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Wie sieht es aus auf dem Berliner Arbeitsmarkt?
© dpa

Wahl-Serie: Wirtschaft: Berlin macht jede Menge Arbeit

Die Erwerbslosenquote ist so gering wie seit der Wiedervereinigung nicht. Stellen werden geschaffen, Start-ups gegründet. Trotzdem ist Berlin längst nicht so produktiv und wohlhabend wie andere europäische Hauptstädte.

Dass er in seinem Leben mal arbeitslos wird, hätte Manuel K. nie gedacht. Er war immer tüchtig. Ging abends, erschöpft vom Tag, zu Bett. Nach seiner Lehre zum Lackierer machte er seinen Meister, führte 15 Jahre lang eine eigene Werkstatt und übernahm vor sechs Jahren die Kneipe seiner Frau. Anderthalb Jahre kümmerte er sich um beides, arbeitete 20 Stunden am Tag. Nahm zehn Kilo ab. Bis Manuel K. vor vier Jahren Krebs bekam, sein Gewerbe abmelden musste und die Beziehung kaputtging. Mit 58 Jahren stand der Mann, der lange alles hatte, ohne Wohnung da. Allein. Für eine Weile war ihm alles egal.

Wenn er heute davon erzählt, sieht man Manuel K. diese Phase nicht an. Er ist mittlerweile 60. Seine Haare sind weiß und locker gekämmt. Er wirkt an diesem Augustmorgen unbeschwert. Seit fast einem Jahr arbeitet Manuel K. wieder.

Nachdem er gesund geworden war und zwei Jahre Leistungen bezogen hatte, nannte ihm seine Arbeitsvermittlerin beim Jobcenter eine Maßnahme beim Bildungsträger „Schildkröte“ in Kreuzberg. Das war 2014. Sechs Stunden im Gartenbau arbeiten. Plus Coaching. „Erst war ich skeptisch“, sagt Manuel K. Er wusste ja, was er konnte und wollte. „Es half aber, dass ich aus dem Chaos rausfand – und meine alte Kraft wieder bekam.“

150 000 neue Jobs

Die Berliner Arbeitslosenquote lag im Mai zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung bei unter zehn Prozent. Seitdem ist sie unter dieser Marke geblieben. Trotz Sommerflaute. 2011 lag sie noch bei 13,3 Prozent. Die Zahl arbeitsloser Jugendlicher hat sich in den letzten fünf Jahren fast halbiert. Das klingt erst mal gut. Trotzdem liegt die allgemeine Quote in der Hauptstadt noch immer über dem Bundesdurchschnitt von sechs Prozent. Trotzdem hat Berlin mit 16,4 Prozent der Bevölkerung den höchsten Anteil an Hartz-IV-Empfängern. Bundesweit liegt dieser Wert bei 7,7 Prozent.

Fast ein Drittel der Betroffenen sind in Berlin seit mindestens einem Jahr als arbeitslos gemeldet. Hier liegt der Bundesschnitt mit 37,8 Prozent überraschenderweise höher. Ein Grund dafür ist laut Arbeitssenatorin Dilek Kolat (SPD) das „Berliner Jobcoaching“, das seit 2012 existiert. 11 000 Frauen und Männer wie Manuel K. haben daran teilgenommen. Kolats Bilanz: 16,5 Prozent fanden danach eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt, ohne Coaching nur knapp sieben Prozent.

Die Berliner Unternehmen haben in den vergangenen Jahren mehr als 150 000 neue Jobs geschaffen. Diese entstehen vor allem im Bau- und Logistikgewerbe, im Handel, Tourismus – und bei Dienstleistungsunternehmen. Oft in Form von Start-ups. Fast jedes zweite Unternehmen in der Hauptstadt wird von Ausländern gegründet. Deswegen sagt sogar Kolat: „Die Zahl der Jobs in Berlin nimmt zu, aber auch die Bevölkerung wächst.“ Es dürften nicht nur Zugezogene von der positiven Entwicklung profitieren, sondern auch gebürtige Berliner.

Chancen verbessern sich

Es passt, dass Manuel K. eine Stelle bei einem Postdienstleister fand. Bis Ende des Jahres gilt das Unternehmen als Start-up. Benjamin Loose gründete Urban Mail 2009 erst mit einem zweiten Gesellschafter. 2014 änderte er die Rechtsform in eine GmbH um. Die Idee dazu kam ihm, als er nach seinem Jura-Studium auf einen Referendariatsplatz wartete und zwischenzeitlich bei der Pin AG jobbte. Dabei fiel ihm auf, dass es einen Markt für kleinere Kunden wie Anwaltskanzleien und Steuerbüros gibt, die am Tag nur zehn, zwanzig Briefe verschicken müssen. Mit sieben Kunden ist Loose gestartet. Heute sind es 125. Das Unternehmen wächst. Mittlerweile hat er zwölf Angestellte.

Manuel K. arbeitet seit fast einem Jahr bei Urban Mail. Von dem Job hat ihm sein Enkel erzählt, der hier ein, zwei Mal die Woche jobbt. Manuel K. ist bis zu fünf Stunden am Tag unterwegs. Holt Briefe und Ordner ab. Fährt quer durch Berlin, was ihm nichts ausmacht. Ob sein Alter anfangs ein Hemmnis war? Benjamin Loose überlegt kurz. „Erst schon“, sagt er. Das Team sei immer sehr jung gewesen. Sind die Postkisten voll, könne das Tragen anstrengend sein. Manuel K. sei aber noch so fit und gut drauf gewesen. Wirkte eher wie 45. Und für die Kunden mache es gar keinen Unterschied. „Das war wohl nur in meinem Kopf“, sagt er.

Stephanie Wichmann vom Bildungsträger „Schildkröte“ glaubt, dass sich die Chancen für Menschen, die älter sind oder länger keinen Job hatten, verbessern. Das Verständnis für Krisen nehme zu – und dann sei da ja noch der Fachkräftemangel. Rund 34 000 Stellen sollen in diesem Jahr in Berlin unbesetzt bleiben. 2030 könnten es mehr als 150 000 sein.

Die Produktivität steigern

Dazu kommt: Vor wenigen Jahren standen Berlins Unternehmen in der Kritik, zu wenig auszubilden. Die Kammern mussten dem Senat versprechen, bis zum Jahr 2020 tausend zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Die Zahl ist mehr als übererfüllt: Das Angebot an Ausbildungsstellen hat sich von Juni 2009 bis Juni 2016 um 50 Prozent auf 13288 Plätze erhöht. Das Problem ist ein anderes geworden: Die Betriebe suchen Nachwuchs, finden aber zu selten „geeignete“ Bewerber. Oder überhaupt welche. Deswegen fordert die Wirtschaft die Politik nun dazu auf, die duale Ausbildung beliebter zu machen. Zum Beispiel mit Kampagnen. Außerdem müsse sie sich noch stärker um die qualifizierte Zuwanderung und die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt kümmern. Zudem müssten Digitalisierung und die wachsende Stadt oberste Prioritäten des künftigen Senats sein.

Weiterer Kritikpunkt ist die Industriepolitik. Als Folge der Teilung hat Berlin einen Strukturwandel vollzogen. Weg von einer Industriestadt, hin zur Dienstleistungsstadt. Keiner der großen deutschen börsennotierten Konzerne hat hier seine Zentrale. Obwohl Stellen geschaffen werden, ist Berlin die einzige Hauptstadt Europas, in der die Produktivität unter dem Landesdurchschnitt liegt. Meistens sind Hauptstädte treibende Wirtschaftsmotoren, aber nicht so in Deutschland. Würde Großbritannien London verlieren, würde sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner um elf Prozent verringern. In Frankreich ohne Paris um 15 Prozent. In Griechenland ohne Athen um fast 20 Prozent. Gäbe es Berlin nicht, würde sich das BIP sogar ganz leicht verbessern. Trotz aller Bemühungen, die Produktivität zu steigern.

Manuel K. will genau das sein: ein produktives Mitglied der Gesellschaft. Noch bekommt er einen staatlichen Zuschuss. Für Miete und Lebensunterhalt. Bald wird er seine Stundenzahl aber erhöhen können. Genug verdienen. Manuel K. sagt: „Ich will endlich weg vom Amt.“

Dieser Text ist Teil unserer Serie zur Berlin-Wahl 2016. Weitere Folgen: Ämter, Demokratie, Wohnen, Kinder, Gesundheit, Verkehr, Klima, Sicherheit, Integration

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