Debatte über Wissenschaft und Politik: Hört auf, euch zu verstecken!
Wissen, zuhören, differenzieren: Berlins ehemaliger Wissenschaftssenator über das Wechselspiel zwischen Wissenschaft und Politik. Ein Gastbeitrag.
Wissen war in der gesamten Menschheitsgeschichte von zentraler Bedeutung. Heute aber leben wir nicht mehr nur in einer Wissensgesellschaft, sondern in einer Wissenschaftsgesellschaft. Wissenschaftliches Wissen durchdringt alle Lebensbereiche, persönliche, berufliche und gesellschaftliche. Wissenschaft liefert auch einen entscheidenden Baustein dafür, Politik und Gesellschaft zukunftsfähig zu machen: Die Politik stützt sich in ihrem Handeln glücklicherweise immer mehr auf wissenschaftliche Erkenntnisse.
Zunehmend werden aber heute Fakten infrage gestellt, gerade auch solche, die auf wissenschaftlicher Erkenntnis beruhen. Dieser gefährliche Trend reicht vom Alltag bis in die große Politik. Kinder werden seltener geimpft, Fake News erlangen weite Verbreitung, und der mächtigste Politiker der Welt, der amerikanische Präsident, leugnet gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse und macht dies zur Grundlage seiner Politik.
Ob es tatsächlich einen solchen Glaubwürdigkeits- oder Vertrauensverlust gibt, ist umstritten. Unabhängig davon, ob er nachweisbar ist und ob die öffentliche Infragestellung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf ihn zurückzuführen ist: Es gibt durchaus gute Gründe, der Wissenschaft nicht vorbehaltlos zu vertrauen. Viele Aspekte sind hier wirkmächtig, und nur am Rande sei erwähnt, dass die Wahrnehmung der Wissenschaft auch dadurch beeinflusst wird, wie Medien wissenschaftliche Ergebnisse vermitteln und wie die Bevölkerung sie rezipiert. Wesentliche Probleme sind primär von der Wissenschaft selbst zu verantworten, andere von der Politik.
Die Wissenschaft gibt Anlass, ihr zu misstrauen
Wissenschaft produziert nicht nur schlechte, sondern sogar falsche Ergebnisse, auch nach ihren eigenen Maßstäben, und dies leider in einem beträchtlichen Ausmaß. Beispielhaft sei hier eine Umfrage unter Lebenswissenschaftlern angeführt. Zwei Prozent der Forschenden gaben zu, selbst zu fälschen. Ein Drittel gab an, bei ihren Veröffentlichungen „Tricks“ zu verwenden, und unterstellte zudem, dass zwei Drittel ihrer Kollegen „schummeln“, das heißt, Ergebnisse schönen oder – nennen wir es beim Namen – betrügen. Nicht zuletzt in den Lebenswissenschaften hat „schlechte Wissenschaft“ eine für jeden augenfällige ethische Dimension: Sie gefährdet Patienten, sie führt zu unnötigem Leid und Tod in Tierexperimenten.
Wenngleich nicht alle Bürger die Details rezipieren, hinterlassen solche Tatsachen Spuren, es entsteht eine Stimmung. Das geflügelte Wort „Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe“, das Winston Churchill zugeschrieben wird, aber wohl auf Goebbels zurückzuführen ist, ist im Bewusstsein der Bevölkerung durchaus präsent. Es nährt den Zweifel an Erkenntnissen, die durch Statistik gewonnen wurden, und fördert damit insgesamt einen Vertrauensverlust.
Die Wissenschaft ist also dringend aufgerufen, systematisch, konsequent und nachhaltig an ihrem Ruf zu arbeiten. Dazu sollte sie nicht ihr Marketing, sondern ihre Strukturen der Qualitätssicherung auf den Prüfstand stellen und auf die Höhe der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung bringen.
Politische Entscheidungen müssen die Politiker aushandeln
Wer allerdings die eine einfache Wahrheit von der Wissenschaft erwartet, kann nur enttäuscht werden. Wer als Wissenschaftler den Anschein erweckt, eine solche liefern zu können, kann andere nur enttäuschen und muss auf lange Sicht Vertrauen verlieren. Die Unkenntnis über die Möglichkeiten und Grenzen der Wissenschaft abzubauen, den Unterschied von bedingter Erkenntnis und ewig währender Wahrheit zu erhellen, ist eine mühevolle Aufgabe, erst recht in einer Zeit, in der viele Menschen sich nach Komplexitätsreduktion sehnen, um sich orientieren, verorten, beheimaten zu können. Die Erkenntnisse der Wissenschaft sind abhängig von der Subjektivität der Fragestellung, der angewandten Methode, und es ist in der DNA der Wissenschaft verankert, ihre eigenen Erkenntnisse infrage zu stellen und sie gegebenenfalls zu revidieren. Der Mühe müssen sich alle Seiten stellen, zuerst die Wissenschaft selbst, aber auch diejenigen, die Wissenschaft rezipieren.
Wissenschaft muss aufmerksam darauf achten, einem Missbrauch ihrer Arbeit zu wehren. Sie liefert Fakten und keine Entscheidungen. Für politische oder wirtschaftliche Entscheidungen ist eine Wertigkeitsskala bestimmend, die der Wissenschaft strukturell fremd ist, es sei denn, eine solche ist ausnahmsweise ihr Gegenstand. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind grundlegend und unverzichtbar für Politik, aber zur politischen Entscheidung werden sie erst im Zuge der wertgebundenen Gewichtung und Abwägung durch Politiker. Die Diskussion im Spannungsfeld Ökonomie und Ökologie belegt dies eindrucksvoll. Klimaforscher, Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen liefern unverzichtbare Erkenntnisse zur Zukunft des Braunkohlegebiets in der Lausitz; legitime Entscheider aber wären sie nicht.
Deutschland braucht einen Chief Scientific Advisor
Auch die Politik kann einen Beitrag zum Vertrauen in die Wissenschaft leisten. Der Bringschuld der Wissenschaft entspricht eine Holschuld der politischen Akteure. In den mehr als 20 Jahren, die ich an der Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft gearbeitet habe, habe ich eine oft erschreckende Unkenntnis von Politikern über die Arbeit von Wissenschaftlern und die Bedingungen und Grenzen ihrer Tätigkeit erfahren.
Dieser Befund, der in anderen Berufsgruppen nicht wesentlich anders sein dürfte, erstaunt angesichts des Anspruchs, dass unsere Schulen bis zum Abitur die Grundprinzipien wissenschaftlichen Arbeitens vermittelt und immer mehr junge Menschen mit ihren Bachelor- und Masterarbeiten tatsächlich wissenschaftlich gearbeitet haben sollen. Und er wird nicht dadurch besser, dass wir eher zu viele Promotionen – der Nachweis zur Fähigkeit selbstständigen wissenschaftlichen Arbeitens – haben als zu wenige.
Lesen Sie auch folgende Debattenbeiträge zum Thema Wissenschaft und politische Verantwortung:
- Jürgen Kocka: Forscher, werdet nicht zu Propagandisten
- Jutta Allmendinger und Harald Wilkoszewski: Sagt was, Wissenschaftler
- Christian Thomsen: Nur Mut, liebe Kollegen - warum Wissenschaft laut sein muss
- Jürgen Renn: Den Menschen helfen, zur Vernunft zu kommen
- Barbara Stollberg-Rilinger: Die Wissenschaft muss sich das Vertrauen der Laien verdienen
- Peter-André Alt: Wissenschaft benötigt Distanz zur Gesellschaft
- Ernst Dieter Rossmann: Politik und Wissenschaft - in wechselseitigem Respekt, bitte
Politik muss sich ehrlich machen: Wenn sie notwendige Kompetenzen selbst nicht besitzt, muss sie sicherstellen, dass diese anderweitig vorhanden sind. Wenn sie das versäumt, kommt sie ihrer eigenen Verantwortung nicht nach. Auch hier könnte eine einfache Maßnahme auf der Ebene der politischen Exekutive hilfreich sein: ein persönlicher wissenschaftlicher Berater für den Vorsitzenden des Kabinetts beziehungsweise des Senats in Anlehnung an den Chief Scientific Advisor in Großbritannien.
Dieser ist ausdrücklich nicht für Wissenschaftspolitik zuständig, sondern besitzt ein Rederecht zu Vorlagen aller Ressorts und vermittelt und erläutert, ob die mit wissenschaftlichen Gutachten untermauerten Entscheidungsvorlagen aus wissenschaftsmethodischer Sicht tatsächlich plausibel und angemessen sind. Angesichts der Bedeutung von wissenschaftlicher Erkenntnis für politische Entscheidungen und der Verdichtung und Hast heutiger politischer Entscheidungsprozesse bedarf es zwingend wissenschaftsmethodischer Kompetenz auf dieser Ebene, über die Politiker nur selten verfügen.
Die hohe Kunst des Kompromisses
Politik ist Interessenvertretung und Interessenausgleich. Ihre Königsdisziplin ist nicht die brutale Durchsetzung von Einzelinteressen, sondern die hohe Kunst des Kompromisses: einander widersprechende Interessen unter einen Hut zu bringen, ausgewogene Werte-Entscheidungen zu treffen. Diese Kunst ist bedauerlicherweise in Verruf geraten.
Politische Akteure geraten in die Versuchung, ihre Position, die sie in der politischen Auseinandersetzung mit anderen zu Recht vehement vertreten haben, auch ohne Verluste durchsetzen zu wollen. Eine 100-prozentige Umsetzung von Vorhaben gilt als Erfolg und wird kurzatmig beprahlt. Alles andere gilt als Niederlage und wird in unserer schnell erregten Welt entsprechend vernichtend kommentiert.
Der Wert eines guten Kompromisses wird immer mehr verkannt, man zeigt mit dem Finger auf Trump – und „trumpisiert“ doch selbst. Dass man heute, wenn von einem Kompromiss in der Politik die Rede ist, nicht an eine große Leistung denkt, sondern damit eher einen „faulen“ Kompromiss assoziiert, spricht Bände.
Alternativlos? Daran darf sich echte Wissenschaft nicht beteiligen
Wo Politik in dieser Weise schwächelt, wird gern die Wissenschaft bemüht. Hat man nicht die Kraft zum Kompromiss, also das Vermögen, auch die Interessen der anderen Seite zu sehen und anzuerkennen, oder fehlt die Überzeugungskraft der eigenen Argumente, erliegt Politik leicht der Versuchung, sich eine wissenschaftliche Stellungnahme zu suchen, um vermeintliche Sachzwänge zu erzeugen.
Und es gibt Wissenschaftler, die sich wider besseres Wissen in dieser Weise einbinden lassen. Zurückblickend auf über 20 Jahre als Minister kann ich mich aber nicht erinnern, dass einmal ein Ressort von sich aus zwei Gutachten mit dezidiert unterschiedlichen Positionen vorgelegt und dann begründet hätte, warum es mit Blick auf die zu treffende Entscheidung die Argumente einer Stellungnahme stärker gewichtet als die der anderen. Im Gegenteil, das Wort „alternativlos“ ist in der Politik in Mode gekommen. Echte Wissenschaft ist unabhängig und darf sich daran nicht beteiligen.
[Jürgen Zöllner ist Vorstand der Stiftung Charité und war von 2006 bis 2011 Bildungs- und Wissenschaftssenator in Berlin. Sein Artikel basiert auf einem Text in dem Band „Öffentliche Vernunft? Die Wissenschaft in der Demokratie“. Herausgeber: Wilfried Hinsch und Daniel Eggers bei De Gruyter (2019).]
Die soziale, liberale Demokratie ist ohne Zweifel weltweit in unruhigem Wasser. Ursachen gibt es viele. Zu beobachten ist, dass einerseits immer stärker personalisiert wird: Es wird nach starken Persönlichkeiten gerufen, die Charisma und fachliche Kompetenz auf sich vereinen und Menschen, Parteien, Fraktionen führen können. Andererseits ist in der Praxis die gegenläufige Entwicklung unübersehbar. Politiker und Politikerinnen sind immer weniger bereit, persönliche Verantwortung für inhaltliche Positionen zu übernehmen, diese auch dann zu vertreten, wenn es Gegenwind gibt, und um sie zu kämpfen, um die Menschen dafür zu gewinnen, wie das beispielhaft die Akteure der Agenda 2010 vorlebten: das Notwendige, ja auch das Unpopuläre tun für das Land, das bis heute davon profitiert.
Raum gewonnen hat eine Politik des Sich-Versteckens
Raum gewonnen hat eine Politik des Sich-Versteckens, möglichst noch versehen mit dekorativem politisch korrekten Feigenblattwerk. In diesen Zusammenhang gehört auch die Neigung, Entscheidungen, die eigentlich der Politik obliegen, sogenannten Experten, und damit sehr häufig Wissenschaftlern, zu übertragen. Diese sollten der eigenen Eitelkeit nicht erliegen und weder die Arbeit noch die Verantwortung der gewählten Politiker übernehmen. Wissenschaftliche Politikberatung muss sich im Dreieck Politiker-Wissenschaftler-Bürger den eigenen und den gemeinsamen Kernproblemen stellen, um glaubwürdige Wissenschaft zu betreiben und gute Politik für die Bürger und die Zukunft unserer Gesellschaft zu machen.
Es gilt für jede dieser Gruppen, vor der eigenen Tür zu kehren. Es gilt, Rollen und Zuständigkeiten zu klären, sie zu leben und in Zusammenarbeit Verantwortung wahrzunehmen. Unvermeidbar wird für alle drei Gruppen sein, sich Grundwissen anzueignen, zuzuhören und sich der kleinen Mühsal der Differenzierung zu unterziehen. Helfen können wie immer Respekt, Wertschätzung, Unaufgeregtheit, Offenheit und Standvermögen.
Jürgen Zöllner
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