsextreme Straftaten verfolgen. Bei den Ermittlungen „gab es inzwischen zu viele Anlässe, die Zweifel nähren. Das besorgt mich.“ Unter den Anklägern ist die Verunsicherung groß: Sollte die im Chat geäußerte Beschuldigung eines Verdächtigen genügen, um von der Generalstaatsanwältin des Postens enthoben zu werden?
Der Vorgang ist nun ein Fall für die Politik. Die Linke fordert einen Untersuchungsausschuss, die Grünen denken noch darüber nach. CDU-Landeschef Kai Wegner fordert einen Sonderermittler. Und die FDP ein Konzept gegen rechtsextreme Umtriebe in der Justiz.