Arbeitslosigkeit: Einen neuen Weg aufzeigen
Wie Langzeitarbeitslose - und speziell Alleinerziehende ohne Job - in Berlin auf den Arbeitsmarkt zurück finden.
Elf Jahre hat Janine F. nicht gearbeitet. In der Zeit hat sie fünf Kinder groß gezogen und ist mit ihrem Partner umgezogen, wenn der aus beruflichen Gründen den Wohnort wechseln musste. Dann zerbrach die Beziehung und Janine F., inzwischen 39 Jahren alt, wollte sich neu orientieren. Vor einem Jahr zog sie nach Berlin. Sie war skeptisch, wie das gehen soll mit einem Job und dem Management ihrer Familie. Wer würde sie, eine alleinerziehende Mutter mit einer großen Lücke im Lebenslauf, überhaupt einstellen? Heute hat die Diplom-Bibliothekarin eine Stelle in einer Bücherei.
An diesem Nachmittag sitzt Janine F. in einem Raum des Vereins „Goldnetz“ in Steglitz. Ihre Gesichtszüge sind fein, die hellbraunen Haare hat sie hoch gesteckt. Was ihr geholfen hat, einen Arbeitsplatz zu finden, war das „Berliner Jobcoaching“. Ein Programm, das immer wieder genannt wird, wenn von der sinkenden Arbeitslosenquote in Berlin die Rede ist, und das als Modell gelobt wird. Ohne das „Job Coaching“ hätten nur halb so viele Langzeitarbeitslose eine Stelle gefunden.
Drei Monate lang, 20 Stunden die Woche
Bei dem Programm kümmert sich ein Coach, der speziell für den Arbeitsmarkt ausgebildet ist, drei Monate lang um eine Gruppe von maximal 18 Personen. 20 Stunden die Woche. Jeden Tag, von neun bis 13 Uhr. In den ersten vier Wochen geht es darum, die Kompetenzen und Potenziale jedes einzelnen herauszuarbeiten. „Ich bin zum Beispiel alleinerziehend“, sagt Janine F., „aber genau deswegen kann ich sehr gut organisieren“.
Im zweiten Modul, das acht Wochen dauert, definieren die Teilnehmer ihre beruflichen Ziele. Überlegen, was sie wollen und was nicht, wo es hin gehen soll, und wie. Manche erzählen, sie wollen nicht mehr vom Jobcenter abhängig sein. Keine Existenzängste mehr haben. Andere wollen ihren Kindern ein Vorbild sein. „Ich hab noch nie so viel über mich nachgedacht wie in dieser Zeit“, sagt Janine. Die Treffen waren für sie anstrengend, aber gut. Im dritten Modul geht es um Bewerbungstrainings und um Strategien, wie die Jobsuchenden bei einem Vorstellungsgespräch auftreten und kommunizieren sollten. Janine traute sich dann zum Beispiel, ihre Arbeitszeit wegen der Kindern von 40 auf 30 Stunden runter zu verhandeln.
Der Anteil der Alleinerziehenden steigt
Das „Berliner Jobcoaching“ existiert seit 2012. „Es ist eine meiner ersten Amtshandlungen gewesen“, erzählt Arbeitssenatorin Dilek Kolat (SPD) am Telefon. Seitdem haben 11 000 Frauen und Männer teilgenommen. Die Bilanz: 16,5 Prozent fanden danach eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Ohne Coaching liegt die Quote bei Langzeitarbeitslosen in Berlin bei knapp sieben Prozent. 13,3 Prozent sind auf dem zweiten Arbeitsmarkt angekommen, 4,2 Prozent entschieden sich für eine Aus- oder Weiterbildung. Ein Prozent der Teilnehmer machte sich selbstständig. Fast jeder Dritte ist noch arbeitslos.
Das Angebot in Steglitz setzt an einem weiteren Problem der Hauptstadt an: Neben der sinkenden aber nach wie vor hohen Arbeitslosenquote in Berlin geht es um die spezielle Hilfe von Alleinerziehenden. Nach Steglitz kommen nur Elternteile ohne Job und ohne Partner. Der Anteil der alleinerziehenden Eltern liegt deutschlandweit bei 20 Prozent, in Berlin bei 30 Prozent. „Wie sehr sich Familienformen verändern, sehen wir vor allem hier“, sagt Kolat. „Es gibt nicht mehr nur die Konstellation Vater, Mutter, Kind – und Eheschein.“
Der Anteil der Alleinerziehenden steigt, gleichzeitig sind sie besonders armutsgefährdet, wie jüngst eine Bertelsmann-Studie zeigte. Mit einer Bundesratsinitiative will Berlin Ein-Eltern-Familien finanziell unterstützen. Sie sollen pro Monat 50 Euro als Direktzahlung bekommen und steuerlich entlastet werden, wenn sie weniger als 1500 Euro im Monat zur Verfügung haben.
Kreativ sein und Zeit für's Kind haben
Männer kommen kaum nach Steglitz. Neun von zehn Alleinerziehenden sind weiblich. Hier sitzen Akademikerinnen, Studienabbrecherinnen und Ausgebildete. Migrantinnen mit ausländischen Abschlüssen, Frauen, die erst anfangen, zu arbeiten oder nie Erfahrungen gesammelt haben. Bei Anne K. liegt das Jobcoaching fünf Jahre zurück. Sie hatte früher beim Film gearbeitet und genoss lange das freie, selbstbestimmte Arbeiten. „Ich dachte, ich habe ewig Zeit“, sagt sie. „Und lange ging auch alles gut.“ Dann wechselte sie mit ihrem Freund in die Gastronomie. Sie verschuldeten sich. Trennten sich.
Wie Janine F. musste die 37-Jährige Anne sich etwas einfallen lassen. Ihrer Biografie ein neues Kapitel zufügen. Als sie in Berlin eine Wohnung und einen Kindergartenplatz gefunden hatte, stand die Stellensuche auf der To- Do-Liste. Erst dachte sie sich: Du hast lang genug gemacht, was du wolltest. Jetzt bist du erwachsen. Zeit für etwas Vernünftiges! Anne K. dachte darüber nach, eine Ausbildung zur Industriefrau zu machen. Im Nachhinein ist sie froh, dass es nicht geklappt hat.
Beim Coaching entschied sie sich stattdessen für eine Weiterbildung zur Theaterpädagogin. „Ich kann wieder kreativ sein und habe genug Zeit für mein Kind.“ Sie hat etwas gefunden, dass zu ihren Interessen und ihrem Wunsch, zu leben, passt. „Immerhin möchte ich auch glücklich und eine gute Mutter sein“, sagt sie. Sie glaubt nicht, dass sie diese Möglichkeit beim Jobcenter entdeckt hätte.
Eine Beschäftigung, die wirklich passt
Im Unterschied zum Jobcenter ist das Coaching individueller und zeitintensiver. Es ist freiwillig und keine Verordnung vom Amt. Der Coach ist kein Arbeitsvermittler, hat aber Kontakte und ist gut vernetzt. Er berät nicht, sondern hält den Teilnehmern eher einen Spiegel vor, hilft ihnen, mal die Perspektive zu ändern und betreibt Persönlichkeitsentwicklung. Es geht zwar in erster Linie ums Berufliche, aber auch um die soziale Stabilisierung der Frauen. Ihnen wird geholfen, ihren Alltag und das Familienleben besser zu strukturieren. Ressourcen freizusetzen. Ein besseres Selbst- und Zeitmanagement zu entwickeln.
Arbeitssenatorin Kolat wünscht sich das Berliner Modell deutschlandweit. „Nicht irgendeine Beschäftigung ist das Ziel, sondern eine Beschäftigung, die wirklich passt“, sagt sie. Und die deshalb auch nachhaltig ist.
Zu ihrem Coach steht Anne K. noch immer in lockerem Kontakt. Nach vier und nach sechs Monaten werden die Frauen gefragt, wie es ihnen so geht. Wenn sie möchten, können die Teilnehmerinnen des Programms auch während ihres Berufseinstiegs begleitet werden. Bis zu sechs Monate lang. Die Betreuer unterstützen damit auch die Unternehmen. Stocken die Frauen ihren Verdienst noch mit Arbeitslosengeld II auf, ist die Verringerung dieser staatlichen Leistung ein weiteres Ziel. Damit die Beschäftigung von Dauer ist, können die Frauen jederzeit einen individuellen Coaching-Termin vereinbaren.
Die Chancen für Alleinerziehende sind gut
Im Berliner Haushalt 2016 sind rund elf Millionen Euro für das Programm veranschlagt. Davon sind neun Millionen für das Jobcoaching von Langzeitarbeitslosen allgemein einkalkuliert – und 500 000 Euro speziell für Elternteile ohne Partner.
Schafft es nach dem Jobcoaching generell jeder sechste auf den Arbeitsmarkt, sind es von den Alleinerziehenden sogar 46 Prozent. Die Chancen sind weitaus besser als beispielsweise bei Süchtigen oder chronisch Kranken. Wenn Anne K. so darüber nachdenkt, brauchte sie in einer chaotischen Phase einfach jemanden, der ihr einen Weg aufzeigt. Einen Mutmacher. Die Theaterpädagogin weiß noch nicht, wann sie allein von ihrem Gehalt leben kann. Sie ist aber zuversichtlich, dass sie auch den letzten Punkt ihres Stufenplans noch abhaken wird.
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