Brandserie in Neukölln: Das Feuer, der Verdacht – und das Vertrauen in den Staat
Seit zweieinhalb Jahren werden in Neukölln Menschen terrorisiert, die sich gegen Rechtsextreme engagieren. Die Polizei ermittelt auch gegen einen AfD-Politiker.
Ferat Kocak sagt, seit dem Anschlag plagten ihn Schuldgefühle. Der Psychologe rate zwar, das nicht so zu formulieren, aber „im Prinzip habe ich meine Eltern ja in Lebensgefahr gebracht“. Weil er zum Zeitpunkt des Anschlags bei ihnen wohnte und weil die Flammen von seinem Auto auf die Garage übergesprungen waren und fast auch auf die Gasleitung und das Wohnhaus gleich daneben. Wäre Ferat Kocak damals ein bisschen später aufgewacht, seine Eltern und er hätten es vielleicht nicht mehr ins Freie geschafft.
„Die Angst ist geblieben“, sagt Kocak jetzt, ein Jahr später, beim Treffen in einem Südneuköllner Café. Außerdem sei da Unverständnis: Wie kann es sein, dass die Täter immer noch frei herumlaufen? Dieses Unverständnis wächst mit jedem Detail, das Ferat Kocak über den Fall und die Ermittlungen erfährt.
Die Serie von Anschlägen auf Einrichtungen und Personen, die sich in Neukölln gegen Rechtsextreme engagieren, dauert inzwischen zweieinhalb Jahre. Es trifft Politiker, Gewerkschafter, Lehrer, Buchhändler. Mehrfach wurden Menschenleben gefährdet, die Polizei vermutet die Täter in der Neonaziszene. Im Fall des Anschlags auf Ferat Kocak gibt es zwei Verdächtige: den langjährigen Neuköllner NPD-Vorsitzenden Sebastian T. sowie den AfD-Politiker Tilo P. Letzterer saß bis Sonnabend im Bezirksvorstand seiner Partei.
Beim Treffen im Café sagt Ferat Kocak, er sei inzwischen aus Neukölln weggezogen, übernachte bei Freunden, tausche die Wohnungen in unregelmäßigen Abständen, sodass man keine Systematik erkennen kann. Das habe ihm die Polizei so geraten. Kocak ist 39, in Kreuzberg geboren, in Neukölln aufgewachsen. Arbeitet an einer Hochschule, engagiert sich in der prokurdischen HDP und hat 2016 für die Linke bei den Abgeordnetenhauswahlen kandidiert. In den Wochen nach dem Anschlag habe ihm die Polizei mehrfach signalisiert, es könne nicht mehr lange dauern, bis die Täter überführt würden. Die Indizienlage sei recht eindeutig. Ferat Kocak sagt: „Ich habe den Behörden lange vertraut.“
Der Verdacht: Wollte da einer selbst für Gerechtigkeit sorgen?
Zum aktuellen Stand der Ermittlungen will sich die Polizei nicht äußern. Einen Prozess gibt es bis heute nicht. Stattdessen wurde vergangene Woche in der Nacht zu Donnerstag, kurz vor dem Jahrestag des Anschlags auf Ferat Kocak, ein weiteres Auto angezündet – diesmal das des unter Verdacht stehenden AfD-Politikers Tilo P.
In der Nähe des Tatorts griff die Polizei einen Mann auf. Es stellte sich heraus, dass dieser vor Jahren als freier Mitarbeiter bei mehreren Stiftungen und Vereinen tätig war, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren, auch für die Bundeszentrale für politische Bildung schrieb er. Der Verdacht: Hatte da einer die Idee, er könne selbst für Gerechtigkeit sorgen und Rache nehmen? Für den Tagesspiegel ist der Mann nicht zu sprechen. Auch Tilo P. will sich nicht äußern.
Klar ist nur, dass die Tat den Opfern der Neuköllner Brandserie geschadet hat. „Offenbar sind da jemandem die Sicherungen durchgebrannt“, sagt Kocak. „Wir Betroffenen haben jetzt noch mehr Angst, denn natürlich könnte es Vergeltungsschläge geben.“ Ein anderes Opfer der Serie sagt: „Diese Aktion gefährdet nicht nur alle Geschädigten, sondern auch unser Anliegen, dass endlich ernsthaft gegen die rechten Täter ermittelt wird.“
Die AfD nutzt die Gelegenheit, um die Anschlagsserie der vergangenen Jahre infrage zu stellen: Könnte es nicht sein, dass sämtliche Angriffe seit 2016 nur von Linken inszeniert wurden, damit die sich als Opfer darstellen können? Auf der Facebookseite des Bezirksverbands fordern AfD-Anhänger, der Verdächtige gehöre erhängt oder erschossen. Einer schreibt, Deutschland brauche endlich wieder einen Führer.
Die beiden Rechtsextremen, die im Fokus der Ermittler stehen, kennt Kocak nicht persönlich. Aber er hat ihre Stimmen gehört. Auf Bändern, die ihm die Polizei vorspielte. Am 15. Januar 2018, also zwei Wochen vor dem Anschlag, sollen ihm Sebastian T. und Tilo P. nachts aufgelauert, ihn bis nach Hause verfolgt und so seinen Wohnort ausfindig gemacht haben. Kocak saß an jenem Abend im „Reuters 179“, einem Café in der Fritz-Reuter-Allee nahe dem U-Bahnhof Britz-Süd. Er wollte eine Ortsgruppe der Linken in Südneukölln gründen und suchte Mitstreiter. Der Letzte, der das versucht hatte, gab entnervt auf, nachdem ihm jemand die Autoreifen zerstochen hatte.
Auf den Tonbändern, die Kocak später vorgespielt wurden, sind Telefonmitschnitte der beiden Rechten zu hören. Tilo P. wartete offenbar auf dem dunklen Parkplatz auf der gegenüberliegenden Straßenseite und gab Sebastian T. Bescheid, als Kocak aufbrach: „Er kommt jetzt raus, er läuft zum Wagen …“ Sebastian T. verfolgte Kocak dann mit dem Auto sechs Kilometer weit, mehrfach telefonierten sie unterwegs. Am Schluss rief T. noch einmal bei P. an und sagte: „Ich weiß jetzt, wo er wohnt.“
Um die Serie der Brandanschläge aufzuklären, hat die Polizei zwei Ermittlungsgruppen eingerichtet, beim Landeskriminalamt und beim zuständigen Abschnitt. Ein Beamter sagt, es sei auffällig, dass der Beginn der Serie zeitlich mit dem Ende einer Haftstrafe zusammenfalle, die Sebastian T., der langjährige Neuköllner NPD-Vorsitzende, absitzen musste.
AfD-Mann Tilo P. soll schon in den Nullerjahren in der Szene gewesen sein. Der Verfassungsschutz erklärt, Tilo P. sei „in neonazistischen Zusammenhängen in Erscheinung getreten“. Dass er dennoch in den Vorstand der Neuköllner AfD gewählt wurde, überrascht Beobachter nicht: Im Bezirksverband tummeln sich viele Radikale. Einige haben Kontakte zur rechtsextremen Hooligan-Szene von Hertha BSC, andere zu den Identitären.
In den Wochen nach dem Anschlag konnte Ferat Kocak oft nicht schlafen, dann stellte er sich nachts unter die Dusche, das hatte ihm der Psychologe empfohlen. Er sagt, er vertraue keinem Fremden mehr, schaue sich oft um. „Das ist ein Sicherheitswahn, der leider tief in mir drinsteckt.“ Jetzt im Winter sei es schlimmer, weil es früh dunkel wird. Im Hellen habe er weniger Angst. Seine Mutter erlitt kurz nach dem Anschlag einen Herzinfarkt, auch sie verfolge die Tat bis heute.
Warum warnte die Polizei das potenzielle Opfer nicht?
Ferat Kocak beschäftigt die Frage, ob die Behörden den Anschlag nicht hätten verhindern können. Die Mitschnitte der Telefonate stammen vom Verfassungsschutz. Wie die „taz“ berichtet, soll der Dienst den Mitschnitt zeitnah ans LKA weitergeleitet haben. In ähnlichen Fällen wird das potenzielle Opfer dann von der Polizei gewarnt – zudem gibt es eine so- genannte Gefährderansprache: Den Verdächtigen wird mitgeteilt, man wisse von ihren Plänen und habe sie im Visier, jeder Tatversuch werde also sowieso vereitelt. Warum geschah all das nicht? Die Berliner Polizei will sich dazu nicht äußern.
Der harte Kern der Neuköllner Neonazis, die in der Vergangenheit durch Gewalttaten auffielen, besteht aus weniger als 15 Personen. Neben den Brandsätzen gab es Morddrohungen, mit Farbe an Häuserwände geschmiert, auch Hakenkreuze und SS-Runen. In der Hufeisensiedlung wurden innerhalb weniger Nächte 20 Stolpersteine aus dem Pflaster gerissen. Im Herbst 2018 zog eine Gruppe Neonazis durch den Nordneuköllner Schillerkiez, jagte am Bahnhof Boddinstraße Passanten.
Ferat Kocak sagt, es spreche vieles dafür, dass zumindest der NPD-Kader Sebastian T. schon länger intensiv von Ermittlern beobachtet werde. Denn es existiert ein weiterer Telefonmitschnitt von 2017, den er sich ebenfalls anhören durfte. Auf dem ist erneut ein Gespräch zwischen Sebastian T. und Tilo P. zu hören: Einer der beiden erzählt aufgeregt, dass er gerade mit diesem Ferat Kocak im selben Bus sitze. Der andere rät, die Gelegenheit zu nutzen und Kocak zu dessen Wohnung zu verfolgen. Allerdings wollte der Beobachtete an diesem Tag gar nicht nach Hause, er war auf dem Weg nach Tempelhof, der Rechte gab irgendwann auf.
Jede Stunde fährt ein Streifenwagen vorbei
Einige Opfer der Brandserie wurden mehrfach attackiert. Heinz Ostermann traf es gleich drei Mal. Er ist Inhaber der Buchhandlung Leporello in der Rudower Krokusstraße. Kein linker Szenetreff, sondern eine breit aufgestellte Sortimentsbuchhandlung „mit einem eher konservativen, bürgerlichen Publikum“, wie Ostermann sagt. Der Grund, warum er in den Fokus der Rechten geriet, ist seine Teilnahme an dem Bündnis „Neuköllner Buchläden gegen Rechtspopulismus und Rassismus“. Erst wurden die Scheiben seines Ladens eingeschmissen, dann brannte sein Auto ab, ein Jahr später das nächste – in derselben Nacht, in der auch der Anschlag auf Kocak verübt wurde.
Mittlerweile fährt jede Stunde ein Streifenwagen an Ostermanns Laden vorbei, bei Lesungen steht Polizei vor der Tür. Als die Beamten der Ermittlungsgruppe des LKA vorbeischauten, habe er sie gefragt: „Braucht ihr noch einen Anschlag, damit ihr weiterkommt?“ „Nein, nein“, hätten sie geantwortet. Vor ihnen lägen alle Puzzleteile, die sie benötigten, die müssten bloß sorgfältig zusammengesetzt werden.
Genau daran zweifelt Ostermann inzwischen. Von anderen Betroffenen hat er erfahren, dass die Ermittlungen in ihren Fällen bereits eingestellt wurden. Auch wegen der Steinwürfe auf seinen Laden wird offiziell nicht mehr ermittelt. „Es liegt doch nahe, dass zwischen den Vorfällen ein Zusammenhang besteht. Wie können da einzelne Ermittlungen eingestellt werden?“
Im Dezember haben die Betroffenen den Generalbundesanwalt in einem Brief aufgefordert, die Ermittlungen an sich zu ziehen, ähnlich wie in Freital oder Chemnitz, wo es in kurzer Zeit gelang, Neonazistrukturen aufzudecken und zu zerschlagen. Im Januar kam die Antwort: Die Voraussetzungen für eine solche Übernahme hätten sich „bislang nicht ergeben“. Heinz Ostermann sagt: „Ich denke, es ist eine Frage des politischen Willens.“ Und man könne es ihm und den anderen Betroffenen nicht verdenken, dass sie sich alleingelassen fühlten.
Eine weitere Botschaft oder Zufall?
Der Buchhändler glaubt, dass die Anschlagsserie weitergehen wird. Erst im September brannte es erneut, diesmal nicht sein eigenes Auto, sondern das eines Nachbarn, das etwa 100 Meter von seinem Laden entfernt stand, wie bei den anderen Fällen hatte der Täter einen Grillanzünder auf einen Reifen gelegt. An jenem Abend schnappten Zivilfahnder Sebastian T. – die Polizei ließ ihn später wieder laufen, es gibt wohl keine Beweise. „Ich halte diese Tat trotzdem für eine Botschaft, die an mich gerichtet ist“, sagt Ostermann. Beim Anschlag im Januar, als in Neukölln gleich neun Autos des Ordnungsamts brannten, vermutet die Polizei die Täter dagegen eher im Bereich der Clankriminalität.
Neulich war wieder das LKA bei Heinz Ostermann. Die Beamten hätten gefragt, ob er neue Informationen für sie habe. Er verneinte und fragte zurück: „Von euch ist jetzt wohl nichts mehr zu erwarten, oder?“ Ein Beamter habe geantwortet, die Hoffnung sterbe bekanntlich zuletzt.
Gemeinsam mit anderen Betroffenen hat Ostermann die Initiative „Rudow empört sich“ gegründet, für sein Engagement ist er mit dem „Band für Mut und Verständigung“ ausgezeichnet worden, die Urkunde steht eingerahmt in seinem Laden neben der Krimi-Ecke. Ostermann sagt, die Kundschaft sei solidarisch, erkundige sich regelmäßig, ob endlich jemand gefasst wurde. Als der Holocaustüberlebende Walter Frankenstein im Leporello las, hörten 200 Gäste zu. Heinz Ostermann sagt, er werde sich nicht einschüchtern lassen, da könne auch noch das dritte und das vierte Auto brennen.
Ferat Kocak erklärt beim Treffen im Café, er sei sich nicht sicher, ob es bei brennenden Autos bleibe. „Sollten die Ermittlungserfolge weiter ausbleiben, kann ich mir vorstellen, dass die Täter noch zu anderen Gewalttaten fähig sind“, sagt er. „Auch in Bezug auf mich.“
Update: Die AfD hat nun ein Parteiausschlussverfahren gegen Tilo P. eingeleitet. Grund seien P.s „Kontakte ins rechtsextreme Milieu“.
Zwölf Newsletter, zwölf Bezirke: Unsere Leute-Newsletter aus allen Berliner Bezirken können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de