Wissenschaft in Zeiten globaler Krisen: Verdient euch das Vertrauen der Laien!
Rollenverteilung aus der Sicht einer Historikerin: Die Wissenschaft soll ihre Regeln einhalten. Und die Politik soll Risiken der Entscheidung nicht abwälzen.
In unserer Debatte über „Wissenschaft und politische Verantwortung“ hat an dieser Stelle zuletzt Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, die Scientific Community aufgefordert, „den Menschen zu helfen, zur Vernunft zu kommen“. Der Beitrag von Barbara Stollberg-Rilinger, Historikerin und Rektorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin, schließt jetzt die Diskussion ab.
Wir leben in einer Wissensgesellschaft. Unser gesamtes Alltagsleben ist durch und durch von Spezialwissen abhängig, das niemand als Einzelner auch nur annähernd durchschaut. Wir können gar nicht umhin, uns auf das Spezialistenwissen anderer zu verlassen – ob wir Lebensmittel einkaufen, mit dem Flugzeug fliegen, einen Mietvertrag abschließen, ein Smartphone benutzen oder zum Zahnarzt gehen.
Jeder Fachmann, jede Wissenschaftlerin ist in tausenderlei Hinsicht zugleich Laie; das kann in einer hochkomplexen Gesellschaft gar nicht anders sein.
Laien verlassen sich normalerweise völlig selbstverständlich auf das Spezialwissen anderer. Das tun selbst diejenigen, die glauben, dass die Erde eine Scheibe ist, der Klimawandel eine Erfindung der Chinesen oder die Mondlandung eine Inszenierung der Amerikaner. Solange sie sich nicht als Einsiedler auf das letzte unberührte Eiland in Ozeanien zurückziehen, bleibt ihnen schlicht gar nichts anderes übrig. Deshalb steht außer Frage, dass auch die Politik sich laufend auf dem Boden wissenschaftlicher Erkenntnisse bewegt. Was aber nicht heißt, dass sie tut, was die Wissenschaftler (jedweden Geschlechts) ihr sagen.
Es ist die Aufgabe des Wissenschaftssystems, dafür zu sorgen, dass dieses generalisierte Vertrauen der Laien gerechtfertigt ist – was selbstverständlich nicht ausschließt, dass es hin und wieder enttäuscht wird. Die Wissenschaft muss sich das Vertrauen, das die Gesellschaft ihr normalerweise entgegenbringt, auch verdienen. Dazu ist es nötig, dass jede Disziplin bestimmten methodischen Regeln folgt und sich in einem institutionellen Rahmen bewegt, der die Einhaltung dieser Regeln überwacht. Das unterscheidet wissenschaftliches Wissen von bloßem Alltagswissen.
Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen überprüft werden
Hinzu kommt aber noch ein weiterer Unterschied: Wissenschaftliche Erkenntnisse sind grundsätzlich vorläufig. Wenn sie den Namen Wissenschaft verdienen wollen, müssen sie überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden können. Auf dieser Grundannahme beruht – spätestens seit dem 18. Jahrhundert – das moderne Wissenschaftssystem, und darauf beruht auch die gesamte Wissensgesellschaft.
Wissenschaftliche Erkenntnis ist eben nicht mit ewigen, unumstößlichen Wahrheiten zu verwechseln, weder in den Geistes- noch in den Naturwissenschaften. Wissenschaftler sind sich selbstverständlich niemals vollkommen einig. Auch deshalb ist das hohe Maß an Übereinstimmung, das sie in puncto Klimawandel an den Tag legen, so außergewöhnlich und die Botschaft so alarmierend. Dass wissenschaftliche Erkenntnisse vorläufig sind, kann aber nicht als Vorwand dafür dienen, diese Erkenntnisse einfach pauschal in den Wind zu schlagen, wenn sie einem unbequem sind. Im Gegenteil.
Wissenschaft ist ja paradoxerweise desto vertrauenswürdiger, je offener sie für Widerlegung ist. Aus der Vorläufigkeit und Falsifizierbarkeit des Spezialwissens abzuleiten, man sollte es einfach ignorieren, wäre eine Dummheit und ein fataler Fehler. Vertrauen in die Wissenschaft ist für die komplexe moderne Wissensgesellschaft lebenswichtig. Aber daraus folgt nicht, dass die Wissenschaft eindeutige oder gar verbindliche Handlungsanweisungen für die Politik geben kann.
Wissenschaftler klären über Folgen politischer Entscheidungen auf
Denn Wissenschaft und Politik folgen einer jeweils ganz anderen Logik. In der Wissenschaft geht es um Erkenntnis, und die ist grundsätzlich reversibel. In der Politik dagegen geht es um Entscheidungen, und die sind irreversibel. Zugleich ist aber die Richtigkeit jeder Entscheidung in dem Moment, in dem sie gefällt wird, niemals garantiert. Entscheidend ist – selbst nach noch so gründlichem Abwägen – am Ende immer ein Sprung ins Ungewisse, denn die Zukunft ist nicht voraussehbar.
Die Risiken des Entscheidens kann die Wissenschaft der Politik nicht abnehmen. Wissenschaftler können nur über wahrscheinliche Entscheidungsfolgen aufklären und die Abwägung der Optionen auf eine rationalere Grundlage stellen. Die Entscheidungen fällen müssen die Politiker selbst, und zwar auf der Basis komplizierter gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. In diese Prozesse fließen keineswegs nur wissenschaftliche Erkenntnisse ein, sondern auch konkurrierende Interessen, die zu einem Ausgleich gebracht werden müssen. Und das ist Sache der Politik, nicht der Wissenschaft.
Kunstgeschichte klärt koloniale Herkunft, Politik entscheidet über Rückgabe
Die Medizin kann erforschen, welche Feinstaubbelastung welche Krankheitsrisiken in welchem Maße erhöht – die gesetzlich sanktionierten Grenzwerte müssen politisch festgelegt werden. Die Kunstgeschichte kann erforschen, auf welche Weise Objekte aus Kolonialgebieten in ein Museum gelangt sind – über ihre Restituierung muss politisch entschieden werden. Zu glauben, man könnte gesellschaftliche Interessen- und politische Machtfragen umstandslos in wissenschaftliche Wahrheitsfragen verwandeln und auf diese Weise lösen, ist naiv.
So wie die Wissenschaft der Politik nicht die Entscheidungen diktieren kann, darf auch umgekehrt die Politik nicht die Wissenschaft politischen Bedürfnissen unterwerfen. Das Wissenschaftssystem kann für die Gesellschaft nur dann optimal leisten, was es leisten soll, wenn es seinen eigenen Regeln und Erkenntnisinteressen folgt, anstatt nur Lösungen für Probleme zu suchen, die von außen an die Wissenschaft herangetragen werden.
Nur ergebnisoffene, von nichts als Neugier getriebene Forschung ist in der Lage, völlig Neues zu denken oder gänzlich Unerwartetes zu finden. Deshalb liegt Wissenschaftsfreiheit im Interesse der gesamten Gesellschaft. Es muss möglich sein, auch solchen Fragen nachzugehen, deren unmittelbare Relevanz nicht auf der Hand liegt. Das ist übrigens, entgegen einem verbreiteten Vorurteil, in den Naturwissenschaften ebenso oft der Fall wie in den Geisteswissenschaften.
Lesen Sie auch folgende Debattenbeiträge:
- Jürgen Kocka: Forscher, werdet nicht zu Propagandisten [hier]
- Jutta Allmendinger und Harald Wilkoszewski: Sagt was, Wissenschaftler [hier]
- Christian Thomsen: Nur Mut, liebe Kollegen [hier]
- Jürgen Renn: Den Menschen helfen, zur Vernunft zu kommen [hier]
Wohin es führt, wenn die Politik der Wissenschaft die Aufgaben diktiert, dafür liefert beispielsweise die Geschichtswissenschaft reichlich Anschauungsmaterial. Lange war Geschichte die politische Legitimationswissenschaft schlechthin: Sie erfand nationalistische Ursprungsmythen, konstruierte überzeitliche völkische Identitäten, unterfütterte territoriale Expansionsansprüche und so fort.
Genau das verlangen neo-nationalistische Regimes derzeit wieder von den Historikern – in Russland, Polen, Ungarn und anderswo. Genau das verweigern die meisten Historiker heutzutage aber lieber, und mit gutem Grund. Sie sehen ihr Geschäft vielmehr gerade darin, kulturelle Phänomene aus ihrem spezifischen historischen Kontext heraus zu verstehen, und das macht das unmittelbare Lernen aus der Geschichte so schwierig.
Geschichte als Fortschrittserzählung hat ausgedient
Mittlerweile ist außerdem überdeutlich geworden, dass man aus der Vergangenheit nicht umstandslos auf die Zukunft schließen kann. Historische Erzählungen, die die Geschichte als zielgerichteten Fortschrittsprozess beschreiben, haben ausgedient. Die meisten Historiker ziehen es heute vor, diese großen Erzählungen zu entzaubern, anstatt selbst neue zu erfinden.
Welche politische Relevanz es hat, die Vergangenheit zu erforschen, ist also nicht mehr so offensichtlich, wie es früher einmal war. Der Sinn liegt nicht darin, der Politik Handlungsanweisungen zu geben, und erst recht nicht darin, einer bestimmten Politik die Legitimationsgrundlage nachzuliefern. Der Sinn liegt vielmehr darin, eine reflexive Distanz zur eigenen Zeit zu gewinnen, also nicht alles so, wie es ist, für selbstverständlich zu halten. Denn wer nichts anderes als seine eigene Gegenwart kennt, kennt auch seine eigene Gegenwart nicht richtig.
Schließlich: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind immer zugleich Bürgerinnen und Bürger. Als solche nehmen sie an den gesellschaftlichen Verständigungsprozessen teil und tragen die Verantwortung dafür, ihre Erkenntnisse in den politischen Prozess einzubringen – vor allem dann, wenn wir es mit Gefahren zu tun haben, die abzuwenden im existenziellen Interesse aller liegt. Aber man sollte beide Rollen auseinanderhalten.
Barbara Stollberg-Rilinger
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