Stadtentwicklung: "Berlins Vorteil ist zum Nachteil geworden"
Martin Aarts hat Rotterdam gerettet, nun will der Stadtplaner Berlin aufwecken. Ein Interview über Chancen der Wohnungsnot und die Seele der Stadt.
Mietenirrsinn und Verdrängung, Neubaustau und Wachstumsangst, dicke Dieselluft und Touristenrummel – ist Berlin noch zu retten? Vielleicht kann kaum jemand diese Frage besser beantworten als Martin Aarts. Der 66-Jährige ist einer der renommiertesten Stadtplaner Europas. Er verwandelte Rotterdam von einer hässlichen Industriestadt in eine moderne Metropole von Weltrang.
Aarts ist nicht nur Stadtentwickler, sondern selbst überzeugter Städter. Als Praktikant ließ er sich schon Ende der 70er auf der Internationalen Bauausstellung in Berlin von den Experten inspirieren, die West-Berlin vor dem urbanen Kahlschlag bewahrten. Ab Mitte der 1980er stieg er dann selbst zu einem der einflussreichsten Cityretter auf. Als Teil einer Gruppe von kommunalen Stadtplanern, die die Renaissance der Innenstädte in Europas Metropolen einläuteten – wie Peter Bishop in London, Hans Stimmann in Berlin, Vicente Guallart in Barcelona, Jörn Walter in Hamburg oder Ton Schaap in Amsterdam.
In zwei Punkten aber hebt sich Aarts von den meisten seiner Kollegen ab. Erstens war er für die niederländische Regierung tätig und kennt sich deshalb auch mit den politischen Instrumenten zur Steuerung der Stadtentwicklung aus. Zweitens hatte er die spezielle Herausforderung zu meistern, dass er für eine Stadt verantwortlich war, die eigentlich gar keine mehr war.
Nach der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg wurde Rotterdams Zentrum als graues Geschäftsquartier wiederaufgebaut, umgeben von wenigen Wohnhäusern mit Sozialwohnungen. Aarts brachte ab 1985 das Leben zurück in diese Stadtwüste. Über drei Jahrzehnte lang trieb er als Stadtplaner, ab 2004 als Leiter der Stadtentwicklung, die Transformation Rotterdams voran. Dieser stadtplanerische Kulturwandel führte dazu, dass auch weltbekannte Architekten wie Norman Foster, Alvaro Siza, Rem Koolhaas oder Renzo Piano spektakuläre Bauwerke in der Stadt errichteten.
Seit April 2018 ist Aarts pensioniert und arbeitet als Berater für Städte. An einem heißen Sommertag sitzt er in einem Café in der Auguststraße. Er will für eine Zeit lang nach Berlin ziehen und sucht gerade nach einer Wohnung. „Eine tolle, lockere Stadt“, sagt er. Doch im Gespräch fällt immer wieder ein Wort: „Noch.“
Herr Aarts, Sie ziehen nach Berlin. Ein guter Zeitpunkt für einen Stadtplaner: Die Stadt steckt in einer städtebaulichen Krise.
Das ist doch toll! Meine Meinung ist: Verschwende niemals eine gute Krise. In der Krise sind der Handlungsdruck und die Bereitschaft zur Veränderung am höchsten.
Berlin sieht sich einem rasanten Bevölkerungswachstum ausgesetzt, kommt aber beim Neubau nicht hinterher.
Die Stadt muss jetzt handeln und diese Krise mit mutigen Ideen gestalten. Andernfalls wäre sie vertan.
Und nun wollen Sie sich die Sache mal für drei Monate aus der Nähe ansehen?
Natürlich komme ich auch, um zu arbeiten und Entwicklungen in der Stadt zu beobachten. Ich kenne Berlin seit Jahrzehnten. Ich will aber auch viel Kultur genießen und mein Deutsch aufpolieren.
Aufpoliert haben Sie auch Rotterdam.
Das war harte Arbeit. Rotterdam war nach dem Zweiten Weltkrieg hässlich und langweilig. In der Innenstadt wollte niemand freiwillig leben. Ich weiß das, ich habe selbst dort gewohnt.
Als Chef der Stadtentwicklung hatten Sie Anteil daran, dass Rotterdam 2015 von der Londoner Academy of Urbanism als „Europäische Stadt des Jahres“ ausgezeichnet wurde.
Ja, plötzlich war Rotterdam sexy. Dann kamen die Delegationen, viele aus Deutschland, und fragten: Was ist Ihr Geheimnis?
Und was ist Ihr Geheimnis?
Mein Motto ist: Jede Stadt muss ihre Innenstadt sexy und attraktiv machen. Sie ist die Visitenkarte einer Metropole, einer ganzen Region. Auch Berlins Innenstadt prägt das weltweite Bild der Stadt, nicht Grunewald oder Reinickendorf.
Was macht eine sexy Innenstadt aus?
Die Menschen. Sie gehören ins Zentrum jeder Stadt, sie prägen ihre Identität, deshalb müssen sie im Zentrum jeder Stadtplanung stehen. Es ist alles untersucht worden und es gibt tolle Bücher darüber, dass die Psychologie von Menschen und Städten gleich ist. Die amerikanische Soziologin Saskia Sassen hat das superdeutlich gemacht. Genauso wie jeder Mensch braucht auch jede Stadt Pläne, Ziele, eine Vision. Um die zu bekommen, muss man herausfinden, welche Menschen in der Stadt leben und leben wollen und sollen, was sie brauchen und was sie sich wünschen. Wir müssen uns dabei orientieren am Städter, der bewusst und nicht nur zufällig in der Stadt wohnt. Und dann fängt man an, eine Stadt für genau diese Menschen zu gestalten, am besten mit ihnen zusammen.
Viele Berliner fürchten sich eher vor Plänen und Veränderungen. Sie wollen Ihr geliebtes Berlin bewahren.
Berlin ist ein Schatz. Wir alle wollen diese tolle Stadt am liebsten genauso behalten, wie sie ist oder war. Aber das geht nicht, das ist unmöglich. Selbst wenn der starke Zuzug nicht da wäre, müsste sich Berlin verändern.
Berlin ist doch sexy.
Die Stadt zieht Menschen aus der ganzen Welt an, das unterscheidet sie natürlich vom alten Rotterdam. Aber auch Berlin muss Maßnahmen ergreifen, um speziell die Innenstadt attraktiv für die Bewohner zu halten. Der Vorteil, eine tolle Stadt zu sein, ist dabei leider inzwischen zu einem Nachteil geworden.
Wieso sollte das ein Nachteil sein?
Für eine unattraktive Stadt wie Rotterdam ist klar, dass sie sich entwickeln muss. Die Schwierigkeit ist, dass Berlin noch so sexy ist, dass niemand glaubt, dass es auch in die andere Richtung gehen kann. Aber man darf sich nicht auf den vergangenen 20 Jahren ausruhen. Man hat das bei den deutschen Fußballern gesehen. Wir sind so super, unser Konzept ist, dass wir Weltmeister sind. Nichts tun, nur bewahren wollen – das ist das Rezept für den Abstieg. Das ist eine stadtplanerische Weisheit, und die gilt überall, nicht nur in Berlin.
Warum muss sich Berlin ändern?
Weil sich die Anforderungen an Lebensqualität entwickeln. Eine lebenswerte Stadt muss sich immer wieder den Bedürfnissen der Menschen anpassen, nicht umgekehrt. Das ist nicht zuletzt eine ökonomische Notwendigkeit. Wenn die Wirtschaft sich ändert, muss sich auch die Stadt ändern. Die Menschen arbeiten heute nicht mehr von neun bis fünf, sondern den ganzen Tag und überall. Gerade Hochgebildete, die unternehmerisch tätig sind, brauchen die Stadt als Kommunikations- und Vernetzungsplattform, sie ist quasi ihr Büro und ihre Wohnung gleichzeitig. Die Zukunft einer Stadt hängt davon ab, wie gut sie sich auf solche Veränderungen einstellt. Wenn eine Stadt nichts für ihre Bewohner tut, werden sie aus der City abwandern oder verdrängt. Diese gefährliche Tendenz gibt es derzeit leider überall auf der Welt. Auch Berlin wird gerade für Familien immer weniger attraktiv.
Sie meinen, weil Wohnen im Zentrum selbst für die Mittelschicht zunehmend unbezahlbar wird?
Verdrängung ist ein großes Problem. Berlin darf nicht wie London werden, wo sich Durchschnittsverdiener eine Wohnung in der City nicht mehr leisten können. Eine lebendige Innenstadt braucht die Mittelschicht. Aber das ist nicht Sache der Stadtplaner, sondern der Politik. Sie muss solche Entwicklungen ausgleichen.
Der frühere Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit meinte, es gebe kein Anrecht auf eine günstige Wohnung in der Innenstadt.
Mit so einer Einstellung hat man irgendwann sozial segregierte Städte wie in den USA. Das kann niemand wollen. 30 Prozent Sozialwohnungen, 40 bis 50 Prozent Mittelschicht, der Rest Luxuswohnungen, das wäre eine gesunde Mischung für Berlins Innenstadt. Es gibt jede Menge Instrumente, um das zu erreichen, man muss sie nur einsetzen wollen. In Amsterdam hat man in der Innenstadt für Lehrer und Erzieher Wohnungen frei gemacht und gefördert, die sie normalerweise niemals bezahlen könnten.
"In der Innenstadt kann noch überall verdichtet werden"
Berlin braucht vor allem neue Wohnungen – laut Senat knapp 200.000 bis 2030. Die Stadt soll bis dahin um weitere 180 000 Menschen wachsen. Was macht der Stadtplaner da?
Erst einmal muss man eine Vision entwickeln – wir hatten 2007 für Rotterdam die „Stadtvision 2030“. Die kann ich in Berlin noch nicht erkennen.
Der Senat will so ein Leitbild jetzt unter dem Namen „Berlin Strategie 2030“ entwickeln. Welche Vision könnte diese Stadt haben?
Es darf darin nicht nur um Wohnungsbau oder Verkehr gehen. Eine Vision umfasst die ganze Breite der Lebensqualität in einer Stadt. Ein Ausgangspunkt müsste die Frage sein: Was ist das Tolle an Berlin? In Berlin gibt es einen tollen Lebensstil. Die Menschen lieben das Leben in der Stadt, sie leben auch in die Stadt hinein und nicht ausschließlich zu Hause. Sie genießen die Annehmlichkeiten, die ihnen die Stadt bietet, die Infrastruktur, die Kultur, die Natur. Das alles muss man berücksichtigen, wenn man überlegt, wo und wie auch diese zusätzlichen 180.000 Menschen leben sollen. Am besten entwickelt man dafür mehrere Szenarien.
Neuen Wohnraum will der Senat vor allem in den Außenbezirken schaffen.
Gerade verfügbare Freiflächen in den Randbezirken vollzubauen, ist erst mal nur ein Szenario. Es wurde in vielen Städten gewählt, obwohl es Nachteile wie großen Flächenverbrauch und Förderung des Autoverkehrs hat und Investitionen aus der Innenstadt abzieht. Dafür braucht man eigentlich auch keine studierten Stadtplaner, nur eine Karte, und dann zeigt man auf unbebaute Flächen: Hier ist es noch leer, hier auch. So kriegt man auch 180.000 Menschen in Satellitenstädten unter.
Welches Szenario schlagen Sie vor?
Man müsste vor allem die Innenstadt und innenstadtnahe Stadtteile in den Fokus nehmen, da kann noch überall verdichtet werden. Allerdings ist eine subtile Nachverdichtung auch komplizierter. Man kann dann nicht einfach eine Studie zu einem großen Gebiet machen und sagen, so, jetzt wird hier gebaut.
Wo genau sehen Sie Baupotenziale in der Berliner Innenstadt?
Dafür ist eine genaue Forschung erforderlich. In Rotterdam wurde immer gesagt, dass noch Platz für höchstens 2000 Häuser in der Innenstadt sei. Ich konnte aber anhand von Studien nachweisen, dass sogar Platz für 20.000 Häuser und 30.000 Menschen war. Ich vermute aufgrund meiner Beobachtungen, dass in Berlin viel mehr möglich ist, als es auf den ersten Blick erscheint. Allein innerhalb des S-Bahn-Rings ist noch viel Platz.
Zum Beispiel auf dem Tempelhofer Feld? Gerade erst haben Architekten neue Ideen für eine Randbebauung vorgelegt.
Man sollte das Feld für eine Weile als öffentlichen Raum nutzen können. Aber dann müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, ob so viel öffentlicher Raum mitten in der Stadt wirklich benötigt wird, weil dies natürlich auf Kosten der dringenden Nachfrage nach innerstädtischem Wohnraum geht. Ich denke, dass diese Fläche zumindest teilweise bebaut werden kann und muss.
Viele Bewohner und Politiker der Innenstadtbezirke wehren sich gegen eine weitere Verdichtung.
Ich weiß, das war in Rotterdam genauso. Letztlich steht man auch in Berlin vor der Wahl, urbane Orte qualitätsvoll zu verdichten oder Grünflächen an den Rändern zu bebauen. Die Stadt sollte sich das sehr genau überlegen. Denn die großen Naturgebiete und Grünflächen am Stadtrand sind ein wichtiger Bestandteil dessen, was die Stadt so attraktiv macht. Diese Gebiete muss man unbedingt schützen – das gehört zwingend in eine Vision für Berlin. Es geht immerhin um die Gesundheit der Berliner. Das Thema ist politisch in Berlin offenbar noch gar nicht richtig angekommen.
Den Berlinern ist ihre Gesundheit nicht wichtig?
In den Niederlanden steht das Thema Gesundheit über allem. Dazu gehört auch gute, gesunde Luft. Warum das nicht auch in Berlin so gesehen wird, verstehe ich nicht. Warum tut man nichts gegen die schlechte Luft und den Feinstaub? Tempolimits in ein paar Straßen, die keiner kontrolliert, sind doch keine Strategie.
Sie haben aus dem Auto-Mekka Rotterdam ein Radler- und Fußgängerparadies gemacht.
Ich bin nicht autofeindlich, ich bin einfach menschenfreundlich. Rotterdam wurde nach dem Krieg für Autos wiederaufgebaut. Wir haben auf zentralen Plätzen und großen Straßen den Fußgängern und Radfahrern wieder mehr Platz gegeben. Leider geht Berlin offenbar noch immer den umgekehrten Weg.
Das Mobilitätsgesetz soll doch den Rad- und Fußverkehr stärken.
Für Fußgänger ist es nicht so schlecht hier. Aber die Infrastruktur für Fahrradfahrer in Berlin ist immer noch peinlich. Ich verstehe nicht, dass stattdessen die Autobahn für eine halbe Milliarde Euro quer durch die Stadt weitergebaut werden soll. Dieses Geld könnte man besser einsetzen.
Das stellt die Bundesregierung bereit, allerdings eben nur für den Bau der Autobahn.
Man sollte es zurückgeben, dann ist es halt weg. Das wäre für Berlin ein unglaubliches Signal, so wichtig wie der autofreie Times Square in New York: Wir geben 500 Millionen Euro zurück. Weil wir keine Autobahn brauchen, sondern eine lebenswerte Innenstadt. Zu einem solchen Signal habe ich auch Sofia geraten. Die Stadt erstickt förmlich an ihren Autos und will nun die Verkehrswende wagen.
Wie haben die Rotterdamer auf die Verkehrswende reagiert?
Als wir am Fluss Parkplätze zu Grünstreifen mit Aufenthaltsqualität umfunktionierten, machten manche ein Riesengeschrei und sagten: Ich brauche meinen Parkplatz, sonst gehe ich. Da habe ich gesagt: Dann geh doch. Wenn 20 gehen, kommen 600 neue, weil sie das neue, grüne, lebenswerte Rotterdam viel angenehmer finden. Entlang der Spree sehe ich auch in Berlin noch viel Potenzial für öffentliche Grünflächen, wo jetzt noch Autos parken.
Das wird auch in Berlin einen Riesenaufschrei geben. Der grüne Verkehrsstaatssekretär Jens-Holger Kirchner stand mit der Forderung, Autoparkplätze zu verteuern, ziemlich allein da.
Berlin verschenkt seinen Raum quasi ans Auto, man kann hier praktisch umsonst parken. Das ist wie die Autobahn leider ein Beleg dafür, dass der Berliner Politik das System Auto immer noch wichtiger ist als seine Menschen. Aber das ist ein Irrweg. Es ist in ganz Europa vorbei mit dem Auto als Nummer 1. In London kommt man nur noch mit einer teuren Steuer per Auto ins Zentrum, in Paris hat man die Kais an der Seine autofrei gemacht. Dort kann man nun stattdessen seinen Aperol Spritz trinken. Davon kann Berlin lernen.
"Partizipation – ich hasse dieses Wort!"
Berlin fördert emissionsarme Elektromobilität. Ist das die Zukunft in der Großstadt?
Nein. Es ist zwar besser für unsere Gesundheit, aber auch Elektroautos brauchen zu viel Platz.
Sie plädieren also für ein autofreies Berlin?
Das Auto soll ja nicht verschwinden, es ist eben nur nicht mehr Nummer 1 in der Stadt, sondern die Nummer 3. Man darf nicht ein einziges Fortbewegungsmittel ins Zentrum einer Stadtplanung stellen. In erfolgreichen Städten dreht sich alles um Menschen, sie treiben die Innovationen voran. Dafür muss man einander im Stadtraum treffen können, das geht auch heute nicht nur per Internet. Für diese Menschen muss man mehr Raum schaffen, dafür muss das heilige Auto eben etwas abgeben. Aber das erfordert auch von Stadt- und Verkehrsplanern einen völlig neuen Ansatz.
Welchen Ansatz haben sie denn bisher?
Die meisten Planer schauen nicht aus dem Fenster. Sie machen einfach, was sie an der Uni gelernt haben. Stadtplaner sollten aber nicht an Statistiken, sondern an Menschen interessiert sein. Wir müssen aufhören, rein funktional und objektorientiert ausschließlich Dinge wie Häuser, Straßen oder Schulen zu planen.
Was soll man denn sonst in einer Stadt planen?
Komfortable und inspirierende Orte für Menschen.
Was heißt das in der Praxis? Es muss doch auch funktionale Infrastruktur geben, irgendwo müssen doch auch Handwerker oder Dienstleister ihren Platz in der Stadt finden.
Natürlich. Aber alles ist miteinander verbunden: öffentlicher Raum, Verkehr, Häuser, Büros, Geschäfte, Kultur, Finanzen und Verträge. Beim Bau eines Theaters ist es auch wichtig, was die Besucher vor und nach der Aufführung machen. Dabei muss man wegkommen vom reinen Funktionsdenken. Damit tut man sich gerade in Deutschland schwer.
Wie meinen Sie das?
Hier denkt man sehr in abgeschlossenen Kategorien, ich nenne das sektorales Denken. Jede Disziplin hat ihre eigene Logik und ist darin gefangen. Aber wenn etwas zusammengedacht werden muss, tut man sich hier schwer. Der Flughafenbau in Berlin ist ein gutes Beispiel dafür. Hier heißt es oft: Das ist nicht meine Aufgabe. Oder: Das steht nicht im Vertrag. Ein unmöglicher Satz. In Holland gilt nur: Wie kommen wir weiter?
Und wie integriert man dabei die Anwohner? Gegen fast jedes Neubauprojekt in der Stadt formiert sich Widerstand in der Nachbarschaft. Sind Berliner besonders neubaufeindlich?
Nein. Das ist Psychologie, und die ist überall auf der Erde gleich. Die Menschen sind nicht per se gegen Veränderungen, aber sie wollen die Veränderung selbst gestalten. Wenn jemand anderes ihre Gegend verändern will, sagen sie: nein. Prinzipiell und absolut.
Und wie bekommt man ein Ja von ihnen?
Indem man erst einmal mit ihnen redet und ihnen zuhört. Das Grundproblem tritt doch in der Regel schon ganz am Anfang auf, wenn es heißt: Wir haben einen Plan, wir wollen hier bauen. Man darf den Leuten so früh keine Pläne präsentieren.
Wie soll man es ihnen denn sonst beibringen? Die Stadt braucht dringend Wohnungen.
Wer ist denn „die Stadt“? Das ist zu abstrakt, zu anonym. Ich stelle den Menschen gern folgende Frage: Wo sollen Ihre Kinder und Ihre Enkel leben? Zig Kilometer entfernt, weil sie hier keine Wohnungen finden? Oder hier in der Nähe? Die meisten sagen dann: am liebsten hier in der Nähe. Und wenn sie das selbst ausgesprochen haben, kann man ihnen die Karte ihres Viertels oder Bezirks vorlegen: Zeigen Sie es uns – wo genau?
Berlins Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher setzt auf das sogenannte Partizipationsverfahren, um die Meinung der Anwohner zu geplanten Bauvorhaben einzuholen.
Partizipation – ich hasse dieses Wort. Das ist der schlimmste Begriff, um mit Anwohnern zu kommunizieren. Partizipation ist eine bürokratische, hierarchische Struktur, in die die Bürger hineingedrückt werden sollen. „Wir machen mit euch Partizipation, dann haben wir das auch erledigt und können endlich losbauen.“ Eine Powerpoint-Präsentation und davor 600 Leute, die mich anbrüllen, schrecklich. Man darf das nicht so machen. Ich habe in Rotterdam pro Jahr Hunderte von Leuten bei Kaffee und Kuchen befragt. Das Wichtigste ist: Man muss sich Zeit dafür nehmen. Erst nach zwei, drei Stunden erfährt man, was sie wirklich bewegt.
Was haben Sie gefragt?
Wie sie die Zukunft ihrer Stadt und ihres Viertels sehen, was sie sich wünschen. Die Antworten sind verblüffend naheliegend. Ein Mann sagte: Mit Kindern muss man auch in der Stadt immer nach draußen können. Das ist so ein einfacher, aber elementarer Satz. Kinderfreundlichkeit wird häufig unterschätzt, aber sie ist für die Identität gerade der Innenstadt extrem wichtig.
Warum?
Weil die Menschen ansonsten notgedrungen umziehen müssen, sobald sie Kinder bekommen. Und wenn klar ist, dass man in der Innenstadt nur für eine bestimmte Zeit wohnen kann, wird sie zu einem Durchzugsraum, zu einer fremden Stadt, in der sich niemand richtig niederlassen will. Wenn man nicht mit den Menschen redet, verliert man solche einfachen Dinge als Stadtplaner schnell aus den Augen.
Berlin hat dreieinhalb Millionen Einwohner. Wollen Sie die alle beim Kaffeekränzchen ausquetschen?
Wenn man mit 100 Leuten gesprochen hat, hat man schon ein gutes Bild von einem Stadtteil. Denn die Menschen sprechen ja nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Nachbarn und Freunde. Wenn man zuhört, erkennt man auch schnell, dass es da verschiedene Zukünfte und Pläne gibt. Aber: Alle zusammen können gegen einen Plan sein, und das äußern sie dann in diesen Partizipationsverfahren. Die verstärken den Widerstand nur.
Haben Sie in all Ihren Kaffeegesprächen ein Muster erkannt, das Großstädter verbindet?
Nach meiner Erfahrung wollen die meisten Großstädter dieselben Dinge: sicher, grün und gesund leben. Sie wünschen sich bezahlbaren Wohnraum, Straßen mit Bäumen, Spielraum und Grünanlagen, gute Schulen, schnell erreichbare Infrastruktur, Kultur, gesunde Luft. Es geht nicht nur um Auto oder Fahrrad, es geht um Lebensqualität. Aber vielleicht braucht man in Berlin dabei etwas Hilfe von außerhalb.
Wie meinen Sie das?
Berlin sollte sich Stadtplaner aus Europa einladen, die die Wende in der Stadtplanungspolitik schon eingeleitet haben. Das Büro Jan Gehl aus Dänemark etwa hat gute Ideen.
Gehl hat die gleiche Philosophie wie Sie: „Making Cities for People“. Es hatte auch die Idee einer autofreien Ostseite der Schönhauser Allee.
Es hat auch den autofreien Times Square in New York geplant. Berlin kann von solchen Erfahrungen profitieren. Auch eine neue Bauausstellung wäre ein großartiges Signal. Ich war Mitglied in einem europäischen Planernetzwerk. Wenn andere Experten einmal zeigen, wie sie ihre Innenstädte aufpolieren, dann merkt man schnell, wie weit man selbst hinterherhinkt.
Von wem haben Sie sich Anregungen geholt?
Ein gutes Beispiel für mich war Vancouvers Stadtplaner Larry Beasley, den habe ich nach Rotterdam eingeladen. Vancouvers Innenstadt war vor 20 Jahren auch hässlich und langweilig, Beasley hat das geändert, er hat dafür verschiedene Szenarien entwickelt. Er begann dabei mit dem sogenannten Null-Szenario: Was passiert, wenn wir einfach so weitermachen und die Stadt außen erweitern, statt sie im Kern zu verdichten? So kann man den Menschen die Konsequenzen des stadtplanerischen Nichtstuns für ihre Stadt aufzeigen. Das ist ein wichtiges strategisches Instrument in der Stadtentwicklung, viele Planer vergessen das.
Wie sieht Berlins Null-Szenario aus?
Die Freiflächen in den Außenbezirken und an den Rändern werden vollgebaut, das meiste Grün verschwindet, die Innenstadt wird unattraktiv, laut, dreckig und zum großen Teil Touristengebiet. Dann sagt man: Berlin war mal eine tolle Stadt. Das Mobilitätsgesetz ist zwar ein erstes Zeichen dafür, dass sich etwas ändern soll. Aber auch Rad- oder Fußwege bringen nichts, wenn den Menschen woanders Lebensqualität fehlt.
"Touristen dürfen nicht in der Mehrzahl sein"
Was sind die größten Gefahren für die Innenstadt als Lebensraum?
Neben der Verteuerung des Wohnraums durch Immobilienspekulation vor allem der Onlinehandel und Touristen. Ich bin ja selbst einer, deshalb darf ich das sagen: Es gibt inzwischen ein bisschen zu viele in der Innenstadt. Das ist eine sehr große Bedrohung für Berlin.
Berlin lebt doch vom Tourismus.
Touristen bringen einer Stadt viel Geld. Aber sie dürfen nicht in der Mehrzahl sein, sonst bestimmen sie das Bild der deutschen Hauptstadt. Das darf nicht alles Airbnb-Gebiet werden. Ich habe nichts gegen Touristen und ich bin nicht prinzipiell gegen Airbnb. Aber ihr Business setzt auf die Verdrängung von Einwohnern aus dem Stadtkern. Es ist eine aktive Politik erforderlich, um das zu verhindern. Denn wenn in großen Teilen der Innenstadt kaum noch Berliner leben, sinkt letztlich die Attraktivität der ganzen Stadt.
Wie erkennt man, dass eine Innenstadt ihre Identität durch Tourismus verliert?
Man sieht es nicht auf den ersten Blick. Das geht ganz langsam, wie bei einem Frosch, dem man das Wasser heiß dreht. Erst gibt es nur ein paar Ferienwohnungen, in denen ein paar Amerikaner und Holländer wohnen, am Ende wohnt kaum noch ein Berliner dort. Ein sichtbares Zeichen ist es, wenn die Supermärkte verschwinden. Das sind Stützpfeiler des urbanen Lebens, sie sagen: Hier wohnen Menschen.
Im Viertel rund um den Rosenthaler Platz beklagen Anwohner seit Jahren den Exodus der Einkaufsmärkte.
Ja, daran erkennt man ein Touristenviertel. Solche Zeichen muss die Politik erkennen und reagieren. Und zwar schnellstmöglich – wenn ein Quartier erst einmal gekippt ist, wird es schwer, die Entwicklung wieder umzudrehen. Das Herz der Stadt muss vor allem wieder als Wohnraum wahrgenommen werden, nicht als schöne Kulisse für Geschäftemacherei.
Berlin für Berliner – verspielt man so nicht das Image einer weltoffenen Stadt?
Nein. Die Ferienwohnungen bedrohen Innenstädte in der ganzen Welt, sie höhlen sie aus. Je attraktiver eine Stadt ist, desto gefährdeter ist sie. Das kann man nicht nur in Venedig und Barcelona sehen. Die Geschäfte sind alle gleich, überall kann man Donuts und schlechten Cappuccino kaufen. Schrecklich. Auch in Amsterdam verschwinden immer mehr Läden für Einheimische und es gibt immer mehr Starbucks-Filialen für Touristen. Deswegen geht man dort nun deutlich rigoroser gegen Ferienappartements vor. Man darf künftig nur noch an 30 Tagen pro Jahr untervermieten, die Prüfer gehen direkt in die Häuser. Davon kann auch Berlin lernen. Auch bei der Problematik Onlinehandel könnte man sich sicher besser untereinander austauschen.
Was soll denn daran bedrohlich für eine Stadt sein?
Der steigende Lieferverkehr nimmt wertvollen Stadtraum ein und verschlechtert die Luft. Zwei meiner Studenten beschäftigen sich gerade damit. Ihre Hypothese ist: Das geht so nicht weiter. Ich sage: Das stimmt, aber was macht man als Städtebauer damit?
Ihre Antwort?
Wie bei den Ferienwohnungen muss auch hier die Politik reagieren. Der Versand muss auf jeden Fall mehr kosten. Alle denken: Der Onlinehandel kostet doch nichts. Aber das stimmt nicht. Er kostet gerade in der Innenstadt sehr viel Lebensqualität.