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Viktor Orbán 2015 beim Gedenken an die 1848er Revolution gegen die Habsburger vorm Nationalmuseum in Budapest.
© Tamas Kovacs/ picture alliance / dpa

Geschichtsbewusstsein: Mit der Kraft der historischen Fakten gegen Populisten

Schule der Demokratie: Wie kritisches Geschichtsbewusstsein gegen die radikalen Vereinfacher in der Politik wirkt. Ein Gastbeitrag.

Weltweit sehen sich Demokratien durch Populismus, autoritäre Geschichtsentwürfe und den Gebrauch von „alternativen Fakten“ herausgefordert. Bei allen Unterschieden zwischen den Verhältnissen in den USA, in Polen, Ungarn, der Türkei oder auch Indien sind Ähnlichkeiten in den Machttechniken der dortigen populistischen Regierungen nicht zu übersehen: Der Anspruch, das „wahre Volk“ zu repräsentieren, grenzt alle aus, die aus der Sicht der Populisten anders sind: Fremde, Minderheiten und Andersdenkende.

Der populistische Herrschaftsanspruch wendet sich außerdem gegen alle intermediären Institutionen – gegen die Verfassungsgerichte, die den Spielraum der Regierungen einschränken, gegen die Medien, die bezichtigt werden, die Wahrheit zu verschleiern, und gegen die unabhängige Wissenschaft.

Europäische Populisten greifen auf den Faschismus zurück

In vielen Fällen wird auf vordemokratische, autoritäre Geschichtsentwürfe zurückgegriffen. Unter den europäischen Populisten gewinnen das antidemokratische Denken der Weimarer Republik und des italienischen Faschismus und auch biologistische Konzeptionen des Staatsvolks an Attraktivität.

Populismus zeichnet sich durch einen paradoxen Umgang mit Wirklichkeit aus: Die liberalen Medien der Produktion von Fake News zu bezichtigen und sich zugleich auf „alternative Fakten“ zu beziehen, ist eine Machttechnik, die das methodische Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft herausfordert. Anders als die Literatur- und Kunstwissenschaften, die vorwiegend fiktionale Texte und Artefakte erforschen, geht die Geschichtswissenschaft im Kern der Frage nach, „wie es eigentlich gewesen“ ist (Leopold von Ranke).

In der aktuellen Geschichtswissenschaft sind die Stimmen stärker geworden, die die eigentliche Essenz von Geschichte in nicht zu hintergehenden Narrativen erkennen. Gleichwohl gehören der Ethos, Wirklichkeit genau zu rekonstruieren, und das Wissen um den immer nur annäherungsweise möglichen Schritt, dies zu tun, zum Kern des Selbstverständnisses der Geschichtswissenschaft. Damit vermittelt Geschichtswissenschaft eine Disposition, die für die Demokratie gerade in Zeiten des Populismus wichtig ist.

Einsicht in die Ambivalenzen politischer Entscheidungen

Das Studium der Geschichte begünstigt auf der einen Seite eine Skepsis gegenüber den modernen Planbarkeitsvorstellungen, was man als eine konservative Grundeinstellung bezeichnen kann. Die Beschäftigung mit Geschichte lehrt ebenso Skepsis gegenüber verlockend einfachen Totalentwürfen für die Gesellschaft und führt zur Einsicht in die Ambivalenzen politischer Entscheidungen. Auf der anderen Seite eröffnet die Geschichte aber auch die Möglichkeit, sich der Handlungsspielräume bewusst zu werden, eine andere und bessere Welt zu denken und anzustreben. Sie stärkt also auch eine Grunddisposition, die in den linken Traditionen des politischen Denkens beheimatet ist.

Die besondere Aktualität, die Geschichtswissenschaft heute im Zeichen der Herausforderung durch populistische Bewegungen erlangt hat, hängt mit ihrer Fähigkeit zusammen, Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität zu vermitteln. Die Komplexität der repräsentativen Demokratie im Verfassungsstaat besteht darin, dass Differenz institutionalisiert wird. Der Idee der Volksherrschaft steht das Postulat ihrer Verrechtlichung gegenüber, an der Stelle des einen, mit sich selbst einigen Volkes steht die Anerkennung der Vielheit der Gruppen. Zum Grundverständnis der liberalen Demokratie gehört es, dass nicht jeder Mehrheitsentscheid legitim ist, sondern nur demokratische Entscheidungen, die mit der Achtung von Menschenrechten vereinbar sind.

Volkssouveränität als unbedingte politische Willensfreiheit?

Der liberale Verfassungsstaat hat also bestimmte Vorentscheidungen schon getroffen, die dem demokratischen Mehrheitsentscheid entzogen sind. Genau dagegen richtet sich das Konzept der nicht-liberalen Demokratie, das der ungarische Regierungschef Viktor Orbán mit aller Klarheit als Prinzip für seine Partei „Fidesz“ reklamiert und das für viele populistische Bewegungen ein Leitkonzept ist.

Volkssouveränität als unbedingte politische Willensfreiheit zu deuten, die sich gegen pluralistische Strukturen und sogar gezielt gegen Minderheiten richten kann, ist eine populistische Argumentationsfigur, deren Wirksamkeit man nicht unterschätzen sollte, gerade weil sie mit dem oft ethnonationalistisch gedachten „Willen des Volkes“ operiert, um diesen allerdings potenziell gegen die Menschenrechte und damit auch die Freiheit selbst zu richten.

Insbesondere in der deutschen Geschichte gibt es historische Erfahrungen, die es anschaulich machen, welche Gefahren lauern, wenn das Prinzip des Mehrheitswillens gegen die repräsentative Demokratie und Sicherung von Grundrechten ausgespielt wird. So bestand eine markante Schwäche der Weimarer Republik gerade in dem grundsätzlichen Misstrauen gegen die Legitimität des gesellschaftlichen Pluralismus, die in der zum Teil vehementen Ablehnung der Weimarer Republik als einem in sich zerrissenen „Parteienstaat“ zum Ausdruck kam.

"Lügenpresse", "Volksverräter": Wiederkehr alter Kampfbegriffen

Viktor Orbán 2015 beim Gedenken an die 1848er Revolution gegen die Habsburger vorm Nationalmuseum in Budapest.
Viktor Orbán 2015 beim Gedenken an die 1848er Revolution gegen die Habsburger vorm Nationalmuseum in Budapest.
© Tamas Kovacs/ picture alliance / dpa

Das Ideal vieler Politiker blieb die Idee einer (scheinbar) über den Parteien schwebenden Regierung. Dabei litt die politische Kultur von Weimar an der Dissonanz zwischen der erfahrenen gesellschaftlichen Pluralität und der eigenen Wirklichkeitsdeutung, welche Vielfalt negiert und das eigene „wahre“ – um Andersdenkende und Andersrassige reduzierte – Volk als den einzig legitimen Souverän deutet. Daraus resultierte für die Anhänger der NSDAP und ihr weites Sympathisantenfeld ein unversöhnlicher Kampf, in dem der politische Gegner mit dem Abnormen identifiziert wurde. Die Erringung der Mehrheit war für die Nationalsozialisten erklärtermaßen gleichbedeutend mit der Vernichtung des Feindes.

Man könnte einwenden, dass die Geschichte von Weimar für die Gegenwart keine Lehren mehr enthält, zu sehr haben sich die politischen Verhältnisse der Bundesrepublik von denen Weimars entfernt. Die Wiederkehr von Kampfbegriffen wie „Lügenpresse“ und „Volksverräter“ signalisiert jedoch, in welchem Maße sich gegenwärtig eine politische Sprache der absoluten Feindschaft wieder etablieren kann, die der Vergangenheit anzugehören schien.

Versuch eines ruhmreichen und makellosen nationalen Geschichtsbildes

Die populistischen Feinde der pluralistischen und freien Gesellschaft wollen ein ruhmreiches und makelloses nationales Geschichtsbild durchsetzen, das frei ist von Ambivalenzen, Brüchen und vor allem von historischer Schuld. So wenig populistische Ideologen eine komplexe Wirklichkeit zulassen wollen, so sehr forcieren sie ein einfaches mythisches Narrativ der eigenen Volksgeschichte. Dabei steht ein kruder volkspädagogischer Gedanke im Hintergrund: die Vorstellung, dass das eigene Volk durch ein kritisches Geschichtsbewusstsein in der Konkurrenz mit anderen Völkern geschwächt werden könne.

Zwischen dem Selbstverständnis kritischer Geschichtswissenschaft und der Geschichtspolitik des Populismus in Europa besteht deshalb ein fundamentaler Konflikt. In Deutschland ist dies in den Reden von Jens Maier und Björn Höcke vor der Jugendorganisation der AfD im Januar 2017 in Dresden besonders deutlich geworden.

Während Maier dazu aufrief, den „deutschen Schuldkult“ zu beenden, forderte Höcke gar eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. Unumwunden ließ der beurlaubte Geschichtslehrer dabei seinen volkspädagogischen Ansatz erkennen: Deutschland befinde sich noch immer im „Gemütszustand eines total besiegten Volkes“.

Erinnerungskultur, die auch Brüche in der Nationalgeschichte umfasst

Die öffentliche Reaktion auf die Reden Maiers und Höckes zeigt, dass es in Deutschland gelungen ist, eine Erinnerungskultur zu schaffen, die auch Brüche in der eigenen Nationalgeschichte und das Bewusstsein von Schuld umfasst. So spät auch in der Bundesrepublik eine breitenwirksame Aufarbeitung der NS-Vergangenheit begonnen hat und so unvollständig diese immer noch ist, das Bewusstsein der gebrochenen und schuldhaften Nationalgeschichte wird heute in Deutschland nicht nur weithin akzeptiert, es gehört auch zum Selbstverständnis der Nation.

Der Kampf zwischen autoritärem Populismus und liberaler Demokratie, der zurzeit in vielen Ländern Europas und weltweit stattfindet, wird um Geschichte und Geschichtsbewusstsein geführt. Kritische Geschichtswissenschaft und ein kritisches Geschichtsbewusstsein müssen die politischen Akteure des Populismus am meisten fürchten: Die Schulung, nach methodischen Regeln Wirklichkeit zu rekonstruieren, ist der beste Schutz gegen die gezielte Verbreitung von Fake News und Verschwörungstheorien.

Nachdenken über Geschichte und ihre Widersprüche

Schulunterricht kann das Reifen von Geschichtsbewusstsein fördern, indem er Schüler und Schülerinnen zum Nachdenken über Geschichte, über ihre Widersprüche, Mehrdeutigkeit und Kontingenz anregt. Gelingt dies, versetzt er sie in die Lage, sich gegen manipulative Einflüsse auf das Geschichtsbewusstsein zu wehren. Sich in der Geschichte orientieren zu können, ist für Kinder und Jugendliche ein großer Schritt. Für die Demokratie ist es zugleich der beste Schutz gegen die radikalen Vereinfachungen des neuen Populismus.

Der Autor ist Professor für die Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München. In voller Länge ist sein Essay online bei der Konrad-Adenauer-Stiftung zu finden - hier.

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