Rechtsextreme Anschlagsserie in Berlin-Neukölln: Dritter Tatverdächtiger soll polizeibekannter Neonazi sein
Statt zwei gibt es nun drei Verdächtige im Fall der rechtsextremen Anschläge in Neukölln. Betroffene kritisieren, dass ein Ermittlungsbericht geheim bleibt.
Im Fall der rechtsextremen Anschlagsserie von Neukölln gibt es offenbar einen dritten Tatverdächtigen. Bislang war nur die Rede vom Ex-NPD-Mann Sebastian T. und von dem früheren AfD-Bezirkspolitiker Thilo P.. Das steht im Zwischenbericht der Soko „Fokus“ zur rechtsextremen Anschlagsserie von Neukölln, mit dem sich der Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses am Montag befasst hat.
Bei dem dritten Tatverdächtigen handelt es sich nach Tagesspiegel-Informationen um Julian B. Gegen B. wurde bereits mehrfach in Zusammenhang mit der Anschlagserie und weiteren rechtsextremen Angriffen ermittelt. Es handelt es sich um einen mehrfach vorbestraften Neonazi der in der Vergangenheit bereits für ähnliche Taten verurteilt wurde.
2010 wurde seine Wohnung im Zusammenhang mit einem Brandanschlag auf das Haus der Demokratie in Zossen durchsucht. 2007 wurde B. verurteilt, weil er mit anderen Neonazis einen aus Äthiopien stammenden Mann in Schönefeld angegriffen und schwer verletzt hatte.
Julian B. soll im Februar 2017 dabei beobachtet worden sein, wie er gemeinsam mit dem verdächtigen T. mögliche Anschlagsziele in Nord-Neukölln ausspähte. Er soll Betreiber der vor einigen Jahren gelöschten Facebookseite „Freie Kräfte Neukölln“ gewesen sein.
Am 20. Februar 2017 wurde seine Wohnung durchsucht. Damals gingen die Ermittler davon aus, dass B. am 9. November 2016, am Gedenktag der Novemberpogrome, als Verantwortlicher der Facebookseite „Freie Kräfte Neukölln“ eine Karte Berlins veröffentlicht hatte. Auf dieser sollen sich 68 jüdische und israelische Einrichtungen und Gedenkstätten befunden haben.
Umrahmt wurde die Karte laut dem damaligen Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts, den B. selbst auf Facebook verbreitete, von dem Schriftzug „Juden unter uns“ und dem Kommentar „Heut ist so ein schöner Tag! Lalalala“. Wegen dieser Karte wurde gegen B. wegen Volksverhetzung ermittelt – das Verfahren wurde aber eingestellt.
Die Soko „Fokus“ wurde im Mai 2019 auf Weisung von Innensenator Andreas Geisel (SPD) eingerichtet. Sie soll mögliche Zusammenhänge zwischen den seit Jahren anhaltenden Anschlägen gegen Politiker und Bürger erkennen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Der mehr als 50 Seiten starke Bericht ist als geheim eingestuft worden „Verschlusssache – vertraulich“.
Innenausschuss diskutiert Datenträger mit Namenslisten
Weil Geisel den Bericht den Abgeordneten zu kurzfristig bereitgestellt hat und dieser nur im Geheimschutzraum gelesen werden kann, wurde dieser Teil vertagt. Am Montag besprach Der Ausschuss die ebenfalls erst in der Sitzung vorgelegte öffentliche Kurzfassung, Geisel wurde für das Vorgehen seiner Verwaltung – die kurzfristige Vorlage und Geheimhaltung – aus Koalition und Opposition scharf kritisiert.
Geisel begründete die Geheimhaltung mit den laufenden Ermittlungen. Der geheime Bericht enthalte Ergebnisse, die die Tatverdächtigen warnen könnten. Oberstes Ziel sei es, die Täter zu überführen und dem müsse alles untergeordnet werden, sagte Geisel.
Mehr Taten werden der Anschlagsserie zugerechnet
In dem neunseitigen Papier sind einige neue Details und mehrere Ermittlungspannen aufgelistet, die teils bekannt sind. Die Zahl der Straftaten, die der Anschlagserie zugerechnet werden, hat sich erhöht. Statt bislang 63 Straftaten sind es nun 72, davon sind 23 Brandstiftungen.
Die neun neuen Taten seien erfasst worden, nachdem 2800 Brandstiftungen in den Direktionen 5 und 6 seit 2013 untersucht wurden. Einige der Betroffenen waren bereits Opfer von Anschlägen, die meisten engagieren sich gegen Rechtsextremismus. Nur in einem Fall deutet alles auf ein rein rassistisches Motiv und ein zufällig ausgewähltes Opfer hin. Im Soko-Bericht wird aber bemängelt, dass bei der Bearbeitung dieser neun Taten allein durch die Tatbegehung ein Zusammenhang früher hätte erkannt werden müssen.
Eine weitere Panne: Eine Feindesliste auf dem Computer des Tatverdächtigen T. war von der Polizei übersehen worden. Der Datenträger war bei einer Durchsuchung im Februar 2018 beschlagnahmt worden, bei einer Überprüfung im September 2018 entdeckten Ermittler dann auch eine Ordnerstruktur auf dem Computer.
Laut Rauhut soll sich die gelöschte Struktur im Papierkorb befunden haben. Später sag sich Polizeipräsidentin Barbara Slowik gezwungen, Rauhuts Aussagen zu korrigieren. Die Ordnerstruktur hätte nicht im Papierkorb gelegen. Vielmehr habe es sich um ein gelöschtes Betriebssystem gehandelt, dass bereits als „unwiederbringlich verloren“ gegolten habe.
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Bei der ersten Suche sei die Auswertungssoftware fehlerhaft angewendet und die gelöschte Odner-Struktur nicht erkannt worden. Erst im November 2019 konnte die Daten rekonstruiert werden. Es handelt sich um Daten zu mehr als 500 Personen: Politiker, Journalisten und Polizisten, die bis 2013 gesammelt worden sind.
30 Personen, deren Adressdaten etwa noch aktuell waren, wurden bereits von Mitarbeitern des LKA kontaktiert. Eine akute Gefährdung bestehe nicht. Auch die übrigen Betroffenen sollen zeitnah informiert werden. Die Daten sollen zum Teil aus öffentlich einsehbaren Datensätzen und sozialen Medien stammen, zum Teil sollen die Tatverdächtigen die Betroffenen aber auch aktiv beschattet haben.
An zwei weiteren bei T. beschlagnahmten Datenträgern – ein Computer und ein Handy – beißen sich die Ermittler seit Monaten „die Zähne aus“, wie Staatsschutzchef Rauhut sagte. Zunächst prüften Fachleute des Berliner LKA den Computer und das Handy, dann versuchten sich das BKA daran. Inzwischen versucht eine weitere Bundesbehörde, die Daten zu knacken.
Polizeipräsidentin Barbara Slowik sagte, dass wegen Personalmangels die Daten nicht so zügig ausgewertet konnten wie es nötig gewesen wäre. Nach Tagesspiegel-Informationen hat die Soko „Fokus“ bislang keine belastbaren Beweise gegen die Tatverdächtigen.
Weitere Fehler bei Ermittlungen eingeräumt
Auch beim Anschlag auf den Linken-Politiker Ferat Kocak wurden weitere Fehler eingeräumt. Dessen Auto war Anfang 2018 in Brand gesetzt worden. Weil nicht die entsprechende Auswertungssoftware eingesetzt wurde, hätten die verschiedenen Hinweise auf Anschlagspläne nicht gekoppelt und Kocak nicht gewarnt werden können.
Dies hätte spätestes seit Mitte Januer 2018 geschehen müssen, als der Verfassungsschutz konkrete Hinweise geliefert hatte, heißt es im Bericht. Damals war wegen des Quellenschutzes des Nachrichtdienstes darauf verzichtet worden. Zudem heißt es, im Gegensatz zu früheren Angaben, dass der Polizei Kocaks Engagement gegen Rechts durchaus bekannt war und dies hätte ausreichen müssen, um ihn besser zu schützen.
Die Soko „Fokus“ fand aber keine belastbaren Hinweise darauf, dass Daten von Opfern der Anschlagsserie aus der Polizei abgeflossen sind. Überdies gibt es dem Bericht zufolge keine Hinweise auf Verbindungen im Neukölln-Komplex zu den Morden an dem Engländer Luke Holland und den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und zum rechtsextremen Anschlag auf eine Synagoge in Halle. Der Mordfall Burak Bektas wird derzeit noch geprüft.
Der Linken-Politiker Ferat Kocak forderte eine politische, transparente Aufklärung. „Wir als Betroffene haben das Vertrauen in die Ermittlungsbehörden verloren", sagte Kocak dem Tagesspiegel. Dass der Bericht unter Verschluss bleibe, schaffe nun noch mehr Misstrauen bei den Betroffenen. Die Betroffenen hätten von vornherein nichts von einer erneuten internen Aufarbeitung der Ermittlungspannen gehalten, sagte Kocak. „Das schürt den Verdacht, dass Ermittler geschützt werden sollen.“
Er sei sich zwar sicher, dass die Soko „Fokus“ gute Arbeit leiste, sagte Kocak. Allerdings ermittele die Soko nicht in die Richtung, in der das eigentliche Problem der Betroffenen liege: Aber es gehe nicht in erster Linie um die Neonazis, sondern vor allem auch um deren mögliche Verbindungen zu den Ermittlungsbehörden. „Unser Problem ist, dass wir nicht wissen, ob wir den Polizisten vor unserer Haustür vertrauen können oder nicht“, sagte Kocak. Die Betroffenen fühlten sich hingehalten, die über 26.000 Unterschriften, die die Betroffenen für einen Untersuchungsausschuss gesammelt hatten, würden ignoriert.
„Die Berichte zeigen, dass die Soko wichtig ist“
Ähnlich äußerte sich die SPD-Politikerin Mirjam Blumenthal, deren Auto im Januar 2017 in Brand gesetzt wurde. Der Jugendverband „Falken“, den Blumenthal leitet, war zuvor mehrfach das Ziel mutmaßlich rechtsextremistischer Anschläge, die etwa dem rechtsextremen Netzwerk „Nationaler Widerstand“ zugerechnet wurden.
Doch Verbindungen zu dem Netzwerk, das Feindeslisten führte, von 2010 bis 2012 Anschläge verübte und in dem T. bereits aktiv war, wurden bislang von der Soko „Fokus“ nicht hergestellt.
„Die Berichte aus dem Innenausschuss zeigen, dass die Soko wichtig ist“, sagte Blumenthal. Die geschilderten Pannen machten aber deutlich, dass die kontinuierlichen Hinweise der Betroffenen, dass nicht richtig ermittelt worden sei, stimmten.
Kritik am Vorgehen der Sicherheitsbehörden kam auch von der Opferberatungsstelle „Reach Out“. Anlass ist der Umgang mit den rechtsextremen Feindeslisten, die auf beschlagnahmten Computern entdeckt wurden. Die Betroffenen wüssten bis heute nicht, was über sie ausgespäht worden sei, was sie sehr verunsichere, sagte Sabine Seyb von Reach Out.