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TU-Präsident Christian Thomsen beim Klimastreik in Berlin.
© TU Berlin/PR/Dominic Simon

Nur Mut, liebe Kollegen!: Warum die Wissenschaft laut sein muss

Unis for Future: Wo Wissenschaft sich fachlich und sachlich einmischt, kann sich Politik nicht entziehen. Ein Plädoyer des Präsidenten der TU Berlin.

Die Debatte über Wissenschaft und politische Verantwortung hat der Sozialhistoriker Jürgen Kocka hier am 26. September mit einem Appell an seine Kollegen eröffnet: „Werdet nicht zu Propagandisten“. Unter anderem warnte Kocka vor unwissenschaftlichen Vereinfachungen bei Protesten und Petitionen. Am 2. Oktober hat ihm WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger erwidert, Forschung müsse in Zeiten des Klimawandels und anderer Krisen gesellschaftlich engagiert sein. Jetzt schaltet sich Christian Thomsen, Präsident der Technischen Universität Berlin, der beim „Klimastreik“ mitdemonstriert hat, in die Debatte ein.

Wer weiß besser, an welchen Ecken es für Radfahrerinnen und Radfahrer in Berlin gefährlich ist: Die zuständige Senatsverwaltung oder nicht vielmehr die Radfahrer selber, die tagtäglich auf dem Weg zur Arbeit, Schule oder Hochschule unterwegs sind? Traditionell nimmt eine Verwaltung diese Kompetenz für sich in Anspruch, aber es geht auch anders.

Wissenschaftler des Einstein Center Digital Future haben eine App entwickelt, die es jedem ermöglicht, die eigenen Fahrraderlebnisse mit dem Handy aufzuzeichnen. Quasi nebenher, während man fährt, werden Beinahunfälle über die Beschleunigungssensoren des Handys aufgenommen. Man kann sie nach der Fahrt kommentieren und anonymisiert hochladen.
Über die vergangenen Monate ist so eine Karte mit Orten in Berlin entstanden, an denen Fahrradfahrer besonders gefährdet sind. Und nach dieser Karte kann die Verwaltung nun handeln und durch geeignete Maßnahmen Fahrradfahren sicherer machen. So erfolgreich ist die App, dass sie inzwischen national und international auch in anderen Städten eingesetzt wird.

Was ist passiert? Wissenschaft fungiert als Ermöglicherin von gesammelten Beiträgen ganz vieler einzelner Bürgerinnen und Bürger, auch Citizen Science oder Bürgerwissenschaften genannt, die durch ihre konkreten Erfahrungen Einfluss auf eine Verwaltung nehmen können. Neben dieser Art der Kooperation zwischen Gesellschaft und Wissenschaft gibt es noch zahlreiche andere Arten des Austauschs, die sich etabliert haben.

Die Stimme auf Demonstrationen erheben und mit Bürgern reden

Das Wissenschaftssystem hat sich nicht nur geöffnet und erklärt sich, sondern erhebt auch die Stimme auf Demonstrationen, lädt Vertreter aus der Zivilgesellschaft ein, um gemeinsam Forschungsfragen zu erarbeiten, oder diskutiert öffentlich und kontrovers mit Politikern. Allgemeiner formuliert: Wissenschaft ist laut geworden, hat sich eingemischt und einen fachlichen, sachlichen Standpunkt bezogen, dem sich gestaltende Politik nicht entziehen kann.

Diese Rolle steht der Wissenschaft zu. Es ist geradezu ihre Aufgabe, die leider an vielen Stellen nicht ungefährlich ist, denn sie steht in Konflikt mit politischem Willen, wo er nicht auf Fakten beruht. „Empirische Fakten werden nicht geglaubt, sondern gewusst“, sagte unlängst Ottmar Edenhofer bei einer Debatte über Klimawandelleugner an der TU Berlin vor 1100 Zuhörern.

Immer wieder geht es Wissenschaftlern an einigen Stellen in der Welt an den Kragen, weil sie ungewünschte Fakten präsentieren. Dem international anerkannten Physiker und Leiter des staatlichen Raumfahrtinstituts, das für die Auswertung von Satellitenaufnahmen des Regenwalds in Brasilien zuständig ist, Ricardo Galvão, wurde unlängst gekündigt.

Lesen Sie auch folgende Debattenbeiträge:

- Jürgen Kocka: Forscher, werdet nicht zu Propagandisten [hier]

- Jutta Allmendinger und Harald Wilkoszewski: Sagt was, Wissenschaftler [hier]

Was hatte er getan? Er veröffentlichte unliebsame Fakten über die Anzahl der Waldbrände. Sie standen im Widerspruch zu den gegenteiligen Behauptungen von Brasiliens Politik über die laufende Vernichtung des Regenwalds als dem größten Kohlendioxidspeicher der Erde.

Sogar unser Bundespräsident hat sich kürzlich zu Wort gemeldet und die Wissenschaftsfreiheit als wichtiges Gut von Demokratien in den Vordergrund gestellt. Auch wenn Politik anders funktioniere als Wissenschaft, nämlich handlungsorientiert und weniger erkenntnisorientiert, müssten Wissenschaft und Politik beieinanderbleiben. Aufgabe der Wissenschaft sei es, „in der Lage sein, in Politik und Gesellschaft hineinzugehen, zu erklären, zu werben und zu vermitteln“.

Die Politik kann die Wissenschaft nicht mehr ignorieren

Insoweit kann ich dem geschätzten Kollegen Jürgen Kocka in seinem Plädoyer „Forscher, werdet nicht zu Propagandisten“ kürzlich im Tagesspiegel leider nicht vollumfänglich zustimmen. Wohl verliert der Wissenschaftler an Glaubwürdigkeit, wenn er sich grober Vereinfachung von wissenschaftlichen Sachverhalten inhaltlich anschließt. Daraus lässt sich jedoch eine feine akademische Zurückhaltung bei politisch zu entscheidenden Sachverhalten wie etwa dem Klimawandel oder dem Brexit nicht ableiten.

Im Gegenteil: Stellung zu beziehen etwa in Fragen der Vernichtung des Regenwaldes und diese öffentlich kundzutun – auch wenn man selber kein Fachexperte ist – gehört dazu. Klar, das ist mit Risiken für das akademische Wohlbefinden verbunden. Aber dafür wirkt es gegen das Ignorieren von Wissenschaft durch Politik, wie wir es in den letzten Jahrzehnten beobachten mussten.

Eine Gruppe von Scientist for Future beim Klimastreik in Berlin.
Bei Klimastreik engagierten sich zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
© Tilmann Warnecke

Daraus folgt nun nicht, dass es ausreicht, Wissenschaftlern beizubringen, ihre Ergebnisse auf dem Marktplatz kund zu tun. Das haben sie seit der Jahrtausendwende mit den bundesweiten Jahren der Wissenschaft und den Langen Nächten in zunehmend auch erfolgreich getan. Was heute jedoch mehr denn je wichtig geworden ist, ist die Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse zu erhöhen. Wie gesagt, empirische Fakten werden nicht geglaubt, sondern gewusst.

Dazu kommt die Kommunikation durch die sozialen Medien, derer sich junge Menschen, unabhängig von Herkunft und Bildung, aktiv bedienen. Richtig oder falsch im klassischen Sinn verschwimmen, Fake News und Deep Fakes rücken als Bewertungsfaktoren in den Vordergrund. Die Verbreitung sozialer Medien stellt auch das konventionelle Bild klassischer Informationskanäle in Frage.

Forschende, die gehört werden wollen, müssen auch twittern

Funk, Fernsehen und Tageszeitungen werden noch gehört, gesehen und gelesen. Aber sie sind schon längst nicht mehr die einzigen Quellen von Information und Meinungsbildung insbesondere junger Menschen, die ja unsere Zukunft sind. Wissenschaft, wenn sie gehört werden und Einfluss behalten will, sollte ihren Platz eben auch auf Twitter und Co. haben. Und das trotz der so lästigen Beschränkung auf eine bestimmte Zeichenzahl.

Zu moderner Wissenschaftskommunikation gehört Mut zu unpopulären Aussagen, eine gewisse Affinität zu den sozialen Medien und die Bereitschaft in einen öffentlichen Diskurs über wissenschaftliche Erkenntnisse einzutreten. Zum Beispiel in Debatten um den Impfschutz für Kinder oder die Behandlung mit homöopathischen Mitteln, deren Wirksamkeit nach wie vor nicht erwiesen ist und deren Kosten inzwischen dennoch von gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden.

Dabei sollten wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht unseren Platz verwechseln. Trotz lauter öffentlicher Stimme sind und bleiben wir doch Teil des Wissenschaftssystems und wechseln nicht in den Politikbereich, der anderen Pflichten und Gesetzmäßigkeiten folgt. Und das ist auch gut so, denn durch unser „Hineingehen“, wie es Frank-Walter Steinmeier formulierte, bereichern wir unsere Gesellschaft, machen sie vielstimmig, rücken ihr so nah wie möglich und liefern mit wissenschaftlichen Fakten eine Grundlage für Entscheidungen in anderen gesellschaftlichen Systemen wie der Politik oder der Wirtschaft.

Wissenschaftskommunikation bleibt also eine wichtige Zukunftsaufgabe, die uns alle herausfordert, die wir ernst nehmen müssen und die in jeder Wissenschaftseinrichtung oben auf der Agenda stehen sollte. Nur Mut, liebe Kolleginnen und Kollegen in den Präsidien, Rektoraten, Exzellenzclustern und Fachgebieten!

Christian Thomsen

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